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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Nicht(s) weniger als lebensfrohe Dudenbude

Daniel Goldstein /  Ändert das eingeklammerte s im Titel etwas an der Aussage? Das ist ein Fall für den exquisiten Stammtisch von «Sprachlupe»-Lesern.

Kaum war das Szenelokal Dudenbude nach der seuchenbedingten Schliessung wieder offen, traf sich der Sprachstammtisch, wie wenn nichts weniger als ein Unterbruch gewesen wäre. Der Älteste kramte wie gewohnt ein zerknittertes Zeitungsblatt aus der Westentasche. Was auf die Runde zukam, liess der Titel sogleich erahnen: «Die Gastronomie steht für nichts weniger als unsere Lebensfreude.» Ein Stimmengewirr würgte den drohenden Vortrag ab. Dass ihn alle schon kannten, lag auf der Hand: Hier müsse «nicht weniger» ohne s stehen, denn der gedruckte Titel mit s bedeute, es gebe nichts, wofür die Gastronomie weniger stünde als für unsere Lebensfreude. Gemeint war das Gegenteil: Sie stehe für nichts Geringeres.

Der Älteste liess es sich nicht nehmen, mit Gottfried Keller nachzudoppeln: Der habe in der Schule schlecht zeichnen können und sich später daran erinnert: «Dort galt ich für nichts weniger als einen talentvollen Zeichner.» Später aber habe er so tüchtig Fahnenstangen angemalt, dass der Händler ihm «schon am dritten Abend nicht weniger als zwei Kronenthaler als Tagelohn auszahlen musste».

Klammern für Klarheit

Die Jüngste in der Runde stichelte: «Tu doch nicht so, als kenntest du den ‹Grünen Heinrich› auswendig! Das mit dem Zeichner stand schon einmal in einer ‹Sprachlupe›. Die zitierte obendrein den Duden-Band 9 (Zweifelsfälle), laut dem man ‹nichts weniger als› anstelle von ‹nichts Geringeres als› brauchen kann, wenn kein Missverständnis droht. Beim Zeitungstitel ist doch klar, dass Beizen Lebensfreude ausschenken.»

Da mischte sich Konrad D. ein: Die «Sprachlupe» habe schon viel früher dieses «nichts weniger als» zu retten versucht, nicht nur mit dem Duden 9, sondern sogar mit der Logik. Ob der folgende Satz eine Würdigung oder eine Verunglimpfung bedeute, habe der Autor gefragt: «Einstein war nichts weniger als ein Genie.» Es komme auf die imaginären Klammern an: «Lesen wir ‹[nichts weniger] als ein Genie›, so war er am allerwenigsten ein Genie. Gemeint ist aber wohl ‹nichts [weniger als ein Genie]›, also nichts unterhalb der Stufe Genie.» Alle horchten auf, als Konrad fortfuhr: «Goldsteins Beispiel taugt jedoch nicht zur Rettung des Zeitungstitels. Ein Genie ist immer hochintelligent, aber die Lebensfreude kann auch im Keller sein. Und was nützt es dann der Gastronomie, wenn man sie mit ‹nichts [weniger als unsere Lebensfreude]› einstuft? Damit ist nur gesagt, sie liege nicht unterhalb des Kellers – doch vielleicht ist sie just dort oder auf der untersten Stufe der Kellertreppe. ‹Nichts weniger› dient – egal, wie man sich die Klammern denkt – dem Niveauvergleich. ‹Nicht weniger› betont dagegen eine herausragende Stellung.»

Absolution für Fehler

Den Ältesten freute es, dass dem Zeitungstitel nicht mit der Logik zu helfen war, sondern bloss mit dem Duden 9: «Ja klar, die lassen doch jeden Fehler gelten, wenn er nur oft genug gemacht wird. Aber hoffentlich nicht diesen: Da steht, das Gastgewerbe beschäftige nur vier Prozent aller Erwerbstätigen, ‹und trotzdem scheint unser Land zurzeit eine Frage rund um die Pandemie mehr zu umtreiben als alle anderen›. Da muss es doch ‹umzutreiben› heissen!» Das bestritt nun niemand, und alle wussten weshalb: «Umtreiben» wird auf der ersten Silbe betont; ein auf der zweiten betontes «umtreiben» müsste erst noch geprägt werden, etwa so, wie es sich die Jüngste einfallen liess: «Im Wirbelwind umtreiben die dürren Blätter den kahlen Baum.»

Kommen beide Betonungen vor, so ändern sich Bedeutung und Beugung: «Fahr den Pfosten nicht um, umfahre ihn! Denn es ist besser, ihn zu umfahren, als ihn umzufahren. So hast du ihn umfahren statt umgefahren.» Das wusste die Runde, doch schon bekümmerte sie ein neues «Sprachlupe»-Zitat, eilends mit dem Handy gefunden: «Der Unterschied bei Betonung und Partizip zählt auch, wenn die Polizei den Täter seines Verbrechens überführt und dann ins Gefängnis übergeführt hat. Nur lässt der Duden leider im zweiten Fall das endbetonte ‹überführt› seit geraumer Zeit ebenfalls gelten.» Das treibt den Stammtisch um.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 6.03.2021 um 16:33 Uhr
    Permalink

    Zwei Geister kämpfen nun heftig in mir:
    Sprache «hüten» ist gut, selbst-verständlich.

    Sprache in ihrem Ur-Sinn, nämlich als Mittel zur Verständigung best-möglich ein-zu-setzen / zu optimieren halte ich für immens wichtiger.

    ———————
    Eine Lese/Sprach-Probe dazu:
    Seit ich als AuslandsDeutscher begann, besonders meine SchreibWeise SO zu verändern, dass meine AuslandsMitBürger möglichst gut und schnell nach-vollziehen können, WAS ich denke und meine, werde ich DORT, im AusLand, viel schneller und besser verstanden.

    Da WIR ALLE «immer inter-nationaler» werden, wäre es -aus meiner Sicht- sehr begrüssens-wert, wenn der Aspekt besserer BasisVerständigung mit FremdSprachlern
    auch ernst-haft zum Thema unserer SprachHüter würde !
    —————————–

    Am Rande möchte ich bemerken (dürfen ?), weil wichtiges Allgemein-Wissen:

    Ein guter Ingenieur, Architekt, Handwerker, Landwirt … … ist auch an seiner privat (zu) grossen Geradlinigkeit erkennbar. In der Regel gekoppelt mit etwas Un-Flexibilität. Weil er nur dann beruflich gut sein kann, wenn er sich -ohne Wenn und Aber- an die «absoluten» Naturgesetze hält – und Berufliches auf seine «private» Wesensart abfärbt.

    Juristen, Kaufleute, Politiker, Journalisten, … … haben beruflich -und damit auch privat- etwas andere Prioritäten !

    Freundliche Grüsse – und alles Gute !
    Wolfgang Gerlach, Ingenieur

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