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8.9.2020: Was wir nicht ahnten - letztes Treffen, Schnebelhorn © fxs/zvg

in memoriam hpg: Wenn das Leben nur noch Erinnerung ist

Jürgmeier /  Wortwechsel zwischen einem, der sich immer als Journalist sah, und einem, der sich auch als Schriftsteller entwarf. Eine Montage.

Red. Mit diesem Beitrag von Jürgmeier schliessen wir die Serie «in memoriam hpg» ab. Alle Beiträge sind im hier verlinkten Dossier vereint.

* * * *

Lieber Hanspeter

Ich vermute, du vertrautest, wie ich, nur auf das Leben vor dem Tod. Hofftest nicht auf ein Wiedersehen mit irgendjemandem. In irgendwelchen anderen Welten. Nach jenem Moment, der, für uns als einzelne, alles für immer verändert. Beendet. So dass wir nicht einmal verstohlen mithören können, was bei unserer eigenen Beerdigung so alles gesagt wird. Und so haben wir beide uns wohl definitiv am 8. September 2020 zum letzten Mal gesehen. Wie meine Outlook-Agenda festhält. Über deinen Tod hinaus. Du bist an jenem Spätsommertag ausnahmsweise vom Velo gestiegen und hast die Turnschuhe montiert, um mit haste [1] und mir zum Schnebelhorn zu wandern. Nachdem wir in einem längeren Mailwechsel Zeit & Treffpunkt exakt fixiert hatten – ihr beide seid ja nie in diesen smarten Phonezug gestiegen –, zogst du vor einer Bäckerei in Steg pünktlich deine Veloschuhe aus. Natürlich warst du, im Gegensatz zu mir, nicht mit dem Zug ins Tösstal gefahren. Und das nicht wegen Corona. Am Ende des Tages fuhrst du in Steg – wo schon die Schweizerfahne für das Ja zur jüngsten «Begrenzungsinitiative» der SVP an einem Felsen hing – noch für einen letzten Gruss, was wir beide damals nicht ahnten, an dem auf den Zug Richtung Rüti Wartenden vorbei. Jetzt bleiben von dir & deinem Leben nur noch die nicht immer ganz zuverlässigen Erinnerungen derer, die (noch) leben und sich immer mal wieder freuten, dass es dich gab. Und die (bei dir einigermassen zahlreichen) öffentlichen & privaten Spuren in SchwarzaufWeiss. Du kannst mir nicht mehr verzeihen, dass ich im Folgenden auch aus persönlichen Mails von dir zitiere.

Mittlere Lebenserwartung für 65-Jährige über 80

Ab & zu erhielt ich von dir Feedbacks zu meinen Texten. Ungefragt. Manchmal belehrend. Meist wertschätzend. Häufig weiterführend. So dass sich der Schreibende (fast) immer über das Echo freute. Zum Beispiel bei meinem 33. Fällander Tagebuch, das am 11. Mai 2020 im Infosperber zu lesen war. Unter dem Titel «Der Kampf gegen das Altern gefährdet ‹die Alten›» schrieb ich:

«…Auf dem Rückweg vom Joggen spiegelt sich im Fenster eines Ladens ein alter Mann, der nach Hause rennt. In den Todesanzeigen lese ich, jemand sei mit achtzig gestorben. ‹Ein schönes Alter.› Denke ich… Und zucke zusammen. Nur noch zwölf Jahre bis Ultimo. Zwölf Jahre. Um alle Ideen noch auszuschreiben. Die Bücher in den Gestellen und die noch nicht geschriebenen in den Köpfen der Autor*innen zu lesen… Noch zwölf Jahre. Um S. die Hand zu halten. Ihren Mund zu küssen. Mit ihr über den Greifensee zu paddeln. Über gleiche Welten zu reden. Und über Kinder zu streiten. Vorausgesetzt die ZumutungenSchmerzenEinschränkungen dieser letzten Jahre setzen mir nicht allzu hart zu. ‹Ich habe keine Angst vor dem Alter.› Lese ich. ‹Alt werden ist nichts für Feiglinge.› Die Durchhalteparolen der grauen Soldat*innen beruhigen mich nicht.» 

Jürgmeier ist Schriftsteller und war von 2014 bis 2018 Mitglied der Redaktionsleitung Infosperber. Er verfasste diesen Beitrag im Rahmen der Serie «in memoriam hpg» (siehe Box).

Ich war, an diesem Maitag, erst bei meinem Mittagsmüesli, da reagiertest du schon:

«…Ich las soeben Deinen neusten Tagebucheintrag und fühlte mich besonders berührt. Genau, die gleichen Erfahrungen/Gedanken mache ich (mir) in jenen Zeiten ebenfalls, in denen ich nicht gerade irgendetwas nachrenne. Dabei stehe ich dem ‹Sterben› noch drei Jahre näher als Du, aber als Statistiker kompensiere ich das, indem ich mit der mittleren Lebenserwartung für 65-Jährige rechne und dabei über 80 Jahre komme. Oft denke ich, bevor ich etwas tue, ob ich ‹angesichts meiner begrenzten Lebensdauer› die Zeit dafür aufwenden soll – und wende dann zuweilen gleich viel (Abwägungs-)Zeit auf, die ich gebraucht hätte, um dieses oder jenes zu tun. Das Eigene – sei es das Alter, die Gesundheit, eine momentane Empörung – beschäftigt mich zurzeit weit mehr als die Gefahr irgend eines Virus. Herzlich grüsst Hanspeter.»

Am Ende stand die Statistik nicht auf deiner Seite. Ganz & gar nicht.

Wollt ihr das totale Wachstum?

Wir hatten schon lange voneinander gewusst, einander bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen und, vor allem, gelesen, sowie teilweise in denselben Zeitungen geschrieben. Zum Beispiel AZ, Volksrecht, P.S. und Infosperber. Dass wir schon «vor Urzeiten», bei der Leserzeitung aufeinandergestossen sein müssen, habe ich erst im Beitrag von Billo Heinzpeter Studer für das Dossier «in memoriam hpg» gelesen. Daran erinnerte ich mich seltsamerweise nicht mehr. Mit zunehmendem Alter sassen wir häufiger auch privat an gleichen Tischen. Nur einmal, glaube ich, trafen wir uns zu einem Gespräch im öffentlichen Rahmen. In der von mir während Jahren moderierten StreitBar im Zentrum Karl der Grosse. 

Anlässlich der Publikation des Buchs «Das Geschwätz vom Wachstum» von dir und Urs P. Gasche lud ich dich unter dem Titel «Wollt ihr das totale Wachstum?» in Karls Forum für lautes Denken ein. «…Von rechts bis links glauben sie (fast) alle: Ohne Wachstum geht gar nichts. Wenn konsumiert und produziert wird, was das Zeug hält, verschwindet die Arbeitslosigkeit, die Löhne steigen, sind Gesundheitssystem, Sozialstaat und Umweltschutz gesichert. Alles Geschwätz schreiben … Urs P. Gasche und Hanspeter Guggenbühl… ‹Die Wachstumsprediger können schneller reden als rechnen.›…» Schrieb ich im Pressetext zu diesem Sonntagabend, dem 24. Oktober 2004, und wollte von dir u.a. wissen: «Schluss mit der Allerweltsformel Wachstum? Und was ist die Alternative? Nullwachstum? Wollen Sie mit Ihrer Wachstumskritik die Menschen in die Arbeitslosigkeit treiben? Wie sollen so die materiellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden? Heisst Begrenzung, Bescheidung nicht zwangsläufig Verschärfung der Verteilungsfrage? Und wie stellen Sie sich eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum vor?» 

Zwei Tage nach dem Gespräch bedanktest du dich schriftlich für «das – obendrein noch bezahlte – Forum, das Du unserem Buch und mir botest. Die Leute im Publikum, die mich danach ansprachen, reagierten positiv. Das Gespräch sei aufschluss-, lehrreich, lebhaft, spannend gewesen… Mein eigener Eindruck ist weniger eindeutig: Ich fühlte mich stark gefordert. Es ist anstrengend, pausenlos – ohne Pausen zum Denken – antworten zu müssen, obwohl mir viele Antworten geläufig sind. Ich nehme an, dass man mir die Anstrengung angesehen hat. Dabei sollten wir doch alle immer schön locker bleiben…

Gerade weil ich auf das Gespräch, die Gegenwart, sehr stark konzentriert und fixiert war, vermag ich selbst das Gespräch nicht mehr präzis zu memorieren. Jedenfalls hatte und habe ich den Eindruck, dass ich (oder das Gespräch als Ganzes?) etwa zwischen der 40. und 55. Minute zuweilen hilflos wirkte, vor allem dort, wo Du die Lösung der Verteilungsfrage zur Diskussion stelltest und – zu Recht – hartnäckig nachfragtest… Habe ich anfänglich zu wenig deutlich gesagt, dass ich selbstverständlich für eine Umverteilung des bestehenden Kuchens (Arbeit, Ressourcen, Einkommen etc.) bin? Jedenfalls – und hier ist der Eindruck der Hilflosigkeit richtig – kann ich tatsächlich kein ökonomisches (und auch kein politisches) Rezept anbieten, wie man das macht (ein existenzsicherndes Grundeinkommen für alle ist nur ein sehr pauschales Rezept ebenso wie die ökologische Steuerreform. Und ‹Sozialismus› ist ein weites Feld). Ebenso hilflos fühle ich mich gegenüber der Frage, wie man solche Dinge politisch durchsetzt…» 

Da ich, im Gegensatz zu dir, ein Telefonmuffel war & bin, bekamst du die erbetene Antwort («per Telefon oder Mail») auf digitalem Weg:

«…Meine Fragen waren ‹gemein›, es ist weder dir noch irgendjemand anderem möglich, in Kürze ‹Lösungen› zu präsentieren, die Verteilungsfrage zu beantworten beziehungsweise die Strategie zu ihrer Durchsetzung zu formulieren. Andrerseits war es für mich so, dass ich – vermutlich zu Recht – davon ausgegangen bin, dass du im Karl der Grosse eher ein ‹Heimspiel› hast, und deshalb habe ich meine Rolle … als ‹Spielverderber› gesehen, schliesslich handelt es sich um ein Streitgespräch, und im Übrigen bin ich der Meinung, dass ihr als Autoren eines Buches, in dem auch ganz kräftig ausgeteilt wird…, euch auch kritische Fragen stellen lassen müsst. Dass ich selbst ein Wachstumskritiker bin, ist dir ja bekannt, und ich bin sehr froh, dass ihr dieses Buch geschrieben und einen Kontrapunkt zu dieser totalitären Wachstumsformel, die längst religiös-fundamentalistische Formen angenommen hat, gesetzt habt…

Andrerseits bin ich der Meinung, dass Begrenzung nur um den Preis sehr einschneidender Umverteilungsschritte zu haben ist. Und da bin ich sehr unsicher, wer von uns dazu bereit ist und wer ganz froh ist, wenn die eigene Vision der Begrenzung nicht Realität wird. In diesem Punkt bin ich tatsächlich der Meinung, dass ihr euch ein wenig ‹gedrückt› habt, zu formulieren, was die von euch vorgeschlagene Begrenzung für Folgen hat beziehungsweise wie verhindert werden kann, dass eine Begrenzung wirtschaftlicher Aktivitäten sich (einmal mehr) gegen die Habenichtse wendet, inklusive Verschärfung der Arbeitslosigkeit. Da müsste die von euch formulierte Wachstumskritik weiter gedacht und politisch konkretisiert werden (auch unabhängig von der Durchsetzbarkeit in unseren politischen Verhältnissen)…»

In einer kurzen Reaktion wolltest du klargestellt wissen: «…Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich war froh um Deine kritischen Fragen – sie waren notwendig, um die Grenzen unseres Buches aufzuzeigen…» Und so war denn der Streit mit dir – den du durchaus suchtest – nie ein trennender. Nicht einmal bei der Ecopop-Initiative, Jahre später.

Ecopop oder Verwirrungen und Verletzungen unter Gleichgesinnten

Du hast diese Initiative, zumindest als Sympathisant, unterstützt, welche die Zuwanderung in die Schweiz drastisch beschränken und mindestens 10 Prozent der Bundesausgaben für Entwicklungszusammenarbeit für «freiwillige Familienplanung» eingesetzt sehen wollte. Das irritierte (bisher) Gleichgesinnte, führte teilweise sogar zu Zerwürfnissen oder (vorübergehenden) Beziehungsabbrüchen. Offensichtlich trug dir dein Hang zur kritischen Provokation, auch unter deinesgleichen, Zuschreibungen ein, die dich kränkten. In einem frühen Text zu der im Frühling 2011 lancierten Initiative schriebst du am 9. August 2012, und es klang etwas bitter: «Ich bin entlarvt. Ich bin ein Nationalist.» Unter dem Titel «Nationalismus oder: Wenn die Ex des Freundes…» wehrtest du dich gegen Sippenhaftungen und den Versuch, «die Ecopop ins braune Lager zu rücken»:

«…In ihren Statuten hält die Ecopop zwar ausdrücklich fest: ‹Ecopop distanziert sich klar von fremdenfeindlichen und rassistischen Ansichten.› Trotzdem erscheinen immer wieder Berichte oder Kommentare, in denen Medienschaffende die Ecopop in die braune Ecke stellen, ohne aber Belege für diese Rufschädigung zu liefern. Doch am Schluss seines Kommentars [2] erbringt Res Strehle nun den ultimativen Beweis: Der Umweltschützer Franz Weber unterstützt neu die Ecopop-Initiative. Der gleiche Franz Weber hat sich 1976 zusammen mit Brigitte Bardot gegen die Abschlachtung von Robbenbabys engagiert. Und heute unterstützt Brigitte Bardot die französische Rechtspartei Front National. Also ist die Ecopop respektive ihre Initiative ebenfalls nationalistisch, getreu dem Motto: ‹Wenn die Ex meines neuen Freundes in alten Tagen nationalistisch wird, bin ich auch ein Nationalist.› …»

Das mit dem Nationalist wäre mir bei dir nie in den Sinn gekommen, und über diese Initiative haben wir beide nur indirekt & öffentlich gestritten. Im März 2014 notierte ich: «Eine grüne Initiative provoziert Nachgedanken, die nicht ohne Unterstellungen auskommen.» Und schrieb unter dem Titel «Wenn Menschen als Belastung der Natur erscheinen»:

«…Langsam wird es eng, und wenn es eng wird, machen sich viele Gedanken, einige kommen sogar auf Ideen, finden, in grosser Verzweiflung, einfache Lösungen und lancieren Initiativen zur Bekämpfung der Ursache aller Ursachen – der Menschen und ihrer Zahl. ‹Es gibt einfach zu viele Menschen.› Mit diesem (leichtfertig dahingesagten) Satz stellen wir unsere Existenz gegenseitig in Frage. Wer von uns ist zu viel? Menschen sind keine Mangelware. Im Gegenteil. Das heisst – eine Ware sind sie schon, aber eine, die es im Überfluss gibt. Bevölkerungsexplosion. Überfremdung. Überalterung. Ausländerflut. Flüchtlingsstrom. Asylantenschwemme. Jede und jeder ist zu viel. Der Menschenberg muss abgebaut werden…

Die Frage welche sich die EcopopulistInnen gefallen lassen müssen, ist, weshalb sie – wenn nationalistische Überlegungen tatsächlich keine Rolle spielen – ihr Ziel, eine nachhaltige Gesellschaft, ausschliesslich über Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz sowie verbesserte Geburtenverhütung in fernen und armen Ländern erreichen wollen. Warum verlangen sie nicht die Senkung jener Bevölkerungen und Bevölkerungsteile, die infolge ihrer Lebensweise die Umwelt am stärksten belasten? Oder, noch besser, die radikale Limitierung des Bruttosozialprodukts (pro Person)? Die Beschränkung der Mobilität…? Die Begrenzung des Energieverbrauchs…? Weshalb setzen sie sich, zusammengefasst, nicht für eine eindeutig bezifferte Reduktion des materiellen Lebensstandards und damit der (ökonomischen) Standort-Attraktivität der Schweiz ein, wodurch automatisch die Einwanderung sänke und die Auswanderung zunähme? Weil das an den globalen ökologischen Bedrohungen nichts änderte?…»

Als hätten wir uns abgesprochen setztest du am 25. November 2014, im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung über die Ecopop-Initiative am 30. November, unter deinen «Versuch einer Entwirrung» den Lead: «Wer die Plünderung der Natur stoppen will, muss (auch) die Zunahme der Bevölkerung begrenzen. Die Frage ist, wie man das tun soll.» Und fuhrst dann fort:

«Die Nutzung der Natur wird von drei Faktoren bestimmt. Erstens vom Konsum pro Person (gemessen in Geld). Zweitens vom Naturverbrauch (Rohstoffe, Land etc.) pro Konsumeinheit. Drittens von der Zahl der Personen. Diese Formel wird in der Regel nicht bestritten. Zu berücksichtigen ist lediglich, dass die drei Faktoren je nach Nation und Gesellschaftsschicht unterschiedlich ins Gewicht fallen. Die Umweltpolitik trachtet primär danach, den Naturverbrauch pro Konsumeinheit zu reduzieren, zum Beispiel den Benzinbedarf eines Autos. Damit kann sie den unbequemen Konflikt mit der stärkeren Wirtschaftspolitik vermeiden… Doch gegenüber dieser Effizienzsteigerung überwiegt meist die Zunahme des Konsums pro Kopf sowie der Bevölkerung. Darum wächst mit dem Wachstum der Wirtschaft in der Regel auch die Nachfrage nach Energie, Rohstoffen, Verkehr, Wohn- und Geschäftsraum, und es wird mehr Abfall produziert. Die Menschheit verbraucht schon heute – global und im Inland – weit mehr Naturgüter, als die Natur regenerieren kann; sie zehrt also vom Kapital, statt sich mit dem Zins zu begnügen. 

Aus dieser Erfahrung heraus plädieren einige grüne Politikerinnen und Umweltorganisationen zusätzlich für eine Einschränkung des Konsums pro Kopf, neudeutsch: für Suffizienz. Und Gewerkschafter sowie Entwicklungsorganisationen engagieren sich für eine gerechtere Verteilung der Natur- und Wirtschaftsgüter. Die Zunahme der Personenzahl hingegen wird von den rotgrünen Parteien, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen weitgehend tabuisiert. Aus diesem Grund bellen Grüne und Linke wie getroffene Hunde, wenn eine Organisation wie die Ecopop eine Initiative lanciert, welche die Zunahme der Bevölkerung im In- und Ausland beschränken will… 

Leider begrenzt die Ecopop-Initiative nicht die Zunahme der Bevölkerung insgesamt, sondern allein den Zuwanderungs-Saldo respektive die ‹Nettozuwanderung›. Diese Bestimmung ist eindeutig diskriminierend. Denn sie benachteiligt die Menschen, die in die Schweiz einwandern wollen, gegenüber denjenigen, die schon da sind oder weiterhin im Inland geboren werden… Wer diese Diskriminierung höher gewichtet als den Wunsch, die Bevölkerung im übernutzten Naturraum Schweiz zu begrenzen, wird die Initiative der Ecopop mit gutem Grund ablehnen. Falsch ist hingegen der Vorwurf, die Ecopop-Initiative sei rassistisch. Denn sie macht keinen Unterschied, welcher Nationalität und Rasse die Einwandernden angehören…

Als politisch Gespaltener, als Naturschützer und Gegner jeder Diskriminierung sitze ich darum unerwünscht im selben Boot wie fremdenfeindliche Gruppen und SVP-Leute, die bei anderer Gelegenheit meist gegen den Schutz der Natur stimmen. Damit habe ich das gleiche Problem wie Linke und Umweltschützerinnen, die Schulter an Schulter mit der Economiesuisse, der FDP und Christoph Blocher gegen die Ecopop-Initiative kämpfen.»

Die nachträgliche Montage unterschlägt, dass mein letzter Beitrag zu dieser Abstimmung – «Bedroht von Ökonomisierung & Ökologisierung» – schon einen Tag vor deinem erschienen war. Geschrieben hatte ich ihn allerdings bereits früher, und wir kannten beide den Text des anderen nicht. Wir hatten in der Redaktionsleitung von Infosperber für dieses hochsensible Thema eine einigermassen strikte Regel für das abwechslungsweise Publizieren von Pro- und Contra-Ecopop-Beiträgen ausgehandelt. Um unsere gegenseitige Toleranz nicht allzu sehr zu strapazieren. Denn, so stand es im Lead zu meinem Text: «Ecopop gefährdet alte Freundschaften & provoziert unheimliche Verbindungen…» Bei meinem Offenen Brief an eine oder einen Andrea dachte ich tatsächlich auch an dich:

«…Wir werden beide nicht feiern. An diesem 30. November 2014… Wahrscheinlich werden wir beide, die wir so viele Abstimmungen gemeinsam verloren haben, irgendwo verlassen an einem Tisch sitzen…

Die Ökonomisierung, aber auch (und das liegt uns beiden näher) die Ökologisierung von allem tendieren dazu, das menschliche (und nicht-menschliche) Individuum ausschliesslich in den Kategorien von Nützlichkeit & Belastung, als Kostenfaktor oder ökologischen Fussabdruck zu sehen… Wo Systeme, Kollektive oder Gattungen dem Individuum übergeordnet werden, ist das Leben der einzelnen gefährdet. Da werden zugunsten betriebs- oder volkswirtschaftlicher Profite Menschen freigesetzt. Wird, zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts, auch schon mal die Jagdsaison eröffnet – selbst auf grundsätzlich geschützte Tiere. Wann auch auf Menschen?

Ich weiss, du wirst mir solche Zuspitzung übelnehmen. Besonders unter FreundInnen. Ginge es um eine SVP-Initiative, die Empfindlichkeiten wären, vermutlich, kleiner. Die SVP hat gelernt, mit dem Vorwurf zu leben, zuweilen in Gewässern zu stochern, in denen andere braun sehen. Auch zu Recht. Wir aber wussten uns immer einig in wachstums- und kapitalismuskritischen Haltungen. Da sind gegenseitige Zuschreibungen und Distanzierungen schmerzlich. Aber es genügt nicht, die Nähe zu ‹Eugenikern und Rassisten› pauschal von sich zu weisen [3], es muss auch reflektiert werden, ob bestimmte Denkfiguren (vor denen niemand von uns befreit ist) nicht zumindest zweideutig sind, ins Menschenfeindliche zu kippen drohen und einem erhoffte, aber ungeliebte Gefolgschaft verschaffen. Soviel muss, gerade unter uns, gesagt werden können. Auch der Freundschaft zuliebe… 

Wenn du am nächsten Sonntag zu den SiegerInnen gehören solltest, wird dir schnell & schmerzlich klar werden – nicht die WachstumskritikerInnen, sondern die mit dem menschenfeindlichen Blick haben gewonnen. So wie ich, im umgekehrten Fall, mit denen geheult hätte, die nur dann für offene Grenzen und internationale Solidarität sind, wenn es sich rechnet…»

Letzte Korrekturen im Nebel

Die offensichtlich gegensätzlichen Stellungnahmen zur Ecopop-Initiative haben zwischen uns nicht zu nachhaltigen Distanzierungen geführt. Nicht einmal sie hat etwas daran geändert, dass wir uns grundsätzlich wohlgesonnen waren. Wir hatten & haben ja beide einen Hang zu und durchaus Freude an polemischen Formulierungen. Nicht nur an den eigenen. Zerstritten haben wir uns deswegen nie. Trafen uns in den letzten Jahren sogar häufiger persönlich. Korrespondierten (fast) regelmässig – zwar per Mail, aber als wären es noch «richtige» Briefe. Zu meinem Text «Letzte Liebe oder die schützende Falle» [4] schriebst du mir am 11. September 2020:

«…Wäre ich dein Lektor, hätte ich – Journalist, nicht Schriftsteller – Dir gesagt: Der Stoff ist gut: Da steht, so erahne ich aus Deinem Text, ein Alterspfleger vor Gericht, der einen Altersheiminsassen nicht gehindert hat, seine letzte Liebe selbstbestimmt zu leben, damit aber eine Ansteckungswelle auslöste, die andere mittötete. Dein Text aber vernebelt diesen Stoff… Die … Geschichte von Hans Oberholzer, eine Fiktion, steht im Kontrast mit der Person des Schreibenden, der sich real und präzis in die Geschichte einbringt… Dieser real Schreibende, der den Stoff wählte und gestaltete, verabschiedet sich aber am Schluss ins Offene. Da gibt es für mich zu viele Ebenen zwischen realem, sich in den Text einbringenden Schreibenden, den Personen in der Geschichte, der Darstellung eines realen Dilemmas in einer etwas vernebelten Form…

Ich erwarte keine Antwort, denn damit wärest Du ja gezwungen, einen abgeschlossenen Text im Nachhinein zu erläutern, und das ist – soviel ich weiss – einem Schriftsteller (im Unterschied zu einem Journalisten) nicht zuzumuten. 

Vielleicht ergibt sich mal eine Wanderung zu zweit, bei der wir – losgelöst von diesem Text – über die unterschiedliche Rolle, die Schreibende als Journalisten oder Schriftsteller haben (müssen) – und damit auch über unsere persönliche Existenz in ungewohnten (Altern, Abschied, neue Entwicklungen etc.) Zeiten [reden können].»

Ich hoffe, du hast meine Antwort nicht als allzu schroff empfunden. «Danke dir, dass du meinen Text, den ich tatsächlich nicht weiter erklären werde & würde, gelesen hast.» Schrieb ich dir kurz darauf. «Und wenn ich einen Lektor suchen würde, suchte ich ihn nicht unter Journalist*innen. Aber eine Wanderung zu zweit, mit einem Gespräch über Journalismen, Literaturen, Leben und Sterben – das mache ich gerne mit dir. Wie wär’s nächstes Mal mit Hochwacht oder Albishorn, aber natürlich bin ich auch offen für andere Orte, solche, die ich noch gar nicht kenne. Möglichst über dem Herbstnebel.»

Zwei Monate später – ein Umzug nach Winterthur hatte sich überraschend schnell ergeben – teilte ich dir mit: «Ich habe unsere nächste Wanderung mit Gesprächen über Welten und Menschen nicht vergessen – aber da ich in den nächsten Wochen mit Aussortieren, Entsorgen, Verpacken und am Ende Zügeln beschäftigt bin, müssen wir das von mir her auf den Frühling verschieben, wenn der Schnee – der wahrscheinlich hier gar nicht kommt – geschmolzen ist und die Tage wieder wärmer werden, so dass wir irgendwo draussen an der Sonne sitzen können…»

Einen Tag vor unserer Züglete ermahntest du mich noch fürsorglich: «Überlupf Dich nicht beim Zügeln, ein Kollege von mir hat letztes Jahr einen Bandscheibenschaden erlitten.» Mein Rücken überstand den Umzug gut, aber das mit dem Schnee und dem Einleben in einer neuen Wohnung dauerte länger als gedacht, und dann war es zu spät für das nächste Gespräch zwischen uns zwei (Un-)Gleichen. Ich war immer ein Pendler zwischen (kleinen) Welten. Nicht nur zwischen Journalismus und Schriftstellerei, sondern zwischen unterschiedlichsten Tätigkeiten und Themen generell. Du bliebst dem Journalismus und deinen grossen Themen, ergänzt durch ein paar Liebhabereien, jahrzehntelang treu. Was ich immer ein wenig bewunderte, mir selbst aber nicht vorstellen konnte. Vermutlich weil ich immer mehrere Leben leben wollte. Aber am Ende sterben wir alle nur einmal. 

Herzlich

Jürg

PS. Ich bin fast sicher, du hättest dich auch nach diesem Text bei mir gemeldet. Mit Anmerkungen & kritischen Fragen. Schon weil er dir zu lang erschienen wäre. Aber es gehört zu den schreienden Ungerechtigkeiten, dass die Lebenden (bis auf Weiteres) das letzte Wort haben.



[1] Hans Steiger, ehemaliger Volksrecht-Redaktor, SP-Kantons- und Nationalrat

[2] Gemeint ist der Kommentar «Wird die Ecopop salonfähig?» des damaligen Co-Chefredaktors Res Strehle im Tages-Anzeiger vom 9.8.2012

[3] Z.B. Ecopop-Geschäftsführer Andreas Thommen im Tages-Anzeiger vom 12.8.2014

[4] Im September 2020 in den Neuen Wegen, im Februar 2021 auf Infosperber erschienen

in memoriam hpg: Serie im Gedenken an Hanspeter Guggenbühl

HPG

Hanspeter Guggenbühl (2. Februar 1949 – 26. Mai 2021) gehörte zu den profiliertesten Schweizer Journalisten und Buchautoren für die Themen Energie, Umwelt, Klima und Verkehr. Hanspeter Guggenbühl engagierte sich seit den Gründerjahren mit viel Leidenschaft für Infosperber – er schrieb mehr als 600 Artikel und prägte die Online-Zeitung ganz wesentlich. Sein unerwarteter Tod ist ein grosser Verlust für den Journalismus, für Infosperber und für alle, die ihm nahestanden.

Um einen Beitrag an das Andenken von Hanspeter Guggenbühl zu leisten, haben sich mehrere Schweizer Autor:innen bereit erklärt, einen Text mit der Vorgabe zu schreiben, dass Hanspeter ihn gerne gelesen hätte. «Gerne gelesen» heisst nicht, dass er nicht widersprochen hätte – war ihm die argumentative Auseinandersetzung doch ebenso wichtig wie das Schreiben.

Diese Texte wurden in den vergangenen Wochen in loser Folge publiziert und sind an der blauen Grafik erkennbar, die auch in diesem Text enthalten ist. Alle Beiträge sind als Serie «in memoriam hpg» zusammengefasst und im hier verlinkten Dossier vereint. Darunter sind auch einige einschlägige Artikel von Hanspeter Guggenbühl.

Die Beitragenden (in alphabetischer Reihenfolge):

  • Marcel Hänggi, Journalist und Autor mit Fachbereich Umwelt und Klima, Lehrer, Mit-Initiant der Gletscher-Initiative, Zürich. 
  • Reto Knutti, Professor für Klimaphysik, ETH Zürich, Zürich. 
  • Jürgmeier (Jürg Meier), Schriftsteller, Winterthur. 
  • Rudolf Rechsteiner, alt Nationalrat (SP, Basel), Ökonom (Dr. rer. pol.), selbständiger Berater und Dozent für Umwelt- und Energiepolitik mit Schwerpunkt erneuerbare Energien, Basel.
  • David Sieber, Journalist, Chefredaktor von «Die Südostschweiz» (bis 2015), Chefredaktor «Basellandschaftliche Zeitung» (bis 2018), Chefredaktor «Schweizer Journalist» (bis 2021), Basel. 
  • Felix Schindler, Journalist mit Fachbereich Mobilität, Zürich.
  • Billo Heinzpeter Studer, Sozialforscher und Journalist, Gründer und Präsident der Organisation fair-fish, Adria.
  • Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte, Universität Zürich, Zürich.
  • Jakob Weiss, war zwanzig Jahre lang in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft tätig und ist Autor des Buches «Die Schweizer Landwirtschaft stirbt leise. Lasst die Bauern wieder Bauern sein».

Den Nachruf, den sein langjähriger Freund und Weggefährte Urs P. Gasche schrieb, finden Sie hier: Adieu, lieber Hanspeter.

(fxs.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Jürgmeier ist Schriftsteller, war von 2014 bis 2018 Mitglied der Redaktionsleitung Infosperber und lebt in Winterthur.
_____________________

Zum Infosperber-Dossier:

HPG

in memoriam hpg

Mehrere Schweizer Autor:innen leisten einen Beitrag zum Andenken an den Journalisten Hanspeter Guggenbühl (2.2.1949 - 26.5.2021).

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2 Meinungen

  • Portrait_Benno_Beler
    am 8.11.2021 um 09:54 Uhr
    Permalink

    Der Grund, weshalb die ECOPOP-Initiative nur die Nettomigration beschränkte liegt schlicht an der ökologisch erfreulichen Tatsache, dass die Anzahl der Kinder pro Frau in der Schweiz seit über 50 Jahren weit unter der Reproduktionsrate von 2.1 Kindern liegt. Oder mit anderen Worten: Die hohe Nettomigration ist die zentrale Ursache für die schnell wachsende Wohnbevölkerung in der Schweiz.

    Selbstverständlich war das weder nationalistisch noch in irgendeiner Art rassistisch/diskriminierend gemeint.

    Und: die ECOPOP-Initiative war nicht gegen eine hohe Migration gerichtet, sondern nur gegen hohe NETTO-Migration. Es ging also nicht um die Verhinderung von Zuwanderung, sondern um ein ins-Gleichgewicht-bringen der Migration, bei der die Ein- und Auswanderung im Mittel über die Zeit wieder einigermassen ähnlich gross wird. Ich denke, hpg dachte genau wie wir: weder nationalistisch oder rassistisch, sondern schlicht umweltbewusst.

  • am 11.11.2021 um 10:43 Uhr
    Permalink

    Lieber Jürg, herzlichen Dank für diesen Beitrag – gleichermassen über dich selber und Hanspeter Guggenbühl. Gerade durch das Zeichnen der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten werden beide Persönlichkeiten für mich, der ich dich (von «Männerkursen», von Artikeln und auch von «Belletristik») etwas besser kenne als Hanspeter (leider nur von seinen Artkeln), deutlicher sichtbar.

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