Kommentar

Sprachlust: Vom Popel- und vom Sprachplaisir

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  Wem Dornhöschenschlaf widerfährt, der neigt nicht zur Frühlichkeit. Wem das spanisch vorkommt, der kennt Ben Schotts Deutsch nicht.

Haben Sie schon einmal Popelplaisir empfunden? Wenn ja, dann könnte Ihnen auch das Buch gefallen, aus dem dieses Wort stammt, denn es zeigt keinerlei sprachliche Berührungsängste: «Schottenfreude», erschienen 2013 bei Knaus und benannt nach seinem englischen Autor Ben Schott. Der macht sich die Eigenschaft der deutschen Sprache zunutze, durch Zusammenfügen neue Wörter zu bilden «für jegliche Idee, die sich ausdrücken lässt». So wird ein 1835 erschienenes Buch des deutsch-amerikanischen Gelehrten Karl Follen zitiert, dazu aber auch Mark Twains Spott über die «alphabetischen Prozessionen» («Die schreckliche deutsche Sprache», 1880).
Etliche deutsche Zusammensetzungen sind den Angelsachsen so nützlich erschienen, dass sie sie ins Englische aufgenommen haben; zu den bekanntesten zählen zeitgeist und kindergarten, weltschmerz und schadenfreude. Letztere hat offenbar den Buchtitel inspiriert, zumal sie sich fast gleich anhört wie «Schottenfreude» in amerikanischer Aussprache. Leider ist der Titel für die deutsche Übersetzung beibehalten worden, obwohl er in die Irre führt: Ben Schott macht weder irgendwelche Schotten lustvoll dicht, noch zeigt er freudig «schottische» Knausrigkeit.
Frühliche Fussnoten
Vielmehr geht der Autor geradezu verschwenderisch um mit dem sprachlichen Einfallsreichtum, der die Angelsachsen auszeichnet und von dem wir Deutschsprachigen uns manche Scheibe abschneiden könnten. Dass sich Deutsch prima dazu eignet, zeigt Schott an 120 Wortkreationen, zuweilen auch ohne körperliche Berührungsängste. So beim «Stuhlgangsgenuss» (bei Verrichtung, nicht etwa Verzehr, wie aus der mitgelieferten Erklärung hervorgeht). Eher verkrampft mutet dagegen die «Intimbereichsverkampfung», die man angeblich beim Eintauchen ins kalte Wasser empfindet.
Zu übersetzen gab es bei diesem Buch natürlich nicht die Wortschöpfungen selber, wohl aber die Erklärungen dazu, die meistens die Form eines kleinen wissenschaftlichen Apparats annehmen – manchmal könnte man ihn für frei erfunden halten, aber Stichproben zeigen, dass wohl alles seine Richtigkeit hat. So werden Karthäuser als frühes Beispiel für «Frühlichkeit» zitiert, für die Hochstimmung des Frühaufstehers. Diese schwindet aber rasch, weil sie das ist, «was die Ökonomen einen ‹fallenden Vermögenswert› nennen»: bald dahin, wenn die andern auch aufgestanden sind.
Achtung Dornhöschen!
Nicht immer kann der Autor mit solch gelungenen Wortspielen aufwarten, zu denen auch etwa der «Dornhöschenschlaf» gehört (vorgetäuscht, «um nicht mit jemandem schlafen zu müssen»). Zuweilen kann er der Versuchung nicht widerstehen, «alphabetische Prozes­sionen» aufzutischen wie den «Kraftfahrzeugsinnenausstattungneugeruchsgenuss». Immerhin erfährt man, dass der gewissen Chemikalien namens VOC zu verdanken ist und von einem Romanhelden kurz vor dem tödlichen Unfall als «Geruch der Freiheit» gepriesen ward. Eher gewagt ist die (ausnahmsweise unbelegte) Behauptung, in den 1970er- und 1980er-Jahren habe man «auf deutschen Schulhöfen» das Wort «Irreaffentittenturbosuperdupertyp» hören können.
Wissenschaftliche oder literarische Exkurse machen einen nicht geringen Teil des Vergnügens aus, das Ben Schotts Erfindungen bereiten können. Wüssten Sie sonst, welche Gehirnareale bei der Erinnerung an den ersten Kuss («Lippenhaftung») mitspielen, oder was Jean-Paul Sartre und die Sterbehilfevereinigung Dignitas zur «Abgrundanziehung» zu sagen haben? Oder kämen Ihnen auf Anhieb 30 weitere Verrichtungen neben dem Nasenbohren in den Sinn, die ebenfalls so etwas wie Popelplaisir bescheren können? Ein Vergnügen, das noch dadurch gewinnt, dass sich der Autor nicht an die eingedeutschte Duden-Schreibweise «Pläsier» hält.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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