Kommentar

«Sich von Neonazis, Antisemiten und Fremdenhassern abgrenzen»

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Wer demonstriert, übt ein demokratisches Recht aus. Nicht mit Extremisten zu marschieren, ist nicht immer einfach, aber wichtig.

Red. Deutschland hebt die Maskenpflicht im öffentlichen Fernverkehr erst per 2. Februar 2023 auf.

Der Corona-Mundschutz, genannt Maske, war textile Infektionsverhinderung, sein Subtext war Kommunikationsbehinderung. Das Ende der Maskenpflicht im Nah- und im Fernverkehr ist daher ein Anlass, eine Kommunikation wieder aufzunehmen, die in der Corona-Zeit nicht oder viel zu wenig stattgefunden hat. Es geht darum, die Diskussionen und Gespräche wieder in Gang zu bringen, die in der Corona-Zeit nicht gut gelaufen sind. Ich wünsche mir, dass die Menschen wieder miteinander reden können, dass die angstbesetzte Polarität zu Ende geht, dass es wieder ein zuhörendes und diskutierendes Miteinander in der Gesellschaft gibt. Es geht darum, gegebenenfalls auch eigene Positionen zu hinterfragen, die man in der Corona-Zeit vertreten hat. 

Soeben hat mir ein älterer Herr geschrieben, der an einigen Demonstrationen gegen Corona-Massnahmen teilgenommen hat. Er hatte sich an Kommentare von mir erinnert, in denen ich einerseits das Demonstrationsgrundrecht gepriesen, andererseits aber auch hohe Forderungen an die Demonstranten gerichtet hatte. Mein Lobpreis ging so: Das Demonstrationsgrundrecht gehöre zur Kernsubstanz der Demokratie, es sei das Grundrecht der Unzufriedenen, der Unbequemen, der Empörten und der Aufsässigen. Und in einer Demokratie dürfe man unzufrieden, unbequem, empört und auch aufsässig sein. Das sei keine Verirrung der Demokratie, das sei die Demokratie. Das war mein Lobpreis, und das stimmt auch. Und meine Forderung war: Die Demonstranten müssten alles nur Erdenkliche tun, um sich von den Extremisten und Neonazis, von antisemitischen und fremdenfeindlichen Gruppen abzugrenzen; es sei dies die Pflicht von seriösen Demonstranten. Das sehe ich auch heute noch so. Darüber, wie diese Abgrenzung aussehen könnte, habe ich mir aber keine sehr konkreten Gedanken gemacht.

Der ältere Herr schrieb mir nun dazu: „Immer, wenn ich zu einer Demonstration gehen wollte, musste ich zuerst eine fast unüberwindbare Hürde nehmen, welche mir von der Politik und den Medien in den Weg gelegt wurde. Eine Hürde, welche mich schon vor Beginn der Demonstration als unsolidarisch, rechtsradikal und, was mir am meisten weh getan hat, als unmoralisch bezeichnet hat. Ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts davon bin. Jedoch überlegt man es sich zweimal, ob man an einer Demonstration teilnimmt oder nicht. Trotzdem wurden Politik und Medien nicht müde, mich so zu bezeichnen. Wenn ich dann noch während der Demonstration mein Hauptaugenmerk darauflegen soll, mich von der rechtsradikalen Seite zu distanzieren, bin ich definitiv überfordert.“ Der ältere Herr fühlte sich von vornherein abgestempelt. 

Das ist ein zartbitterer Brief. Und ich habe mich gefragt, ob und wie man das Grundrecht praktikabel verteidigen kann, ohne diejenigen, die es in Anspruch nehmen, zu überfordern. „Demokraten müssen, so gut es nur geht, zu vermeiden suchen, mit den Giftigen in einer Sosse zu schwimmen,“ so hatte ich geschrieben, „und der Staat muss ihnen dabei helfen.“ Hat es diese Hilfe gegeben? Es ist keine Hilfe, Demonstranten unter Generalverdacht zu stellen, wie es der ältere Herr erlebt hat. Man kann nicht das Grundrecht der Demonstrationsversammlungsfreiheit verteidigen und dann die Demonstranten, die es in Anspruch nehmen, im braunen Regen stehen lassen. Aber, und das werde ich dem älteren Herrn schreiben: Wer zu einer Demonstration geht, bei der sehr rechtslastige Redner angekündigt sind, der weiss, was er tut. Da sollte er dann lieber von vornherein nicht hingehen. Und die Mehrheitsgesellschaft sollte Leute, die womöglich ungelenke, vielleicht auch masslose Kritik üben, nicht in eine Reihe mit radikalen Coronaleugnern oder Neonazis stellen. Zu den Fragen, die man nach Corona beantworten muss, gehört daher auch die: Wie schützt man in Krisenzeiten die Andersdenkenden? Darauf eine gute Antwort zu finden, hilft der Demokratie.

Ich wünsche uns, dass das Wort „Streitkultur“ nicht nur ein schönes Wort ist, sondern auch eine schöne Praxis wird. Gute Januartage für Sie.

___________________
Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien als „Prantls Blick“ am 27. November 2022 in der Süddeutschen Zeitung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20120107um17_56_48

Die Demokratien im Stress

Die Finanz- und Politkrisen setzen den Demokratien im Westen arg zu. Auch mit der Gewaltenteilung haperts.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

8 Meinungen

  • am 16.01.2023 um 11:51 Uhr
    Permalink

    ebenso gilt: Das Demonstrationsgrundrecht gehöre zur Kernsubstanz der Demokratie, es sei das Grundrecht der Zufriedenen, der Bequemen, der Nichtpörten und der Nichtsässigen…

  • am 16.01.2023 um 12:19 Uhr
    Permalink

    Antisemit, Fremdenhasser, Neonazi ist, wer entsprechendes Gedankengut und Symbolik privat oder öffentlich pflegt, verherrlicht und verbreitet. Solche und andere versuchten immer wieder, Coronademos zu instrumentalisieren und für ihre Propaganda zu mißbrauchen, von möglichen agents provocateurs bzw. V-Leuten der Regierungen muss auch ausgegangen werden. Die Mehrheit der Demonstranten – man mag entsprechende Videos studieren, wenn man’s nicht glaubt – sind und waren Ottonormalverbraucher, die sich von nichts und niemandem distanzieren müssten. Nirgendwo schwenkten diese Leute Transparente oder brüllten Parolen, die dem prantelschen «Giftigen in der Soße» entsprachen. Wenn im demokratischen Parteienspektrum zugelassene rechte Parteien an Demos teilnehmen und Redner stellen, so mag das – auch für mich – ärgerlich oder befremdend wirken, ist aber als Teil der Demokratie zu akzeptieren. Daraus folgt nicht, dass die Anliegen der Demonstranten diskreditiert und weniger wert wären.

  • am 16.01.2023 um 12:59 Uhr
    Permalink

    Ich finde es in heutigen Zeitennicht so einfach praktikabel sich von radikalisierten Positionen zu distanzieren. Es wird von demokratiefeindlicher, aber gut organisierter Seite, schon gut gesorgt werden das Vertreter dieser Fraktionen vor Ort sind und auch reden werden. Meist ohne Vorankündigung.
    Seitens der Politik ist es einfacher einer Protestbewegung einen Namen zu geben, wie jetzt jüngst «Putinfreund» und ab zu stempeln. Somit braucht man sich nicht mehr damit auseinandersetzen. Irgendeine der vielen Schubladen wird bestimmt passen.
    Eine Partei wie die AFD, die mir sicherlich nicht passt, wurde aber demokratisch gewählt. Ist in einigen Parlamenten vertreten und unter Demokratie verstehe ich auch die Auseinandersetzung mit der Sache.
    Die Partei wird in ihren demokratisch verbrieften Rechten behindert und damit empfinde ich die etablierten Parteien als ebenso verfassungsfeindlich wie undemokratisch wie die AFD selbst. Wir bräuchten erst einmal wieder eine Streitkultur.

  • am 16.01.2023 um 17:11 Uhr
    Permalink

    Ihrem Wunsch im Schlusswort, dass «Streitkultur» nicht nur ein schöner Begriff ist, sondern auch eine schöne Praxis wird, kann ich nur beipflichten. Dass aber eine solche vonseiten der Politik noch nicht gewünscht ist, zeigte z.B. eine Veranstaltung vom 24. November 2022 in der Paulus Akademie in Zürich. Eine Akademie, die demokratische Werte vertritt und sich als ein Ort des Dialogs sieht. https://www.katischepis.ch/post/rethinking-corona-schade-waren-sie-nicht-dabei-lieber-herr-molina
    Bei den Demonstrationen gegen die unverhältnismässigen Covid-Massnahmen habe ich durchwegs nur eine gewaltbereite Gruppe feststellen können. Und die sind nicht mitmarschiert, sondern standen als einzige erkennbare Gruppierung als Gegendemonstranten am Strassenrand: die Antifa. Der Beweis für mich, dass etwas sehr faul sein muss im Staate … Näheres dazu unter https://www.dieostschweiz.ch/artikel/mitlaeufer-nazi-sympathisanten-wo-denn-jxja1bl

  • am 16.01.2023 um 20:49 Uhr
    Permalink

    Man sollte sich von einem derart inflationären Gebrauch von Killerargumenten nicht beeindrucken lassen, denn es macht die zu unrecht Verleumdeten erst recht interessant und ich stelle immer wieder fest, die sind gar nicht so, sondern alles andere.
    Andersdenkende mit Kampfbegriffen eindecken wie: Extremisten, Neonazis, Antisemiten, Coronaleugnern pp, ist sowas von Hatespeech.

  • am 17.01.2023 um 12:23 Uhr
    Permalink

    Ich bin öfters bei Demos gegen die Impfpflicht mitgelaufen. Ungerne, weil ich als Impfbefürworter vielem gar nicht zustimmte, was dort gesagt wurde. Doch eine Pflicht zur Impfung hielt ich für unangemessen. Dass diese Demos alle sehr rechts seien hatte ich gehört, aber ich wollte mir selbst ein Bild machen. Was soll ich denn tun, meine eigene Demo gründen? Doch das rechteste, was ich vorfand, war, dass ein Teilnehmer auf seiner umgehängten Mini-Soundbox kurz «Dieser Weg» von Xavier Naidoo anspielte… Naja und Passanten, die uns allen den Tod wünschten. Das Motto war Selbstbestimmung, und es gab auch Redner die das Impfen empfahlen.
    Laut eines Zeitungsartikels war eine der Demos offenbar schon rechts, weil sie am 1. August stattfand. Ist klar, ne? 1.8.= A.H. = Adolf Hitler. Aber nie kam mal irgendwas konkretes.
    Siehe auch hier: https://norberthaering.de/propaganda-zensur/hessenschau-samstagsdemo-frankfurt/

  • am 17.01.2023 um 14:10 Uhr
    Permalink

    Klar sollte man sich distanzieren, wenn Neonazis im gleichen Umzug mitlaufen. Die gleiche Forderung darf man aber auch stellen, wenn am 1.Mai-Umzug Leute mit Stalin- und Mao-Bildern mitmarschieren.

  • am 19.01.2023 um 08:39 Uhr
    Permalink

    Es gibt keine Streitkultur in Deutschland, es gibt keine Fehlerkultur in Deutschland, es gibt eine Deutungshoheitskultur in Deutschland, eine Art «Stammtischführerkultur».

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...