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Kinderkrippen in Norwegen: Überall ein dichtes und günstiges Angebot © NTB

Wo fast alle Kinder im Vorschulalter eine Krippe besuchen

Florian Sieber /  Krippen gibt es überall. Sie sind günstig und für Arme kostenlos. Ein Augenschein in Norwegen.

Kinderkrippen haben es in der Schweiz politisch nicht immer leicht. Erst kürzlich verglich die SVP-Nationalrätin und Bildungspolitikerin Verena Herzog Kinder, die Tagesstätten besuchen, mit Verdingkindern. Letzten Winter musste SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi Kritik dafür einstecken, dass er Kindern, die Krippen besuchen, eine niedrigere Intelligenz attestierte. Ganz anders im Norden Europas. In Norwegen hat eine Regierung aus Konservativen und Rechtspopulisten Ende letzten Jahres sogar einen Ausbau des Angebots beschlossen.

Blick nach Norden

In der Gemeinde Nordkapp, deren Fläche fast so gross ist wie der Kanton Thurgau, leben gerade einmal 3218 Menschen. Im Winter herrscht hier, rund 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, die arktische Nacht, und wenn die Sonne zurückkehrt, wird das Örtchen zum Touristenmagneten, der mit dem namensgebenden Kap jährlich etwa 200’000 Personen anzieht.

Dieses Dorf ist exemplarisch für die externe Kinderbetreuung in Skandinavien. Trotz Abgelegenheit und kleiner Bevölkerung zählt der Ort vier verschiedene Kinderkrippen. Ein Luxus, der an ähnlichen Orten der Schweiz kaum denkbar wäre. Aber auch einer, den norwegische Familien ausserordentlich schätzen.

Während im 1. Altersjahr 4 Prozent aller norwegischen Kinder in eine Krippe oder einen barnehage (wörtlich übersetzt „Kindergarten“) eintreten, sind es bei den Ein- bis Zweijährigen bereits 73 Prozent. Vor der Einschulung besuchen mit 98 Prozent fast alle norwegischen Kinder eine Kindertagesstätte. Von solchen Werten ist man in der Schweiz, besonders in ländlichen Gegenden, wo am meisten Plätze fehlen, weit entfernt.

Für Einkommensschwache kostenlos

Gesetzliche Vorschriften sind der Grund, weshalb Krippen in Norwegen nicht nur in Stadtagglomerationen, sondern auch an kleinen und abgelegenen Orten allen Kindern zur Verfügung stehen. Stine Grimsrud vom Norwegischen Ausbildungsdirektorat: «Alle Gemeinden, ob ländlich oder urban, sind dazu verpflichtet, genügend Plätze zur Verfügung zu stellen, um den Bedarf zu decken.» Ein Jahr nach der Geburt habe jedes Kind gesetzlichen Anspruch auf einen Krippenplatz. «Das erklärt auch, warum so wenige Kinder bereits vor dem ersten Altersjahr in Norwegen extern betreut werden. Doch nicht nur die Verfügbarkeit von Krippenplätzen wird als politisches Ziel verfolgt, die Plätze sollen auch bezahlbar sein. So kennt Norwegen eine Reihe von Gesetzen, um Krippenplätze auch für Einkommensschwache zugänglicher zu machen:

  1. Der gesetzliche Maximalpreis eines Krippenplatzes liegt in Norwegen bei 3040 Kronen im Monat. Umgerechnet etwa 330 Franken;
  2. Die Betreuung eines Kindes in einer Krippe darf sechs Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten;
  3. Für Einkommensschwache (die Einkommensgrenze ist bei 548’500 Kronen – etwa 60’330 Franken – festgelegt) werden 20 Stunden externer Betreuung pro Kind kostenlos zur Verfügung gestellt.
  4. Die Regierung hat beschlossen, dass mit dem aktuellen Jahresbudget Krippen für Einkommensschwache noch zugänglicher werden sollen. Die Zahl der kostenlosen Kernstunden wurde von 12 auf 20 Stunden pro Woche ausgebaut. Ab dem Alter von zwei Jahren ist der Krippenbesuch für Kinder aus einkommensschwachen Familien kostenlos.

Das Krippenwesen lassen sich der norwegische Staat und die Gemeinden einiges kosten. Und die Ausgaben werden als langfristige Investition betrachtet: «In Norwegen kennen wir das Konzept vom tidlig innsats, also dem frühen Aufwand, um die Qualität von Krippen zu verbessern. Alle Kinder müssen Zugang zu einer sicheren Umgebung haben, um dort zu spielen, zu lernen und sich zu entwickeln.» Für Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus einkommensschwachen Familien würden die Krippen auch eine wichtige Rolle im Bereich sozialer Integration oder Spracherwerb spielen. «Deshalb brauchen wir hochwertige Kindertagesstätten mit ausreichendem und kompetentem Personal.»

Kluft zwischen den Regionen

Im Vergleich mit Norwegen sieht es mit Kinderkrippen in der Schweiz schlecht aus. Für Prisca Mattanza vom Verband Kinderbetreuung Schweiz ist das Problem eines ungenügenden Betreuungsangebots in der Schweiz vor allem ein regionales: «Aus den Versorgungszahlen des Jahres 2017 ist ersichtlich, dass es auf dem Land nach wie vor zu wenig Betreuungsplätze gibt. Ausserdem zeigt eine Elternbefragung des Bundes, dass rund 20 Prozent der Kinder im Vorschulalter trotz Bedarf der Eltern nicht im gewünschten Umfang betreut werden können.» Dabei sei das Stadt-Land-Gefälle enorm. Während die Stadt Zürich für 100 Kinder im Krippenalter 49 Pätze zur Verfügung halte, seien es im Kanton Appenzell Innerrhoden nur 3.

Auch zwischen den Sprachregionen besteht eine Kluft. «Die am besten versorgten Kantone sind Waadt, Neuenburg und Genf», erklärt Mattanza. Dort kämen auf 100 Kinder zwischen 26 und 29 Plätze. Die Werte seien aber mit Vorsicht zu geniessen. So seien Krippenplätze umso gefragter, je grösser das Angebot und je günstiger die Preise für die Eltern seien.

Eine Preisfrage

«Betrachtet man nur den durchschnittlichen Versorgungsgrad, steht die Schweiz international gar nicht so schlecht da», behauptet Christina Felfe, Professorin am Schweizerischen Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen. Lokal, so im Zürcher Kreis 8, gäbe es ein Überangebot an Betreuungsplätzen, mit denen die Nachfrage schlicht nicht mithalte. Als Folge würden dort Krippen geschlossen.
Ein Grund für die ungenügende Nachfrage ist allerdings bei den hohen Kosten zu finden. In einer von Felfe im Auftrag des Bundes mitverfassten Studie von 2017 werden die Kosten als einer der Hauptfaktoren genannt, welche die externe Betreuung von Kindern verhinderten. «Wenn ich in einer mittelgrossen Stadt in Deutschland mein Kind in der Krippe betreuen lasse, zahle ich vielleicht um die 275 Franken im Monat. In der Schweiz kann es schnell einmal das Zehnfache sein.» In Norwegen sind es durchschnittlich rund 310 Franken.
Mit den unterschiedlichen Kosten lassen sich auch die Unterschiede zwischen der Romandie und der Deutschschweiz zumindest teilweise erklären: Während in der Westschweiz von den Eltern etwa ein Drittel der Betreuungskosten getragen werden, ist es im deutschsprachigen Teil des Landes das Doppelte. Damit zahlen Schweizer Eltern im internationalen Vergleich extrem viel für die externe Betreuung ihrer Kinder. Und das, obwohl laut Felfe die Kosten für den Betrieb eines Betreuungsplatzes in der Schweiz kaufkraftbereinigt in etwa die gleichen seien wie in den Nachbarländern.

Dass die Versorgungslücken im Bereich bezahlbarer Betreuungsplätze im Norden eher geschlossen würden, hat für die Professorin Felfe mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen und dem Verständnis der Rolle des Staates zu tun: «Es gibt gesellschaftliche Hürden, welche die Nachfrage- wie auch die Angebotsseite einschränken.» So sei die Vorstellung, dass das Kind zuhause bei der Mutter zu sein habe, hierzulande stärker verbreitet. «In der Schweiz sind Kinder eine private Angelegenheit. Das wird in Skandinavien generell anders wahrgenommen. Ich würde sagen, dass man mehr subventionieren und weitere familienpolitische Massnahmen wie den Vaterschaftsurlaub einführen müsste, um einen Schritt nach vorne zu gehen. Die entscheidende Frage ist aber: Ist das gesellschaftlich überhaupt gewollt?»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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