Schlagzeile

Frühere Schlagzeile der «Tribune de Genève»: «Häftlinge müssen ihre Matratze sogar auf den Boden legen.» Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz deshalb verurteilt. © Tribune de Genève

Der Kanton Genf beschmutzt das humanitäre Image der Schweiz

Ludwig A. Minelli /  Regierung und Justiz verletzen Menschenrechte. Im Untersuchungsgefängnis haben Menschen weniger Platz als Hunde im Zwinger.

Red. Ludwig A. Minelli ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Der Beitrag erschien in deren Zeitschrift «Mensch und Recht».

Ausgerechnet die Regierung und die Justiz jenes Kantons, welcher wichtigste Menschenrechtsorganisationen wie das In­ter­nationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) oder den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beherbergt, verletzen von der Schweiz garantierte Menschenrechte und reagieren nicht oder nicht ausreichend auf entsprechende Kritik. Damit kompromittieren Regierung und Justiz des Kantons Genf die Schweiz:

  • Seit das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) in der Schweiz Gefängnisse und andere Einrichtungen kontrolliert, in welchen Menschen unfreiwillig leben müssen, findet es regelmässig Anlass, die Zustände im Genfer Gefängnis Champ-Dollon harsch kritisieren zu müssen. Die Verantwortung dafür trägt der Genfer Staatsrat, die Regierung des Kantons Genf. Damit verletzt der Kanton Genf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welcher Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet.
  • Die Genfer Justiz ihrerseits scheint entweder nicht willens oder nicht fähig zu sein, insbesondere Strafprozesse innerhalb angemessener Frist zu erledigen, wie dies von Artikel 6 Absatz 1 der EMRK, der Europäischen Menschenrechtskonvention, gefordert wird. 

Neuestes Beispiel: Am 9. Dezember 2021 hatte das Schweizerische Bundesgericht den Genfer Arzt Pierre Beck von der Anklage freigesprochen, er habe durch die Freitodbegleitung einer 84-jäh­ri­gen gesunden Frau Bestimmungen des Heilmittelgesetzes verletzt. Das Bundesgericht wies die Sache an die Genfer Justiz zurück, damit diese überprüft, ob der Arzt vielleicht das Betäubungsmittelgesetz verletzt haben könnte. 

Seither ist mehr als ein Jahr verstrichen, und der beschuldigte Arzt wartet noch heute auf das neue Genfer Urteil. Damit verletzt der Kanton Genf Artikel 6 Absatz 1 der EMRK.

Champ-Dollon stets massiv überbelegt

Die stets wiederholte Kritik des CPT gegenüber dem Kanton Genf bezieht sich vor allem auf die ständige und massive Überbelegung des Gefängnisses Champ-Dollon. Darauf erhält man schon beim Nachschlagen des Begriffes «Champ-Dollon» in der Wikipedia eine entsprechende Vorstellung. Da heisst es nämlich (abgerufen am 14. Dezember 2022):

 «Champ-Dollon in der Gemeinde Puplinge ist ein Gefängnis im Kanton Genf. Die Anstalt wurde 1977 eröffnet. Sie hat Einzel- und Mehrfachzellen für 244 Männer und 26 Frauen und dient in erster Linie der Unterbringung von Untersuchungsgefangenen. Seit 1986 stieg die Gefangenenzahl relativ kontinuierlich; 2013 war die Anstalt mit durchschnittlich 809 Gefangenen belegt.»

Als Quelle nennt Wikipedia den offiziellen Jahresbericht 2013 der Verwaltung des Gefängnisses Champ-Dollon. 

Besonders gravierend: Champ-Dollon ist in erster Linie Untersuchungsgefängnis

Dabei ist besonders gravierend, dass das Gefängnis von Champ-Dollon in erster Linie als Anstalt dient, welche Untersuchungsgefangene beherbergt. Das sind somit Personen, die gemäss Artikel 6 Absatz 2 der EMRK so lange als unschuldig zu betrachten sind, als sie nicht von einem zuständigen Gericht rechtskräftig wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden sind. 

Mehr Platz in Hundezwingern als in Gefängniszellen

Die Inhaftierten könnten auch geltend machen, das Tierschutzgesetz würde verletzt: Sein Artikel 1 erklärt, Sinn des Gesetzes sei «es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen». Artikel 2 bestimmt sodann, das Gesetz gelte für Wirbeltiere. Da Menschen biologisch Wirbeltiere sind, müsste es auch auf sie anwendbar sein. Konsultiert man dann noch den Anhang 1 zur Tierschutzverordnung, findet sich darin Tabelle 10, welche die Mindestgrösse von Zwingern für Haushunde enthält. Sollen zwei Haushunde von mehr als 45 kg Gewicht in einem Zwinger gehalten werden, muss dieser eine Grundfläche von mindestens 16 Quadratmetern aufweisen; für jeden weiteren Hund braucht es sechs Quadratmeter zusätzlicher Grundfläche. Diesen elementaren Hunde-An­for­de­run­gen entsprechen die Masse der Zellen in Champ-Dollon in keiner Weise.

Dieser Vergleich zeigt, in welch gravieren­der Weise der Staatsrat des Kantons Genf die Menschenrechte jener Personen andauernd verletzt, welche das Pech haben, in Champ-Dollon als vermutlich Schuldlose eingesperrt zu werden. Längst hätte der kleine Kanton Genf zusätzlich ein mindestens doppelt so grosses Gefängnis errichten müssen, um seiner menschenrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, seine Untersuchungsgefangenen rechtskonform un­ter­zubringen.

SGEMKO schaltet das Parlament ein

Die «Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention» (SGEMKO), welche die Zeitschrift «Mensch und Recht» herausgibt, hat sich deshalb mit Schreiben vom 9. Dezember 2022 an die Schweizerische Bundesversammlung gewandt und dieser eine Petition eingereicht. 

Die Art und Weise, mit der die Bundesversammlung dieses Problem aufgrund der Petition angeht, wird aufzeigen, ob eidgenössische Politiker, wenn sie Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten kritisieren, dabei blosse Sonntagsreden halten oder ob sie den EMRK-Garantien dann, wenn sie im eigenen Lande während Jahrzehnten nicht beachtet werden, soviel Gewicht zumessen, dass sie sich der damit verbundenen Probleme ernsthaft annehmen.

Eine sich aufdrängende Massnahme

Anwälten, welche in Champ-Dollon einsitzende Personen vertreten, ist zu empfehlen, bei Überbelegung regelmässig Beschwerde gegen die Haftumstände einzulegen und diese allenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) weiterzuziehen. 

Die Verhältnisse wären wohl besser, wenn vermehrt Beschwerden gegen die Haftumstände erhoben würden. Diese müssten die Anwälte der inhaftierten Personen einreichen. Doch in den allermeisten Fällen unterbleibt dies nur schon deswegen, weil die wenigsten Untersuchungshäftlinge wirtschaftlich in der Lage sind, einen Anwalt entsprechend zu bezahlen. 

Der Gesetzgeber könnte dieses Problem entschärfen, indem er vorsieht, dass jede Person, der – auch nur vorübergehend – die Freiheit und/oder die Selbstbestimmung ent­zogen worden ist, Anspruch darauf hat, auf Kosten der für den Eingriff verantwortlichen Behörde einen Anwalt zu beauftragen, seine Interessen in Bezug auf die Bedingungen, unter welchen er zu leben gezwungen wird, zu vertreten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Herausgeber von «Mensch und Recht», der Quartalszeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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Eine Meinung zu

  • am 9.01.2023 um 11:40 Uhr
    Permalink

    Es ist nicht nur Genf, sondern auch Zürich, welche Personen in Untersuchungshaft massiv unter Druck setzen und entgegen den üblichen internationalen Grundsätzen wie «Nelson Mandela Rule» (eine Person darf nicht länger als 15 Tage in Isolationshaft gehalten werden) erniedrigen und ja foltern z.B. ich war 217 Tage in Isolationshaft oder wie hier Verletzungen diverse internationalen Grundsätzen. Meine Frau durfte mich nicht besuchen und meine 10jähirge Tochter eine Stunde alle 14 Tage getrennt von einer Scheibe und natürlich mit Tonbandaufnahme. Die Angst ging um, dass ich das Kind als Meldeläufer nutze!!!

    Beschwerden von Gefangenen nützen nichts, denn die werden reflexartig von der Staatsanwaltschaft und Gerichten abgewiesen. Ich habe mehrere Beschwerden geschrieben und schreiben lassen alle ohne Erfolg.

    Menschenrechte in der Schweiz sind Lippenbekenntnis, um in der Welt gut dazustehen. Die Praxis ist jedoch eine ganz andere, leider.

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