Sprachlupe: Aus den Fingern in den Sinn – so geht’s

Daniel Goldstein /  Was man von Hand schreibt, steht auf handfestem Material – und haftet besser im Hirn. Ein Buch darüber erfreut Schriftfreunde.

Besinnung kann auch Handarbeit sein – wenn sie handschriftlich erzielt wird. Manchen mag die erste Corona-Zeit die Musse beschert haben, wieder einmal Briefe von Hand zu schreiben; viele werden im zusätzlichen Stress höchstens noch Notizen auf Zettel gekritzelt oder gleich ihr ganzes Schriftleben in elektronische Geräte verlagert haben. Indes haben auch Kirchen als Orte der Besinnung zum handwerklichen Schreiben aufgerufen: In fünf Deutschschweizer Städten zum Gedenken an Menschen, die auf der Flucht Richtung Europa ums Leben gekommen waren, und in St. Gallen auch zum Abschreiben der ganzen Bibel.
Viele Leute liessen sich zum Mitmachen bewegen. So wurden vor und in Kirchen im Lauf des Junis rund 40’000 Stoffzettel beschriftet, mit den überlieferten Namen von Fluchtopfern seit 1993, und am Ende der Aktion erhielt der Bundesrat 2500 handgeschriebene Briefe. Den St. Galler «Codex Corona» mit gut 3800 Seiten vollendeten 950 Handschreibfreudige innert zwei Monaten. Im Lutherjahr 2017 hatte sich die norddeutsche Kirchgemeinde Coppengrave ebenfalls die ganze Bibel vorgenommen, sich dann aber mit 50 Mitwirkenden aufs Neue Testament beschränkt; Anfang letztes Jahr war es fertig abgeschrieben.

Zwölf Hirnareale auf Trab

So kommt «Schreibschriften. Eine illustrierte Kulturgeschichte» von Lena Zeise gerade recht (Haupt, Bern). Besinnung erhält als «Be-Sinnung» eine handfeste Bedeutung, wenn man in diesem Buch liest, von Hand schreiben fördere «erwiesenermassen die Erinnerung an und das Verständnis für die geschriebenen Inhalte. Soll heissen, wer flüssig schreibt, weist eine höhere kreative Leistung auf.» Zur Erklärung dient der Hinweis, Handschrift aktiviere das Gehirn in zwölf Arealen und damit ganzheitlicher als das Tippen auf einem Gerät, «insbesondere, wenn dieses Gerät noch Wortergänzungen vornimmt».
Eine Studie von 2014 in den USA ergab: «Die Hälfte der Studentinnen und Studenten, die sich von Hand Notizen machten, erfassten komplizierte Zusammenhänge besser als ihre mittippenden Kommiliton(inn)en.» Nur die Hälfte der Handschriftler (inkl. -⁠innen)? Und die andere Hälfte von ihnen – schlechter? So ist’s offenbar nicht gemeint, vielmehr mit einem betonten «die» am Anfang, also «diejenige Hälfte» aller Beteiligten, die auf Papier schrieb. Da hätte die Aussage mindestens so gut gepflegt werden müssen wie die Geschlechterkorrektheit. Nebenbei: Mit der nimmt es beim Notizenmachen, egal mit welcher Methode, wohl kaum jemand so peinlich genau.

Für und über die Schule

Im allgemeinen aber ist das Buch in gut verständlicher, angenehm zu lesender Sprache gehalten, klug gegliedert und mit Erklärungen für Fachausdrücke versehen. Es eignet sich auch als Lehrmittel für höhere Klassen, wiewohl es nicht mit diesem Anspruch auftritt. Der Autorin ist es vielmehr ein Anliegen, dass in der Grundschule dem Schreibenlernen genug Zeit eingeräumt wird. Das ist ihr wichtiger als der «Glaubenskrieg» um die richtige Schreibvorlage, ob zuerst mit getrennten Buchstaben oder gleich mit zusammenhängenden. Am Ende, nach genügender Zeit und Intensität, um die anspruchsvolle Motorik einzuüben, soll jedoch eine flüssige Handschrift stehen: «Eine effiziente Schreibschrift ist Rhythmus pur und schreibt sich fast von allein.»
Den Anspruch, eine Kulturgeschichte zu bieten, erfüllt das Buch ideenreich. Es bettet die Schreibschrift in eine geraffte Gesamtschau der Schrift an sich ein, auch mit den Druckschriften. Zahlreiche Schriftmuster illustrieren die Herausbildung der europäischen Schriftarten; gern erführe man auch, wie die zum Druck des Buchs verwendeten Schriften heissen. Hervorgegangen ist das Werk aus dem Design-Studium der Autorin an der Fachhochschule Münster (D). Anschaulich und schön bebildert schildert es die zum Schreiben verwendeten Techniken und Materialien, aber auch die zunehmende Individualisierung der Handschriften im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 17.10.2020 um 11:38 Uhr
    Permalink

    ‹Eine Studie von 2014 in den USA ergab: «Die Hälfte der Studentinnen und Studenten…›
    Wie übersetzt man ‹Studentinnen und Studenten› in amerikanisches Englisch?

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...