Sprachlupe: Schicksale vereinen Mensch und Buch

Daniel Goldstein /  Büchern werden menschliche Eigenschaften zugeschrieben – und umgekehrt. Leute machen Bücher – und vice versa. Was ist da los?

Menschen und Bücher haben mehr gemeinsam als das Offensichtliche, dass Bücher von Menschen geschrieben und gelesen werden. Das Medium und seine Bezugspersonen können Schicksalsgemeinschaften bilden – sei es beim Schreiben, indem das Buch das eigene Leben reflektiert und, einmal geschrieben, aufs Leben zurückwirkt, oder sei es, dass das Buch diese Wirkung bei jenen entfaltet, die es zur Hand nehmen. Es wäre noch zu erforschen, ob solch vertieftes Erleben wahrscheinlicher ist, wenn man ein gedrucktes Buch er- und begreift, als wenn man seinen Inhalt auf einem Bildschirm zur Kenntnis nimmt.
«Ihre Schicksale» haben nach einem geflügelten lateinischen Wort die Bücher selber. Sich vorzustellen, was ein älteres Buch schon alles erlebt hat oder ein neueres noch erleben könnte, beflügelt die Fantasie. Man kann das Schicksal mit etwas Glück verfolgen, wenn man ein Buch mit einem Code von Bookcrossing.com versieht und es aussetzt. Der spätantike Gelehrte Terentianus Maurus, von dem das geflügelte Wort stammt, münzte es allerdings nicht auf die Lebensläufe einzelner Exemplare; es ging ihm darum, wie der Inhalt ankommt, nämlich «je nach Auffassungsgabe des Lesers», vor allem des Kritikers. Im aktuellen «Sprachspiegel» beleuchtet der Altphilologe Klaus Bartels diese Herkunft.
Und das Wort ward Fleisch
Nicht nur das Schicksalhafte, auch das Körperhafte verbindet Menschen und Bücher. Im gleichen Heft schreibt Claudia Engler, die Direktorin der Burgerbibliothek Bern: «Der Buchkörper hat einen Rücken, einen Kopf, einen Fuss und ein Gelenk. Diese Metaphorik überträgt sich selbst auf elektronische Dokumente. Diese haben weiterhin Kopfzeilen und Fussnoten und erkranken an Viren.» Und so wird auch das Lesen als leiblicher Vorgang beschrieben: «Aus Erkenntnishunger und Wissensdurst wird ein Buch verschlungen, auf Ausdrücken wird herumgekaut; Texte sind geistige Nahrung, aber man kann sich an ihnen übersättigen und manchmal sind sie schwer verdaulich.»
Die Autorin führt solche Bilder auf die christliche Metaphorik zurück: «Und das Wort ward Fleisch» (Joh 1,14). Der Leib Christi wiederum wird im Abendmahl verzehrt; ob symbolisch oder dank der Wandlung, kann hier dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall handfest ist der Vorgang, bei dem aus Tierhäuten Pergament entsteht und Leder, um die Blätter zum kostbaren Buch zu binden. Auch auf lebende menschliche Haut wird geschrieben, einmal vom Leben selbst, das Spuren hinterlässt, auch durch (Selbst-)Verletzungen, die wiederum oft ein literarisches Motiv bilden. Und schliesslich verweist Engler auf Tätowierungen, in denen gemäss manchen Theorien «geradewegs der Ursprung der Schriftkultur angelegt sei».
Bis zum bitteren Ende
Bücher und Büchereien sowie die Menschen, denen sie anvertraut sind, bilden ebenfalls nicht selten literarische Motive, etwa in Werken von Elias Canetti, Umberto Eco oder Carlos Ruiz Zafón. Eine Steigerungsform ist es, wenn ein Buch seine eigene Geschichte erzählt, ja zum Romanhelden wird wie «Abbitte» von Ian McEwan oder «Die Wahrheit über den Fall Harry Québert» von Joël Dicker. Und neuerdings kann man eine nahezu reale Person mit einigen Mausklicks in ein (Märchen-)Buch einfügen, auf Librio.com.
Im Leben ein neues Kapitel aufschlagen, das möchten viele. Manche sind selber ein Buch – eines mit sieben Siegeln zum Beispiel. Oder aber man kann in jemandem lesen wie in einem offenen Buch. Bevor es so weit ist, wenn wir noch nichts wissen über eine Person, ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Beginnt sie sich zu offenbaren, dann redet sie vielleicht wie ein Buch, womit mehr die Quantität als die Qualität gemeint ist – es sei denn, sie rede druckreif. Umgekehrt kann den Menschen wohl schon bald nicht nur auf, sondern unter die Haut geschrieben werden: durch Manipulation des Erbguts. Die Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Buch kann seit Langem sogar lebensgefährlich werden, wie Heinrich Heine warnte: «Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.»
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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