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Die Entführung der Europa: Das Gemälde von Felix Vallotton ist in der Ausstellung zu sehen © Kunstmuseum Bern

Zürich zeigt «Europa als Kunstwerk»

Jürg Müller-Muralt /  Während «EU» und «Krise» im Sprachgebrauch langsam zu Synonymen werden, wirft das Kunsthaus Zürich einen weiten Blick auf Europa.

Einen brisanteren Zeitpunkt hätte sich das Kunsthaus Zürich wohl nicht aussuchen können: Mitten in der vielleicht dramatischsten Krise der Europäischen Union zeigt der Kulturtempel eine Ausstellung unter dem wohl bewusst mehrdeutig gehaltenen Titel «Europa. Die Zukunft der Geschichte». Man muss gleich zu Beginn warnen: Wer eine gefällig-eingängige, chronologisch gegliederte oder thematisch streng fokussierte Ausstellung erwartet, wird enttäuscht sein. Auch wer eine Länderschau oder einen Überblick über das europäische Kunstschaffen sehen möchte, sollte nicht hingehen. Und wer nur eine einzige Kunstgattung – also beispielsweise Bilder – bevorzugt, ist auch schlecht bedient.

Die Bilder im Kopf

Die Schau versteht sich als eine «Ausstellung zu Europa in der Kunst»: Über 100 Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Videos und Installationen von rund 60 vorwiegend modernen und zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern treffen auf literarische und politische Aussagen bekannter Persönlichkeiten. Man trifft auf eine Art inszeniertes Zwiegespräch zwischen Kunst und Politik. Wir alle haben ja Bilder im Kopf, geprägt vom Geschichtsunterricht oder aktuellen Ereignissen, die in unserem Gedächtnis haften bleiben: jahrhundertelange Kriege, das mörderische 20. Jahrhundert oder die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten, der Fall der Berliner Mauer oder die Fussball-Europameisterschaften. Es gibt – triviale Feststellung – nicht nur ein gültiges, alles überstrahlendes Bild von Europa.

Kein roter Faden, aber ein Befund

Deshalb macht die Ausstellung auch nicht den Fehler, einen klar erkennbaren roten Faden auszulegen. Man kann das als Mangel sehen. Der Vorteil liegt allerdings darin, dass dadurch die Klischee-Falle umgangen wird, es werden keine scheinklaren Aussagen nach dem Motto gemacht: Seht her, das ist Europa! Was nicht heisst, dass sich die Ausstellung im thematischen Niemandsland bewegt. Die Kuratorin Cathérine Hug und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der das Projekt begleitet, legen der Ausstellung durchaus einen politischen Befund zugrunde: Der erstmals fast durchwegs demokratisch verfasste Kontinent gerät zunehmend in die Krise. Die Bürgerinnen und Bürger empfinden in dem sich politisch, wirtschaftlich und informationstechnisch immer stärker vernetzenden Europa zunehmend Demokratiedefizite und reagieren darauf mit einem Rückzug aufs Nationale – obschon immer weniger Probleme rein nationalstaatlich gelöst werden können. Deshalb reicht der Spannungsbogen der Ausstellung denn auch vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, vom Zeitalter der Nationalstaatenbildung bis in die post-nationale Interdependenz der Gegenwart.

Vielfalt der Ausdrucksformen

Obschon die Ausstellungsmacher also von einem historisch-politischen Befund ausgehen, werden die Besucherinnen und Besucher nicht in aufdringlicher volkspädagogischer Absicht an der Hand genommen. Es steht zwar ein hervorragender Audioguide zur Verfügung, aber die Ausstellung hat etwas sympathisch Impressionistisches, ja Anarchisches. Zum einen entsteht dieser Eindruck durch die Raumaufteilung: Man kann/muss den Weg durch die gassen- und platzähnlichen Räume selbstständig wählen, es gibt keine zwingende Richtung. Und zum andern durch die verwirrend unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen: Vom klassischen Gemälde über Videos bis hin zu Installationen aller Art, teilweise speziell für diese Ausstellung geschaffen.

Bekanntes und Experimentelles

Die enorme Bandbreite der Exponate hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber einer Ausstellung, die nur eine Kunstgattung (beispielsweise Gemälde) zeigt: Man muss sich ständig auf völlig unterschiedliche Ausdrucksformen einstellen, muss die Sehweise anpassen. Das ist weniger eintönig, man bleibt länger fasziniert und damit auch länger in der Ausstellung. Es ist nicht dasselbe, ob man Paul Klees subtile Zeichnungen mit Gewaltdarstellungen unter dem Eindruck der sich installierenden nationalsozialistischen Diktatur aus dem Jahr 1933 betrachtet oder die raumfüllende Installation mit dem Titel «Dérouler le tapis rouge», die einen Wagen mit dem berühmten, teilweise abgerollten roten Teppich zeigt. Man darf sich zwischenhinein auch fragen, was das mit Europa zu tun hat. Es ist nicht bei allen Exponaten so eindeutig wie bei den politischen Karikaturen von Honoré Daumier, oder bei Remco Torenbosch, der sich künstlerisch mit der Europaflagge auseinandersetzt. Auch bei einem helvetischen Klassiker, Rudolf Kollers «Gotthardpost» von 1873, die man wieder einmal im Original betrachten kann, wird den meisten der europarelevante Zusammenhang ohne intellektuelle Sonderanstrengungen klar werden.

Es fehlt auch nicht die künstlerische Auseinandersetzung mit dem alt-griechischen Mythos der Entführung Europas durch den Göttervater Zeus, und zwar gleich in der Interpretation durch drei Künstler. In ein harmlos bebildertes Mythen- und Geschichtsbuch rutscht die Schau jedoch nie ab. Das zeigt sich etwa im subtilen und geradezu poetischen Animationsfilm von Simona Koch, die sich mit den Grenzziehungen in Europa vom Jahr null bis heute auseinandersetzt. Oder bei einer nicht minder nachdenklich stimmenden Installation mit Zitaten des Schriftstellers Stefan Zweig. Zweig war der literarische Vertreter eines weltoffenen, kulturell und intellektuell vernetzten Europas sui generis, ein Warner vor den Gefahren des Nationalismus; 1942 trieb ihn die Verzweiflung über den Untergang Europas durch Nationalsozialismus und Krieg im Exil in Brasilien in den Suizid. Die Künstlerin Nives Widauer montiert Zitate aus Zweigs Autobiografie «Die Welt von gestern» in Muster aus einem Tapetenmusterbuch von 1930, «als Sinnbild der häuslichen Scheinheiligkeit in einer wachsend autoritären Gesellschaft». Sie bezeichnet die Gegenüberstellung von Zitaten und Tapetenmuster als Zeugen «des Gleichgewichtsverlustes der zivilen Gesellschaft in Europa.»

«Kriminalgeschichte des Nationalismus» als Leitfaden

Unbedingt leisten sollte man sich, trotz des Preises von 50 Franken, den Ausstellungskatalog; er ist sehr viel mehr als nur aufwändiges Beiwerk. Es finden sich darin hochkarätige, eigenständige Textbeiträge zwischen Kunstreflexion und Politik, verfasst von namhaften Autorinnen und Autoren. Der zweite Teil bietet eine hervorragend interpretierende Zusammenstellung der ausgestellten Werke. In diesem Katalog findet man auch Hinweise auf die Auswahlkriterien der Exponate: «Bei der Auswahl der Kunstwerke sind wir schliesslich sowohl pragmatisch als auch intuitiv vorgegangen, aber immer mit diesem Anspruch: Das jeweilige Werk muss etwas aussagen oder zeigen, was signifikant ist für die europäische Geschichte», schreibt die Kuratorin Cathérine Hug. Der Schriftsteller Robert Menasse findet es gar «ein politisches Kunstwerk, Staaten dazu zu verpflichten, ihre Nationalstaatlichkeit zu überwinden und eine neue, nie zuvor dagewesene Form von gemeinsamer Staatlichkeit zu entwickeln.» Als «die wirklichen Künstler in diesem Sinne» bezeichnet Menasse die Europa-Väter Jean Monnet, Robert Schumann, Walter Hallstein oder Jacques Delors. «Die heutigen politischen Eliten in Europa sind nicht einmal Epigonen, sie sind Fälscher. Aber das ändert nichts daran, dass wir Europa heute als Kunstwerk bestaunen können: Als Verbindung von Nationalstaaten zur Überwindung der Nationalstaaten.»

Das sind einerseits sehr deutliche Worte («Fälscher»), aber anderseits erscheint die Rede von einem «Europa als Kunstwerk» angesichts der grossen Krise rund um Griechenland und den Euro sowie der Zerreissprobe innerhalb der EU doch als sehr gewagter Euphemismus. Doch Robert Menasse fordert das, was auch die Ausstellung nahelegt: Einen Schritt zurücktreten, um das grosse Ganze zu sehen: «Gerade Europa, als Idee und als Projekt, erfordert eine Weitwinkelperspektive, die viele Europäer nicht mehr haben, weil sie mit der Nase immer nur auf aktuelle Symptome der europäischen Transformationskrise stossen. Transformationskrisen sind normal, das Wesentliche ist die Transformation als Ganze.» Die Ausstellung, so schreibt Menasse, zeige die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als «Kriminalgeschichte des Nationalismus», die «vernünftigerweise in eine transnationale und nachnationale Entwicklung münden muss.»

Abwendung von Europa

Wie «vernünftig» Europas weitere Geschichte verlaufen wird, ist ungewisser denn je. Das rechte Programm zur Renationalisierung Europas wabert seit einigen Jahren in unterschiedlicher Ausprägung durch die europäische Politik. Auf allen Seiten dominieren – anschaulich in der Griechenland-Krise und in der Migrationspolitik – nationale Egoismen und nationalistische Reflexe. Nun wenden sich selbst bisherige EU-Sympathisanten und Linke in einem eigenartigen gedanklichen Kurzschluss angewidert von Europa ab, angefeuert beispielsweise vom notorischen EU-Skeptiker und früheren SP-Nationalrat Rudolf H. Strahm, der das «Friedensprojekt, das sie (die EU, jm) zu Beginn war» auf den Misthaufen der Geschichte entsorgt, und die EU polemisch als «Organisation zur Verteidigung von europäischen Konzerninteressen» bezeichnet («Bund»-online 06.07.2015). Wer die EU nur als «neoliberales Projekt» sieht, blendet mutwillig alle ihre zahlreichen anderen Facetten aus und ignoriert die einzige bestehende institutionelle Möglichkeit, die die Auswirkungen von Globalisierung und Deregulierung wieder unter demokratische Kontrolle zu bringen vermöchte. Die Kritik wäre an die politischen Eliten der Mitgliedstaaten zu richten; sie bestimmen den Kurs, das hat gerade die Griechenland-Krise wohl deutlich genug gezeigt.

Dieter Freiburghaus, früherer Professor für europäische Studien an der Universität Lausanne und einer der besten Kenner der europäischen Integration, schreibt in der «NZZ am Sonntag» (12.07.2015): «Alle (EU-Staaten, jm) wissen, dass die Einzelstaaten keines der anstehenden Probleme allein besser lösen könnten als im EU-Verbund, und alle sind sich bewusst, dass ein Europa der Nationalstaaten diesen Kontinent weltpolitisch und ökonomisch ins Abseits manövrieren würde.» Auch die «Wochenzeitung WOZ» (09.07.2015) bringt es auf den Punkt: «Wer für die EU plädiert, braucht deshalb jedoch noch lange nicht ihr Demokratiedefizit kleinzureden oder die bürgerliche Politik ihrer Mitgliedsregierungen zu bejubeln. Oder haben jemals progressive Kräfte in der Schweiz die Zerschlagung des modernen Bundesstaats verlangt, nur weil die Mehrheit seit je eine hurrapatriotische Wirtschaftspolitik verfolgt?»

Ort der Reflexion

In der Ausstellung im Zürcher Kunsthaus wird die europapolitische Debatte natürlich nicht derart explizit geführt. Aber sie bietet einen Ort der Reflexion zu europäischen Themen. Und sie ist wohl eine der politischsten Ausstellungen, die dieser Musentempel je gezeigt hat. Im Ausstellungskatalog wird gar ein «Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik» publiziert. Die EU, heisst es dort, «das ist die Avantgarde. Der Idee nach. Doch die Nationalstaaten sind noch immer das Problem, sie stehen zwischen dem Bürger und der europäischen Demokratie. (…) Die Souveränität der Nationalstaaten ist die Illusion, an der Europa (wieder) krankt.»

Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich dauert noch bis zum 6. September 2015.

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 17.07.2015 um 19:28 Uhr
    Permalink

    Immerhin amüsant, dass die «Europa» in diesem Artikel eine Blondine ist.

    Sollte sich Zeus etwas mehr in nördlichen Gefilden herumtreiben ?

    Immerhin gab es damals noch keine «Schlepper» und auch keine Euro-Vögte. Damals war die Welt also noch fast in Ordnung. Wenigstens in der imaginären Welt unserer Politiker.

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