Reiset um die Welt, solang sie noch nicht schmilzt *

Hanspeter Guggenbühl /  Wir reisen um die Wette, um den Klimawandel zu beobachten, den wir mit unserem Reisen verursachen. Eine Sommergeschichte.

Es ist heiss in Mitteleuropa. Drum ab in die Kühle. Also pedalen wir an einem sonnigen Ferientag von Oetz über Sölden hinauf aufs 2500 Meter hohe Timmelsjoch. Wir sind nicht die einzigen, die es in die Höhe zieht. Links überholen uns Kolonnen von Autos, viele mit auf dem Dach oder am Heck festgezurrten Velos und Elektrobikes, sozusagen Mehrfach-Mobile. Deren Tara übertrifft das Gewicht der transportierten Personen um ein Vielfaches. Wir hingegen, die ohne den Schub von Energiesklaven bergauf fahren, sind froh, dass unsere Velos samt Reisegepäck nicht mehr als zwölf Kilo wiegen.

30 Grad zeigt das Thermometer im Schatten, obwohl wir uns bereits auf tausend Meter über Meer befinden. Auf der Haut rinnt der Schweiss. Die Öztaler Alpen sind die am stärksten vergletscherte Gebirgsgruppe in Österreich, betont die Tourismuswerbung. Zumindest heute noch. Rechts rauscht die Ötztaler Ach. Autos rauf, Gletscher bachab, sinniert der schwitzende Radler. Höchste Zeit, die schmelzenden Gletscher noch zu besichtigen, bevor sie ganz verschwinden. Das ahnen wohl auch die motorisierten Bergtouristen. Dabei ist wohl nicht allen bewusst, dass sie mit dem CO2, das aus ihren Benzinkutschen entweicht, die Gletscherschmelze mit verursachen.

Wie lokal, so global

Was wir im Aufstieg zum Timmelsjoch als Momentaufnahme beobachten, spielt sich im grossen Ausmass weltweit ab:

o Der globale Autobestand wächst jährlich um drei bis vier Prozent und damit dreimal schneller als die Weltbevölkerung. 2017 verkehrten bereits 1,5 Milliarden Personenwagen** auf dem Globus.

o «Nie zuvor haben die Fluggesellschaften weltweit so viele Passagiere befördert wie 2017», meldet die Uno-Luftfahrtorganisation ICAO, «ihre Zahl stieg im Vergleich zu 2016 um 7,1 Prozent auf 4,1 Milliarden». Die gleiche Meldung, mit einer kleinen Abweichung der präzisen Prozentzahl, wird die ICAO 2019 veröffentlichen.
o «Die Nachfrage nach Kreuzfahrten ist weltweit stetig gewachsen», berichtet der Kreuzfahrtverband CLIA. Allein von 2016 auf 2017 stieg die Zahl der Passagiere auf 25,8 Millionen. Dazu kommt ein ebenfalls starkes Wachstum der Frachtschifffahrt.
CO2-Konzentration steigt und heizt
Im laufenden Jahr erreichte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre den höchsten Stand seit 800’000 Jahren, ermittelte die Klimabehörde der USA, also jenes Staates, der aus dem Klimabegrenzungs-Abkommen aussteigen will. Der Anteil des Verkehrs am globalen Ausstoss von CO2 und andern klimawirksamen Gasen beträgt heute bereits ein Viertel. Ein Grossteil des wachsenden Verkehrs entfällt auf Freizeitfahrten und Ferienreisen. Dabei klammern die Verträge zur Begrenzung der klimawirksamen Gase die Emissionen des internationalen Flug- und Schiffsverkehrs gütig aus.
Das Klima hat sich in den letzten 150 Jahren im globalen Durchschnitt bereits um ein Grad erwärmt, wobei die globale Temperatur in den letzten Jahrzehnten und Jahren besonders stark anstieg. Deutlich über dem globalen Durchschnitt bewegt sich die Klimaerwärmung in den Alpen (Schweiz: plus 2 Grad seit 1864), aber auch in der Arktis. Davon zeugen die schmelzenden Eismassen.
Im Flug und Schiff in die Natur
Zumindest in den Bereichen Kreuzfahrt- und Fernflug-Verkehr gibt es zuweilen eine aktive Verknüpfung zwischen Tourismus und Klimaschutz. Dazu nur drei Beispiele:

  • Die «Schweizer Familie» organisierte mehrere Leserreisen in die Arktis und Antarktis, 2015 mit der MS Fram und unter «Fachbegleitung» von «Solarpionier» Bertrand Piccard sowie Umweltphysiker und Klimaforscher Thomas Stocker. Mindestkosten inklusive Flüge von Zürich über Buenos Aires an die Südspitze Südamerikas und retour: Fr. 14’900 Franken. Angesprochen auf die damit verbundene Umweltbelastung sagte dazu Piccard in einem Voraus-Interview: «Umweltschutz heisst nicht, dass man aufhört zu leben, zu reisen und sich etwas zu gönnen.» Und Thomas Stocker erklärte gegenüber der «Weltwoche», er kompensiere seinen damit verursachten CO2-Ausstoss (rund fünf Tonnen CO2 allein für den Flug) durch Ablass bei Myclimate.
  • Der deutsche Klimaforscher Mojib Latif reiste ebenfalls mit der MS Fram und einer Reisegesellschaft über das Nordkap durch die Arktis nach Spitzbergen, um den Reisenden die Bedrohung des Klimawandels nahe zu bringen. Der Bericht des Norddeutschen Rundfunks über diese Reise endete mit den Worten: «Am Ende der Reise steigen der Klimaforscher und seine Reisegruppe aus Deutschland von Bord mit einem eigenartigen Gefühl der Verbundenheit. Sie alle durften eines der großen Naturparadiese betreten, von dem niemand genau weiß, wie sehr es sich in den nächsten Jahrzehnten verändern wird. Sie haben eine Vergnügungsreise hinter sich und müssen dennoch kein schlechtes Gewissen haben.»
  • Eine Miss Schweiz namens Jastina Doreen jettete laut «Blick» ferienhalber auf die Inseln Malediven im indischen Ozean und teilte von dort aus der in der Schweiz verbliebenen Leserschaft mit, nachdem sie ausgiebig Jet-Ski gefahren und geschnorchelt hatte: «Die Malediven sind durch den Klimawandel, der zur Steigung des Meeresspiegels führt, in Gefahr, irgendwann überflutet zu werden und unterzugehen. Ich finde das sehr traurig und schade.» Sie rufe deshalb jeden dazu auf, etwas zum Klimaschutz beizutragen. Sie selber tue es, indem sie im Alltag ihre Gipfeli «mit dem Einrad statt dem Auto hole».

Auf den Spuren von Geier Sturzflug
Die Velofahrenden, nachdem sie immer noch schwitzend das Timmelsjoch erklommen hatten, bekamen fast schon ein schlechtes Gewissen, als sie das lasen. Denn für den Aufstieg benötigten sie nicht nur ein Rad sondern zwei Räder. Aber immerhin müssen sie etwas weniger CO2 kompensieren als kreuzfahrende Klimaforscher und Milliarden von weiteren Touristen und Touristinnen, die sich leiten lassen vom – leicht abgewandelten – Titel des «Geier Sturzflug»-Songs von 1983: Reiset um die Welt, solange sie noch nicht geschmolzen ist.

**Nachtrag: «Ein bisschen Spass darf sein»

Nachdem er auf dem Velosattel vom Timmelsjoch in die Schweiz zurück gekehrt war, erfuhr der Reisende beim Lesen des Zürcher «Landboten» vom 4. August 2018: Unter den 1,5 Milliarden Autos, die auf dem Globus herumfahren, figuriert auch der «neue Jeep Grand Cherokee Trackhawk», den der Journalist Markus Cavelti den Leserinnen und Lesern unter dem Titel «Der Grizzly unter den Cherokees» empfahl. Zum Spritverbrauch des «2,4 Tonnen schweren Koloss», der sich «in nur 3,7 Sekunden von 0 auf Tempo 100» beschleunigen lässt und «ein Topspeed von 289 km/h» erreicht, schreibt Cavelti: «16,8 Liter pro gefahrene 100 Kilometer im Strassen-Mix stehen im Datenblatt. Wer den Grizzly reizt, schafft locker 10 Liter mehr. Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht. Aber Spass. Und ein bisschen Spass darf ja auch heute noch sein.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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4 Meinungen

  • am 5.08.2018 um 15:39 Uhr
    Permalink

    Interessanter Artikel. Weshalb verschweigt er, dass die landwirtschaftliche „Nutz“-Tierhaltung mehr CO2 produziert als der gesamte Verkehr? Bei der Recherche zu diesem Artikel muss der Autor zwangsläufig davon Kenntnis erlangt haben.
    Wir sollten beide anthropogenen Ursachen mit aller Entschiedenheit angehen. Jetzt! #nutztierhaltungabschaffen #govegan

  • am 6.08.2018 um 16:15 Uhr
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    "Wir reisen um die Wette, um den Klimawandel zu beobachten.» Ich gehöre definitiv nicht dazu. Forscher und Teilnehmer der diversen «Klimakonferenzen» reisen bekanntlich per Jet und nicht mit dem Fahrrad an. Da kann ich mir ruhig Gedanken über die Anschaffung eines Cherokees machen. Etwas Spass am Wochenende muss sein. Der Cherokee stösst in seinen 20 Jahren Lebensdauer wahrscheinlich weniger CO2 aus als ein Teilnehmer dieser Konferenzen für eine einzelne Reise «verbraucht». Herumjetten und den Rest der Bevölkerung zur Zurückhaltung im Gebrauch der Verkehrsmittel zwingen, das geht definitiv nicht.

  • am 8.08.2018 um 00:22 Uhr
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    Wer seit Längerem in keinem Flugzeug sass, ist bezüglich deren CO2-Emissionen «sauber». So die gängige «Logik». Vieles ist (sofern man gewillt ist, sich etwas näher darauf einzulassen) auf dieser Welt etwas ‹vertrackter›. Aber letztlich ebenso leicht erfassbar – sofern man gewillt ist, sich auf mehr als die Bestätigung seiner Vorurteile einzulassen.

    Es hiess einmal: «Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass es anders ist, als ich es mit meinen eigenen Augen beobachten kann: Die Sonne dreht sich um die Erde!» Heute weiss es jeder: Der Liebe beachtete dabei nicht, dass sich die Erde auch um ihre eigene Achse drehen könnte – und auch macht.

    Zum Flugverkehr: Natürlich bin ich ein Flugverkehr-CO2-Emittent auch wenn meine Wenigkeit kein Flugzeug von innen zu Gesicht bekommt! Nämlich dann, wenn ich mir – was bei ‹uns Westlern› unweigerlich der Fall sein wird – allerlei Dinge aus aller Welt einfliegen lasse (in die Regale oder nach Hause).
    Deshalb: Mein Fussabdruck (bzgl. CO2, Ressourcenverbrauch, Umweltzerstörung, Ausbeutung von Menschen, Elend künftigen Generationen, Artensterben usw.) entspricht etwa meinen jährlichen Ausgaben (Konsum, Miete, Steuern).
    Wer hier noch Details debattiert, betreibt Augenwischerei und Selbstverblendung.

    @Meier: Meister der Selbstverbendung. Ein Cherokee stösst in 1 Jahr (10’000 km) soviel CO2 aus wie 1 Überseeflugreise (retour). Wird neben Treibstoff auch die Vehikelherstellung & Infrastruktur einbezogen sieht noch düsterer aus.

  • am 9.08.2018 um 11:20 Uhr
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    @Kurz – Nun, da ich nur alle Jahrzehnte mal nach Übersee verreise, kann ich ohne schlechtes Gewissen weiter mit meinem Oldtimer – meistens zu zweit – rumkurven (kein Cherokee).

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