Jauchzet, frohlocket: Gerhard Schröder ist wieder da!
Red. Ulrike Posche ist eine renommierte deutsche Autorin und Politikbeobachterin. Sie schrieb drei Jahrzehnte lang für das Magazin «Stern».
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Genau eine Woche vor Heiligabend schlug in einem kargen TV-Studio die deutsche Sozialdemokratie wieder die Augen auf. Gut zwanzig Jahre lang hatte sie wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarg geschlafen, dann flog ihr plötzlich der vergiftete Apfel aus dem Hals, und sie lebte neu auf.
Mittwochmorgen, 7 Uhr 41 in Berlin: Mitten im Interview zur Reform des ungeliebten «Bürgergeld»-Gesetzes sprach die SPD-Vorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas, 57, Worte, die alle Beobachter, die seit Jahr und Tag das politische Treiben in Berlin und zuvor in Bonn verfolgt hatten, jäh aufzucken liessen: «Wir wollen fordern, aber auch fördern!» In diesem Moment stieg Gerhard Schröder märchenhaft aus dem gläsernen Sarg!
Sozialreform «Agenda 2010»
Es ist mehr als 23 Jahre her, dass der damalige Kanzler mit einigem Mut und entgegen dem Rat der meisten seiner Genossen ein Reformprogramm durchgesetzt hatte, das unter dem Motto «Fordern und Fördern» stand. Es sollte die ultimative Reform sowohl des Arbeitsmarkts als auch des Sozialsystems werden. «Agenda 2010» nannte er das Projekt, das schnell jenseits der deutschen Grenzen als Jahrhundertreform galt – und noch heute gilt. Nur in seinem eigenen Land, wo sie in Gestalt des so genannten «Hartz IV» Gesetzes am 1. Januar 2005 in Kraft trat, blieb die Reform des möglicherweise erfolgreichsten SPD-Kanzlers zumindest – umstritten.
Nein, sie war regelrecht verhasst. Sie galt als ungerecht gegenüber jenen Arbeitnehmern, die jahrelang in die Sozialsysteme eingezahlt hatten, und nun als Arbeitslose solchen Menschen finanziell gleichgestellt wurden, die nie gearbeitet hatten. Arbeitslosenhilfe war nun gleich Sozialhilfe. Mit der «Agenda 2010» kamen auch die verhassten Wortgetüme «Hartzen», «Ich-AG», «Bedarfs-Gemeinschaft» und «Mini-Job» in unseren Wortschatz. Und was von Kanzler Schröder als grosse Erneuerung, die das Land in eine sichere und prosperierende Zukunft führen sollte, geplant war; ausgerechnet das geriet ihm selbst zum kleinen Desaster.
Abkehr von der SPD
Die Unzufriedenheit seiner eigenen Wählerschaft, das Ignorieren des Aufschwungs – immerhin reduzierte sich die Zahl der Arbeitslosen in kürzester Zeit um nahezu zwei Millionen – sie führten immer stärker zur Abkehr von der SPD. Von jener etwas gestrig anmutenden Kümmerer-Partei, die schon von je her etwas sozialer, etwas nachsichtiger und vielleicht auch empathischer getickt hatte als die anderen – aber eben auch nie sehr modern, oder gar visionär wirkte.
Besonders mütterlich und realitätsfern wirkte sie gegen jene, die bei Wahlen mit Slogans wie «Leistung muss sich wieder lohnen» punkten wollten. Die SPD war in den Nullerjahren eine Partei, die den Schuss nicht richtig gehört hatte. Einen Schuss, dessen Druckwelle erst viele Jahre später so richtig vorm Trommelfell knallte.
Angela Merkel übernimmt
Schröders Hartz-Gesetz, das kann man heute wohl sagen, war nicht nur das Ende der Rot-Grünen Bundesregierung, es war auch das Ende einer beherzten, sich den Zeiten stellenden Sozialdemokratie. In der Ära Merkel, die sich zumeist aus den Entscheidungen Grosser Koalitionen aus CDU und SPD speiste, setzte sich die Kritik an Schröders hartherzigen Regelungen unter der Oberfläche fort.
Kanzlerin Merkel selbst indes wurde nicht müde, die Reformen ihres Vorgängers zu loben. Oftmals nutzte sie einen etwas sperrigen Satz, den sie auf einer USA-Reise gelernt hatte: «There is no such thing as a free lunch.» Im Grunde war das nur das Schröder’sche Diktum «Fordern und Fördern» mit anderen, kosmopolitisch tönenden Worten.
Glücklose Andrea Nahles
Sozialdemokraten – das sind und waren ja oftmals PolitikerInnen, die einem humanistischen Menschenbild folgten; die den Menschen eher als prinzipiell gutes und selbstbestimmtes Wesen sahen, das verantwortlich und sozial handelte. Dabei hätte die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (2013-2017) als ehemalige Generalsekretärin ihrer Alpharüden-Partei (2009-2013) eigentlich wissen können, dass Menschen nicht per se nur gut und sozial sind.
Später wurde sie SPD-Parteivorsitzende und man kann sagen: Keine wurde von den eigenen Leuten je so herzlos aus dem Job gejagt. Aber das nur am Rande. Andrea Nahles ist heute zuständig für die Zahlung des Bürgergelds. Sie leitet die Bundeszentrale für Arbeit mit ihren 404 Jobcentern – die undankbarste Aufgabe nach der, die Sisyphos einst innehatte.
Das «Bürgergeld»
Mit der Ampel-Regierung (2021-2024) unter dem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz brach dann endlich der Wunsch nach «Gerechtigkeit», nach «alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt» mit voller Wucht aus. Unter dem sanften Flügel des Arbeits- und Sozialministers Hubertus Heil entstand das «Bürgergeld»-Gesetz für alle Brüder und Schwestern, das am 1. Januar 2023 eingeführt wurde.
Und was geschah?
Statt der erwarteten «Halleluja»-Rufe schlug den Regierenden Unmut und Entsetzen entgegen. Nicht von denen, die nun «Bürgergeld-Empfänger» oder «Aufstocker» hiessen, sondern von denen, die mit ihrer Arbeit ebenso viel (oder wenig, je nach dem) verdienten, wie die, die ihr Geld ganz easy online beim Jobcenter beantragt hatten.
Und damit sind natürlich nicht jene gemeint, die aus psychischen oder physischen Gründen gar nicht in der Lage sind, zu arbeiten. Sind nicht Kranke und Langzeitarbeitslose gemeint, die mit allen sozialen Errungenschaften dieses so reichen Landes unterstützt werden müssen! Aber man hörte eben auch von Handwerkern, von Arbeitern auf dem Bau und Menschen in der Gastronomie, die mit einem fröhlichen «Seh‘ ich doch gar nicht ein!» ihren festen Job kündigten und sich das Geld fortan vom Staat zahlen liessen. Dass man nebenher noch ein bisschen schwarz on top verdiente, musste ja niemand erfahren.
Bürgergeld, Kindergeld, Wohngeld
Anerkannte Flüchtlinge hatten mit Bürgergeld, Kindergeld und Wohngeld auf einmal mehr im Portemonnaie als betagte Witwen mit winzigster Rente. Die 1,3 Millionen geflüchteten Ukrainer erhielten die deutsche Staatshilfe schon mal sowieso. Und viele – vor allem osteuropäische – Migranten hatten schnell raus, wie sie das System so
nutzen konnten, dass auch der ganze Clan etwas davon hatte. Bürgermeister schlugen Alarm, Kommunen kamen mit den Ausgaben nicht nach. Insgesamt 47 Milliarden Euro (44 Milliarden CHF) zahlt der deutsche Staat im Jahr seinen Bürgergeld-Empfängern, das ist soviel wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Portugal, oder Neuseeland.
Beinahe am lautesten klagte deshalb der SPD-Bürgermeister Sören Link aus Duisburg über Missbrauch und Irrsinn des Gesetzes. Er liess keine Talkshow aus, in der er nicht von Sozialbetrugs-Fällen in seiner Stadt berichten konnte: «Ich bin Mitglied der Partei der Arbeit geworden, bin für soziale Gerechtigkeit. Ich habe keine Lust, verarscht und beschissen zu werden. Aber das ist genau das, was passiert.»
Das hörten sie dann auch in Berlin. Und riefen Hubertus Heil, jenem Arbeitsminister, der das Gesetz vorangetrieben hatte, das schöne Bonmot nach: «Gut gemeint ist nicht gut gemacht!» Im übertragenen Sinne natürlich. Politik ist ja immer irgendwie auch Trial & Error.
«Gut gemeint ist nicht gut gemacht!»
Die derzeitige Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas stammt übrigens auch aus der Ruhrgebiets-Stadt Duisburg, einer der eher ärmeren im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Und wenngleich sie sich anfangs gegen Veränderungen und Kürzungen beim Bürgergeld gesperrt hatte («Bullshit»), erkannte sie am Ende wohl auch unter dem sanften Druck der Schwesternpartei CDU: Es muss sich etwas ändern!
Seit acht Monaten regieren bekanntlich nun die anderen. Also vor allem Friedrich Merz und die CDU, ein bisschen auch Lars Klingbeil und Bärbel Bas, und deshalb ist das Bürgergeld nun Geschichte. Bald soll bedürftigen Bürgern eine Grundsicherung zustehen, wenn sie nicht arbeiten können – nicht aber, wenn sie nicht arbeiten wollen. Die Genossen haben sich daran erinnert, dass menschlich sein eben auch heisst, dass der Mensch befähigt werden soll, mit eigenem Streben sein Leben eigenständig zu gestalten. Oder wie es der Dichter des Humanismus, Friedrich Schiller, sagte: «Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blösse bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.»
Wie kamen wir nochmal drauf?
Genau: Am 17. Dezember 2025 im ARD-Morgenmagazin: Die in Lila, der liturgischen Farbe für Busse und Umkehr gewandete Arbeitsministerin Bas sagt mit fester Stimme: «Wir wollen fordern, aber auch fördern!» Es war der Moment, in dem die Sozialdemokratische Partei Gerhard Schröders wieder die Augen aufschlug. Jauchzet, frohlocket! Er ist wieder da!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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