Kommentar

kontertext: Agonie des Kulturjournalismus (2): «Schreisse»

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Der Hundekot-Skandal an der Staatsoper Hannover stellt die Frage nach der Agonie des Kulturjournalismus noch in anderer Hinsicht.

Nachdem wir vor zwei Wochen an dieser Stelle von der Agonie des Kulturjournalismus berichtet haben, gilt es jetzt aus aktuellem Anlass das Augenmerk auf ein kurzes Aufbäumen desselben zu lenken. Der Modus dieses Aufbäumens ist der Skandal, der Treibstoff die mediale Aufmerksamkeit, das gute alte Feuilleton (der FAZ) reitet den Wagen, ein ausser Kontrolle geratener Kulturtäter verfängt sich darin und wird entlassen. Nun: Skandale sind nicht in erster Linie Sache der Polizei. Sie sind degoutant, amüsant und exagerant – und sie sind meist auch lehrreich.

Merdre!

Eine Erinnerung: Als sich 1896 im Théâtre de l’Oeuvre in Paris der Vorhang öffnete und ein schrecklicher Dickwanst das erste Wort sagte, war der Tumult im Saal so gross, dass das Stück „Ubu Roi“ von Alfred Jarry für immer in die Geschichte der französischen Theaterskandale einging. Dieses erste Wort lautete: «Merdre!» (in der deutschen Übersetzung: «Schreisse»). Die skatologische Ansage war der Auftakt zu einem Stück, das der Majestät des Absurden, Grotesken und Vulgären huldigte. Der grobe Dickwanst König Ubu mit seiner lächerlichen Gier nach Blutwurst, seiner fäkalen Kindersprache und seinem Sadismus gegen seine Frau, die Mère Ubu, konnte weder als komisch noch als tragisch rezipiert werden. Das Publikum liess die Vorstellung im Tumult untergehen, die Kritik verurteilte es als Exzess der Dummheit und Grobschlächtigkeit.

Da ich vor vielen Jahren Alfred Jarrys Theatercoup als Ausgangspunkt meiner Dissertation wählte, musste ich aufhorchen beim «Hundekot-Skandal» von Hannover. Denn wieder geht es um eine Überschreitung, die mit Exkrementen vollzogen wurde, wieder gab es Handgreiflichkeiten neben der Bühne, wieder geht es um eine Hassliebe zwischen Theater, Publikum und Kritik, die zum Bruch führt durch – Scheisse. Oder eben Schreisse. Der kleine Unterschied macht es aus: Alfred Jarrys Theater war eines der Avantgarde, das vor einem saturierten Publikum wagte, was nur das Theater kann: Den Angriff aufs Publikum. Denn nirgends sind sich Publikum und KünstlerInnen gegenseitig so ausgeliefert wie auf dem Theater. Jarry wollte mit dem Monster eines Ubu Roi die symbolische Übereinkunft von Theater und Publikum künden, wonach das Theater unterhalten oder belehren oder erschrecken kann, solange es das Publikum in Ruhe lässt. So forderte er etwa in einer Schrift das Recht des Theaters, alle aus dem Saal zu werfen, die nichts vom Theater verstehen. Natürlich ohne faktische Konsequenzen. Aber die absurde Forderung verweist auf eine Spannung zwischen Theater, Publikum und Kritik, die immer schon da war und die auch im kleinen Schweizer Skandal um die Intendanz des Zürcher Schauspielhauses wiederkehrt: Soll sich das Publikum der Bühne anpassen oder umgekehrt? Und welche Rolle spielt dabei die Kritik noch?

Macht der Kritik?

Dabei handelt sich eigentlich um mehr als Kritik, es handelt sich, wie Paul Jandl in der NZZ und Daniele Muscionico in der BZ herausstellen, um Beziehungsformen zwischen Künstler und Kritiker, die sich einstellen, wenn dieselben Kritiker*innen immer über dieselben Künstler*innen schreiben. Für die Kritiker*innen erscheint das weniger als Problem, im Gegenteil: Sie werden so zu Spezialist*innen. Sie sind also das Gegenteil der in unserem letzten Kontertext beschriebenen Allround-Kulturjournalist*Innen, die nach den Ansagen von PR-Abteilungen schreiben. Vielleicht ist auch diese Spezies der Grosskritiker*In am Aussterben. Doch kommt mit dem Hannoveranschen Skandal nochmals in den Blick, wieviel Wirkungsmacht dem Kulturjournalismus vom inneren Kreis der Kulturproduzent*Innen zuerkannt wird.

Vielleicht zurecht. Denn während das breite Publikum sich kaum um Kritiken kümmert, gibt es ein Fach- und Produzentenpublikum, das jede Rezension zur Kenntnis nimmt, weil sie einen Diskurs abbildet, der zum kulturellen Schaffen gehört. Theaterkritik, Literatur- und Kunstkritik haben oder hätten eine gesellschaftliche Verantwortung für die erhellende Einordnung kultureller Produktion. Und Kritiker*Innen besitzen – im Jargon des marxistischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu – ein kulturelles und symbolisches Kapital, sie verfügen über Kenntnisse im Diskurs und über Beziehungen, sie sitzen oft in Jurys, fungieren als Multiplikator*Innen und verteilen Gelder. Durch die Konzentration der Medien geschieht es nicht selten, dass eine Kritikerinstanz eine Sparte durch einen ganzen Medienverbund dominiert. Und da Kritiker*Innen sich auch durch ihre Subjektivität auszeichnen, kann dies zu Schieflagen führen in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn das Monologische und hermetisch Abgeschirmte dieser Art von Chefkritik neigt zum Apodiktischen und taugt eher als Urteil denn als Kritik. Ertragen lässt sich schlechte Kritik allenfalls, wenn es entweder Mittel der Gegenwehr oder eine gewisse Fairness in der Kritik gibt.

Mittel der Gegenwehr

Die Entschuldigung von Mario Goecke war nur halbherzig. So richtig leid getan hat ihm die Attacke offenbar nicht. Er verweist lieber nochmals auf die Grausamkeit der Kritik zurück, die ihn in Gestalt von Wiebke Hüster seit Jahren verfolge und seine Kunst «beschmutze». Hätte er anders protestieren können? In wenigen Fällen kam es gut heraus, wenn kritisierte Künstler zu Gegendarstellungen antreten. Nicht, weil sie keine Argumente hätten, sondern weil die Rollenverteilung in der Kritik nicht gleichberechtigt ist. Das Gefühl von Künstler*innen, der Öffentlichkeit ausgeliefert zu sein und still halten zu müssen, wenn das Urteil fällt, ist also nicht nur Ausdruck von Narzissmus und Wehleidigkeit, sondern ein Effekt dieser asymmetrischen Kommunikation. Kritik, die ihre eigene Denkbewegung nicht auf sich selbst zurückbezieht, ist, so Michel Foucault in seiner kleinen Schrift «Was ist Kritik?», ein Instrument der Machtausübung. Wenn Daniele Muscionico ironisch aufdeckt, dass der Kritikerinnenberuf eh ein Scheissgeschäft sei, das bald vor die Hunde gehe, dann vergisst sie dieses Machtgefälle.

Hingegen sagt Theaterkritiker Andreas Kläeui richtig, dass es durchaus auf den Ton der Kritik ankomme. Das ist wohl ein entscheidender Hinweis: Wer den Griffel (stylus!) zu sehr spitzt, wer nicht unterscheiden kann zwischen Künstler und Mensch, zwischen der eigenen Langweile und jener des Stücks, wer auf die Person statt auf das Werk zielt, überschreitet unsichtbare Grenzen, die sehr schmerzhaft sind. Und dort, wo Kunst- und Literaturkritik mit der Kunst wetteifern punkto Originalität, kommt es bisweilen auch zu verbalen Missgriffen. Wiebke Hüsters Kritik enthielt solche Missgriffe, wenn sie raunt, dass man von Göckes Choreographie irre oder vor Langeweile umgebracht werde.

Wo sich hingegen Kritik argumentativ nachvollziehbar, stilistisch präzise und in reflexiver Distanz zum Künstler artikuliert, kommt es kaum zu gewalttätigen Racheakten, sondern einfach zu persönlichen Repliken.

Um nochmals auf Jarry und die Skandale der Avantgarde zu kommen: «Schreisse» ist eben nicht Scheisse. Das eingefügte r markiert die ironische Distanz zum Gegenstand, auf die es ankommt, damit Kunst und Allzumenschliches nicht übereinander herfallen. Von Jarry wird auch überliefert, dass er durch das Schaufenster hindurch ins Café sprang, um, wie er sagte, das Eis zu brechen («briser le verre»). Von Blut, Scherben und Polizei ist nichts überliefert. Die Überlieferung hat diese Elemente des Realen ausgebleicht, geblieben ist eine Anekdote. In Hannover aber ist das Missverständnis von Marco Goecke nun offen- und aktenkundig und er wird wohl oder übel begreifen müssen, dass man die fäkalen Hassphrasen nicht bis zu dem Punkt treiben darf, wo sie in Realität umschlagen. Weder auf noch neben der Bühne.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Publizistin und Mitglied im Initiativkomitee von Basel 2030. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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