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Wollen sie mit Blick auf ihre künftige Welt lernen, was wir nicht besser wissen? © bkj/flickr/cc

Lehrplan 21 oder die Angst vor den SchülerInnen

Jürgmeier /  Der Lehrplan 21 ist umstritten. Nur in einem Punkt sind sich alle einig: Hauptsache – die Schülerinnen reden nicht drein.

«In jedem 2. Kanton wollen Kritiker den Lehrplan bodigen», titeln Berner Zeitung und Tages-Anzeiger am 4. Mai 2015. Im entsprechenden Artikel sind’s dann nur noch die «Hälfte aller Deutschschweizer Kantone». Und längst nicht überall ist klar, ob Parlament oder Stimmvolk noch etwas zu diesem «470-seitigen Werk» zu sagen haben. Und was das erste oder das zweite, wenn, dazu sagen würde.

Lehrplan für ein halbes Leben

Was «200 Fachleute» in acht Jahren entwickelt haben, ist umstritten. Die Kritik ist vielfältig und widersprüchlich. Die Gegnerschaft heterogen. «Politiker, aber auch parteilose Lehrer und Eltern», schreiben Berner Zeitung und Tages-Anzeiger. Dass insbesondere auch die SVP – die den, aus ihrem rechtskonservativen Blick, von 68erInnen unterwanderten Bildungsbereich zurückerobern will – ihn bekämpft, ist kein Grund, den konkretisierten Versuch, alle «Schulkinder der Deutschschweiz nach den gleichen Lernzielen» zu unterrichten, als durchwegs gelungenes Jahrhundertwerk zu feiern.

Den einen ist er zu wenig klar, den anderen zu sehr am Messbaren orientiert. Für die einen ist er zu wenig leistungsorientiert, für die anderen eine Überforderung aller Beteiligten. Ein paar politisch besonders umstrittene Themen – Gender zum Beispiel – sind bereits gestrichen oder umbenannt worden. Insgesamt aber enthält der Lehrplan 21 eine derartige Fülle&Komplexität an nachzuweisenden Kompetenzen und zu erreichenden Zielen, dass die Mehrheit der SchülerInnen gut&ungern doppelt so viel Lebenszeit für die Schule opfern müsste als vorgesehen, wenn die entsprechenden Unterrichtsinhalte nicht nur vermittelt, sondern auch gelernt werden sollen.

Der kleinste gemeinsame Verzicht

Der Lehrplan 21 ist, wie alle Lehrpläne vor und, vermutlich, nach ihm, das Resultat des kleinsten gemeinsamen Verzichts seiner SchöpferInnen. Wo und von wem auch immer Lehrpläne entwickelt werden, zeigt sich dasselbe Phänomen: Anfänglich sind sich alle einig – diesmal müsse dafür gesorgt werden, dass der Stoff SchülerInnen (und LehrerInnen) nicht erdrücke. Damit nicht schon ein ungünstig fallender Ostermontag, ein Husten der Lehrperson, eine ungeplante inhaltliche Diskussion oder das Aushandeln der nächsten Exkursion mit der Klasse dazu führe, dass fünf Lernziele nur noch an die Tafel projiziert und geprüft, aber nicht mehr substantiell behandelt werden könnten.

Nach Abschluss engagierter Diskussionen und mehrfach überarbeiteter Zielformulierungen liegt regelmässig ein Katalog vor, von dem alle wissen – aussichtslos, ihn wirklich «abzuarbeiten». Und schon gar nicht mit realen SchülerInnen. Immer wieder wehrt sich eine oder einer gegen das Streichen eines für die Gesellschaft besonders bedeutsamen Themenbereichs beziehungsweise eines für die SchülerInnen lebenswichtigen Bildungsziels. Manchmal wird auch einfach nur dem Frieden zuliebe das Sowohlalsauch dem Entwederoder vorgezogen. Und nur ganz selten ergibt sich ein Konsens fürs Streichen unter den LehrplanentwicklerInnen. Dies in Abwesenheit der SchülerInnen, die bezüglich Lerninhalten womöglich den grössten gemeinsamen Nenner dem kleinsten gemeinsamen Verzicht vorziehen würden. Oder den Zielkatalog ihrerseits durch von den Erwachsenen Vernachlässigtes erweitern würden.

ExpertInnen in Sachen Schule – alles Ehemalige

Wenn es um Schule geht, halten sich alle für ExpertInnen – BildungspolitikerInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, LehrerInnen, Eltern und alle ehemaligen SchülerInnen. Das zeigt auch die ARD-Sendung «Hart aber fair» vom 4. Mai. Unter dem Titel «Problemfall Schule – zu viel Goethe, zu wenig Google?» sitzen sie alle da: Der Senator für Schule, der Direktor an einem Gymnasium und Präsident des Deutschen Lehrervereins, die Mutter&Journalistin, der Vater&Buchautor, der Journalist, der den Videokanal MrWissen2go betreibt und der Professor für Kinder- und Jugendpsychosomatik, der selbstverständlich auch Bücher schreibt.

Besonders aufschlussreich die Szene, in der sich die Mutter&Journalistin über eine Lehrerin beklagt, die «Schreiben nach Gehör» praktiziert. Diese Lehrerin – «die meine Tochter hätte sein können!» –, empört sich die pädagogische Instanz mit drei Kindern, habe ihr ins Gesicht gesagt: «Die Rechtschreibung ist ja nur ein ganz kleiner Teil der deutschen Sprache.» Eine Erkenntnis, die bei Fachleuten für Sprachförderung längst elementar ist. Sprachkompetenz heisst u.a. auch – einen Gedanken verständlich, pointiert und originell formulieren, eine Geschichte kreativ, spannend und einfühlsam entwickeln, aber auch einen Text lesen, verstehen und in eigenen Worten zusammenfassen können.

Eine andere Lehrerin, die begeistert berichtet, wie frei ihre SchülerInnen beim «Schreiben nach Gehör» drauflos schrieben, weil sie nicht vom orthografischen Rotstift blockiert würden, darf das nur in einer sekundengenau geschnittenen Einspielung. Keiner der SprachexpertInnen, die hinter diesem Projekt stehen, ist in diese TV-Runde eingeladen. Dafür eilt der Senator – der diese Form von Sprachförderung in «seinem» Bundesland als einziger verboten hat – der Journalistin&Mutter im Kampf für die zentrale Bedeutung der Rechtschreibung umgehend zu Hilfe.

Hauptsache – die SchülerInnen reden nicht drein

Die Studiogäste in «Hart aber fair», aber auch alle abwesenden BildungspolitikerInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, LehrerInnen und Eltern sehen sich als pädagogische Fachkräfte. Und sie wollen allealle einbezogen werden, wenn es um die Zukunft von Schule geht. Alt-Nationalrat&SVP-Bildungsexperte Ulrich Schlüer empört sich in Zusammenhang mit dem Lehrplan 21 darüber, dass «die deutschsprachige Erziehungsdirektorenkonferenz … geheimnistuerisch hinter verschlossenen Türen ohne parlamentarische Aufsicht» arbeite (NZZ Bildung und Erziehung, 10.4.2013). «Von grösster Bedeutung ist der Dialog mit allen Beteiligten in der Schule und ihrem Umfeld», fasst die Sozialdemokratin Regine Aeppli ihre Erfahrungen als Zürcher Bildungsdirektorin in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung am 5. Mai zusammen. Und Bundeshausredaktorin Anja Burri setzt im Tages-Anzeiger vom 4. Mai auf die LehrerInnen: «Sie arbeiten jeden Tag mit den Schülern und wissen am besten, was für diese gut ist.» Sässen die ExpertInnen alle an einem Tisch, sie könnten sich nicht einigen. Die einen forderten mehr Stunden für MINT-Fächer, die anderen für Englisch oder Hauswirtschaft, die Dritten für bildnerisches Gestalten. Mehr Grammatik! Weniger Rechtschreibung! Weniger Stoff! Mehr Kompetenz! Frühere Spezialisierung! Breitere Allgemeinbildung! Weniger Leistungsdruck! Schluss mit der Kuschelpädagogik! Mehr Kreativität, Pünktlichkeit, Respekt, Gehorsam, Eigenständigkeit! Riefen sie wild durcheinander.

Nur in einem wären sich die Zerstrittenen, sind sich all die Ehemaligen einig: Hauptsache – die (heutigen) SchülerInnen reden nicht drein. Keine&keiner kritisiert, dass Lehrpläne ohne Einbezug, geschweige denn Mitbestimmung der direkt Betroffenen entwickelt wurden&werden. In allen Bildungsdebatten sind die SchülerInnen blosse Zielobjekte, die den jeweils aktuellen pädagogischen Kompromiss in seiner ganzen Komplexität&Widersprüchlichkeit, inklusive Ziel-Überschüsse, im schulischen Alltag über sich ergehen lassen müssen.

«Die Schlüsselpersonen sind die Lehrer. Sie müssen ihre pädagogischen Freiheiten behalten», fordert Anja Burri. Von den Freiheiten der SchülerInnen steht in ihrem Kommentar nichts. Die LehrerInnen «wissen am besten, was für diese gut ist». «Nie wird gefragt, was wir denn eigentlich wissen wollen und warum… Es ist leider noch nicht so, dass die Schule für die SchülerInnen da ist», schrieb Felix, Mitglied der Autonomen Lerngruppe ALG, 1988 im Buch «Nicht mit Schafen und eigenem Korn». Bald dreissig Jahre später ist dem nichts hinzuzufügen.

Schlüsselpersonen beteiligen

Die Schule beansprucht einen grossen Teil unserer Lebenszeit. Und diese sollte für die eigentlichen Schlüsselpersonen sinnvoll genutzt werden. Immer wieder wird beklagt, die SchülerInnen beteiligten sich zu wenig am Unterricht. Aber wer sich beteiligen soll, muss zuerst beteiligt werden. Schule kann nur gelingen, wenn SchülerInnen am Bau des (Bildungs-)Hauses, am Verhandlungsprozess über Inhalt&Form des Unterrichts massgeblich beteiligt werden. Bildung gelingt nur, wenn die Lernenden zum Subjekt des Lernens werden. Wer mitbestimmt, was sie oder er lernen soll, ist auf diesen Zielen behaftbar, fühlt sich für deren Einlösung (mit-)verantwortlich und wartet nicht passiv das Tagesmenu derer ab, die am besten wissen, was für sie gut ist. Die grosse Einigkeit über Bildungsziele würde deswegen nicht ausbrechen.

SchülerInnen mitbestimmen lassen? Wo und wann immer ich das sage, werde ich mit irritiert-mitleidigem Blick gemustert. Ob ich das etwa ernst meine? Der Gedanke, dass SchülerInnen, auch kleinste, mitreden, wenn definiert wird, was und wie sie lernen sollen, erscheint den meisten abwegigabstrusweltfremd. Wovor haben wir Angst? Vor dem Unberechenbaren, dem ungesicherten Wissen, dem noch nicht Gedachten? Davor, dass unsere Kinder&Jugendlichen, mit Blick auf ihre künftige Welt, lernen wollen, was wir nicht besser wissen? Dass sie ihre selbst gesetzten Ziele engagierter, freudiger, hartnäckiger verfolgen könnten als wir Ehemaligen den uns vorgesetzten Stoff abgearbeitet haben?

Aber bedeutet echtes Lernen nicht gerade, sich in unbekannte Gebiete wagen, sich vorstellen können, dass alles auch ganz anders sein könnte? Dass Schule nicht zwingend scheitern müsste? Dass SchülerInnen den LehrerInnen und BildungspolitikerInnen sagen könnten, was sie lernen möchten? Weil es sie interessiert, weil sie es in der Welt von morgen brauchen? Haben wir genau davor Angst – dass Lernen bei denen, die nach uns kommen, gelingen könnte? Sogar in der Schule, ihrer Schule?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Jürgmeier war u.a. während vielen Jahren Lehrer/Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule und zusammen mit seinen KollegInnen an der Formulierung mehrerer Schullehrpläne beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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