Der Filmjournalismus ersäuft sich selbst im Star-Fetischismus
Angesagt war eine Diskussion unter dem Titel: «Filmfestivals ohne Filmkritik?» Eine gute Frage, denn seit einiger Zeit kann man feststellen, dass bei Festivals in unseren Medien mehr darüber berichtet wird, welche Drinks gerade gefragt sind, wer sich auf dem Set in wen verliebt haben soll oder welche durchsichtige Starrobe am meisten Skandal gemacht hat – und dies selbst auf Feuilletonseiten.
Die Expertenrunde in Locarno bringt es dann allerdings fertig, drei Viertel der zur Verfügung stehenden Zeit über den Umstand zu jammern, dass die Stars an den grossen Festivals keine Interviews mehr geben wollen. Ist dies denn wirklich das echte Problem des anspruchsvollen Filmjournalismus? Es braucht die Intervention eines Besuchers, der den Verlust der Auseinandersetzung mit Inhalten beklagt, dass zum Schluss dann doch noch die offensichtliche Medienkrise zum Thema wird.
Der grosse Druck, mehr Mainstream zu machen
Denise Bucher, Filmredaktorin bei der «NZZ am Sonntag» und Präsidentin des organisierenden Verbandes der Schweizer Filmjournalisten, bestätigt den massiven Druck von oben in den Redaktionen, mehr Mainstream zu machen. «Es wird viel, viel mehr reingeredet als früher. Das hat extrem zugenommen.» Man müsse über Netflix-Serien schreiben, mit denen man überschwemmt werde, statt über Kinofilme berichten zu können, die viel hochwertiger seien. «Das Grundproblem ist: Alles hat sich in Richtung Promotion verlagert.» Film werde nicht mehr als Kunst wahrgenommen, sondern nur als Magnet für Kinoeintritte. «Die Redaktionen wollen ja vor allem Starinterviews.»

Das Stockholm-Syndrom des Filmjournalismus
Die Situation ist paradox. Alle ernsthaften Filmkritiker leiden unter diesem reduktionistischen Zwang in der Medienlandschaft. Viele wirken aber gleichzeitig wie in Geiselhaft dieses Star-Fetischismus. Und jetzt geht auch noch dieses fragwürdige Geschäftsmodell den Bach runter. Patrick Wellinski vom «Deutschlandfunk» bekennt, dass 80 Prozent seiner Arbeit aus Star-Interviews bestehe. Und wenn man hört, wie es heute dabei zugeht, kann man sich nur wundern, dass Profis da überhaupt noch mitmachen.
Denn das Setting an grossen Festivals sieht heute in der Regel so aus: Bei einem sogenannten Round Table sitzen 6, 12 oder gar 18 Journalisten um einen Star herum und haben dann gemeinsam als Rudel exakt 10, 12 oder 15 Minuten Zeit, hastig ein paar Fragen zu stellen. Kann man sich etwas vorstellen, das weiter entfernt ist von einem echten, vertiefenden Gespräch? Und solche Produkte füllen dann flächendeckend unsere Kulturseiten.
Der Propagandist des Teppichs
Die Lage des Filmjournalismus erscheint einigermassen trostlos. Nur einer in dieser Runde betätigt sich einmal mehr als unverdrossener Propagandist des Festival-Teppichs: der Direktor und Mitbesitzer des Zurich-Film-Festivals (ZFF), Christian Jungen. Wie alle, die immer betonen, sie würden natürlich nicht pro domo reden, rührt er in Locarno ungerührt die Werbetrommel für sein eigenes Festival: «Kommt doch an den Carpet in Zürich! Da nehmen sich die Stars dreimal so viel Zeit, sind viel ehrlicher, offener, aufgekratzter.» Jetzt mal ehrlich, Herr Jungen: Häppchen vom Teppich als Gesprächsersatz?
Jungen wirkt auch sonst etwas widersprüchlich, zum Beispiel, wenn er sagt:
- «Stars an Festivals zu bringen, verursacht Millionenkosten.»
- «Stars sind Leute wie du und ich.»
- «Man kann solche Stars natürlich nicht zu den Filmjournis in der Jugendherberge schicken. Es braucht schon eine gewisse Kulisse.»
Was aber ist überhaupt ein Star?
Jungen bietet zwei knackige Erklärungen. Eine soziologische: Ein Star ist eine Persönlichkeit, für dessen Leben sich eine breite Öffentlichkeit interessiert. Und eine ökonomische: Ein Star ist ein Schauspieler, der es kraft seines Images schafft, die Aufmerksamkeit auf einen Film zu ziehen.
Und der ehemalige Filmjournalist erklärt auch offen seine eigene Affinität zum Star-Hype: «Mein Geschäftsmodell als Journalist waren die Star-Interviews. Ich wurde dafür mehrmals pro Jahr nach Los Angeles oder New York geflogen und habe richtig viel Geld verdient, zum Beispiel 3500 Franken vom ‹Sonntags-Blick› für ein Interview von 5000 Zeichen mit Harrison Ford.» Vielleicht liegt hier auch einer der Gründe, warum Christian Jungen in der Branche mehr als People-Journalist wahrgenommen wurde denn als Filmkritiker.
Die Influencer haben die Filmkritiker abgelöst
Filmkritiker Patrick Wellinski bringt es auf den schmerzhaften Punkt: «Die Stars brauchen uns doch gar nicht!» Die Influencer bedienen das Stargeschäft viel effektiver. Sie verklickern ihre Filmfetzchen direkt vom roten oder grünen Teppich aus, massentauglich, millionenfach geklickt, kurzer Kitzel fürs Auge – das Gegenteil von Analyse. Auch Christian Jungen lädt Dutzende von Influencern ans ZFF ein, wie er selber bestätigt, Reise- und Hotelkosten inklusive. Kann das wirklich die Zukunft eines kritischen Filmjournalismus sein?
Es gibt Stars und Stars
Nichts gegen ein bisschen Glamour an einem Filmfestival, wenn er auch künstlerisch und intellektuell etwas hergibt. Ein glänzendes Beispiel dafür ist zweifellos der diesjährige Stargast in Locarno, Emma Thompson.

Die überragende Schauspielerin und Drehbuchautorin ist auch eine blitzgescheite Denkerin über Film und Kunst, über Gesellschaft und Leben. Hier ein paar wenige Zitate von ihr zur Veranschaulichung:
«Wer eine Stimme hat, sollte davon Gebrauch machen. Wir leben in einer Welt, in der man entweder Verantwortung übernimmt oder sagt: Es ist mir egal. Es gibt nur diese zwei Wege.»
«Es ist unglücklich und ich wünschte wirklich, ich müsste das nicht sagen, aber ich mag Menschen, die gelitten haben. Sie sind freundlicher.»
«Jedes Problem, so klein es auch sein mag, beginnt im Kern immer damit, dass Menschen zu wenig miteinander sprechen.»
«Es gibt viele Männer, die Feministen sind – in dem Sinne, dass sie die unfaire Verteilung gar nicht wollen, nicht in einem Patriarchat leben wollen, darauf verzichten können, dass man sie fragt, was ihr Erbe ist, wie sie der Welt am Ende ihren Stempel aufgedrückt haben.»
«Ich würde lieber ein Jahr lang eine Wurzelbehandlung haben, als auf Twitter oder Facebook zu gehen.»
Interviews sind zu oft eine Banalform von Journalismus
Recherche und Analyse halten sich bei Interviews sehr in Grenzen. Stars wiederholen, was sie x-fach schon anderswo gesagt haben. Wirklich Spass macht ein solcher Marathon durch die immergleichen Fragen auch ihnen nicht. Wer möchte ihnen das verübeln? Und die ehemals mühsame Transskription des Gesprochenen übernimmt heute ja meist die KI.
Ja, auch Emma Thompson gab in Locarno nur ein einziges Interview. Ist das denn so schlimm? Ist nicht viel wesentlicher, dass sie hier ihren neuen Film «The Dead of Winter» zur Weltpremiere bringt (auch wenn es, zugegeben, nicht ihr bester Film ist)? Und dass sie sich auf der Piazza für den Preis, den sie für ihre herausragenden Beiträge zur Filmgeschichte erhält, mit einer beherzten kleinen Rede bedankt, die sie teilweise in einem charmanten Italienisch vorträgt?
Das Autorenkino gegen die Versuchungen des Populismus
Locarno bemüht sich jedenfalls recht erfolgreich, Stars auf die Piazza zu bringen, die spezifisch für ein qualitativ hochstehendes Autorenkino stehen und auch wirklich etwas zu sagen haben, wie etwa Juliette Binoche, Jane Campion, Charlotte Rampling, Isabelle Huppert oder Ken Loach, Ethan Hawke und Jim Jarmusch. Aber auch Locarno ist manchmal etwas anfällig für die populistischen Versuchungen des Kreisch-Faktors, wie die Einladungen an die Bollywood-Ikone Shan Rukh Khan oder die Hongkonger Kampfkunst-Legende Jackie Chan zeigen.
Auch das ZFF bringt zwar immer wieder respektable Filmgrössen aus der Gewichtsklasse Kate Winslet, Peter Sarsgaard, Susan Sarandon oder Sean Penn auf den grünen Teppich, aber mit Hollywood-Grössen wie Pamela Anderson, John Travolta, Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger zeigt es doch einen unverkennbaren Hang zum Populär-Banalen. Oder wer möchte denn ernsthaft mit ihnen über den Zustand unserer Welt diskutieren? Aber sicher doch: Die flinken und wendigen Influencer mit ihren schnellen, coolen, tiefschürfenden Shots sind immer sofort zur Stelle!
Die Gier nach Skandalisierung
Auch Verleiher Roger Kaufmann moniert, es gehe nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um Klicks, und die erreiche man eher mit einer geilen Zuspitzung, einem isolierten Zitat, das man skandalisieren könne, als mit einer ernsthaften Filmanalyse. Und für einen Interview-Slot mit einem Star müsse auch ein lokaler Verleiher zuerst 1500 bis 4000 Euro hinlegen.
Wer will denn eigentlich was an einem Filmfestival?
Es sei tatsächlich nicht einfach, betonen auch Denise Bucher und Patrick Wellinski: Festivalleiter wollen Festivalberichte, in denen ihre Auswahl und die Atmosphäre vor Ort gelobt werden. Die Verleiher wollen differenzierte Medienberichte erst dann, wenn ihre Filme lokal ins Kino kommen. Redaktionsleitende haben oft keine Ahnung vom Ganzen und wollen einfach Klicks. «Ich schaue oft in tote Augen», sagt Patrick Wellinski, «wenn ich in der Redaktion sage, dieses Festival oder dieser Regisseur seien wichtig.»
Denise Bucher zieht ein ernüchterndes Fazit: «Der Wille, sich mit Film ernsthaft auseinanderzusetzen, ist verlorengegangen. Es geht nur noch ums Gesehenwerden und nicht mehr darum, warum etwas gesehen werden soll. Die Inhalte interessieren nicht mehr als etwas, das mehr ist als blosse Unterhaltung.»
Bei aller Sympathie für ihren engagierten professionellen Ansatz, man möchte nicht in ihrer Haut stecken.
Eine Form von journalistischer Prostitution?
Eine Besucherin des Panels und regelmässige Kino- und Festivalgängerin bemerkt nach der Diskussion einigermassen entsetzt, was sie hier gehört habe, rieche für sie nach journalistischer Prostitution. Als Filmliebhaberin wünsche sie sich gerade an einem Filmfestival fundierte Analyse und Beurteilung und nicht die Bedienung voyeuristischer Nebenaspekte des kommerziellen Filmgeschäfts.
Eine bitter passende Pointe lieferte auch der Moderator des Gesprächs, Selim Petersen, gleich zu Beginn des Gesprächs. Seit 15 Jahren ist er Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen und hat auch regelmässig die wichtigsten internationalen Festivals von Cannes, Venedig und Berlin besucht. Jetzt hat SRF kürzlich beschlossen, aus Spargründen gar nicht mehr über ausländische Filmfestivals zu berichten, und hat ihm sang- und klanglos gekündigt.
So geht Ausblutung. Die Verantwortung dafür liegt in den Leitungsgremien der grossen Medienhäuser.
Ein grosser Trost
Einer der besten und zuverlässigsten Filmkritiker der Schweiz, der langjährige SRF-Redaktor Michael Sennhauser, ist dieser Entwicklung zuvorgekommen und hat sich im vergangenen Jahr aus freien Stücken frühpensionieren lassen. Seinen enorm informativen und umfassenden Filmblog (https://sennhausersfilmblog.ch/) betreibt er in grosser Freiheit und mit viel privater Freude weiter. Dieses im Netz frei zugängliche Filmarchiv ist in dieser filmjournalistischen Misere ein grosser Trost für alle, die an ernsthafter und regelmässiger Filmkritik interessiert sind.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Die Autor:innen sind neugierige Kulturgänger:innen in allen Sparten und schreiben gelegentlich über ihre Eindrücke in verschiedenen Medien. Sie waren früher vor allem im Bildungs- und Sozialbereich tätig.
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