Vernichtungskrieg in Gaza: Warum die Welt zuschaut
Solche Stimmen hörte Omer Bartov bei seinem Besuch vor einem halben Jahr in Israel. Bartov ist in einem Kibbuz geboren, war Offizier der israelischen Armee und ist heute Professor «of Holocaust and Genocide Studies» an der Brown University im US-Bundesstaat Rhode Island.
Bartov besuchte Israel, um seine Zwillingsenkel zu besuchen und um von Freunden und Bekannten zu erfahren, wie sich die Stimmung seit seinem letzten Besuch vor einem Jahr verändert hat. Damals war er vom nahezu vollständigen Unwillen jüdischer Israelis schockiert – nicht zuletzt seiner liberalen oder linken Bekannten –, die Gräueltaten der israelischen Armee IDF in Gaza auch nur wahrzunehmen.
Ein palästinensischer Chirurg erzählte ihm, er habe auf einer kleinen Kundgebung gegen das anhaltende Gemetzel in Gaza sprechen wollen. Zuerst hätten ihn die Organisatoren daran gehindert, um ihn dann doch reden zu lassen, weil er als sanftmütiger und vernünftiger Mann bekannt sei. Doch sobald er vom Leid der Palästinenser zu sprechen begann, seien einige Leute davongelaufen.
«Viele, die ich traf, erzählten mir Geschichten, die mich erschaudern liessen», berichtete Bartov am 24. April 2025 in «The New York Review». Ein Armeepilot habe weit entfernte Ziele mit Raketen beschossen. Er selber habe die Ziele nicht gekannt. Im besten Fall erfuhr er aus den Nachrichten der nächsten Tage, welche Ziele das Militär ihm programmiert hatte.
Bartov weiter:
«Ich hörte von einer Soldatin, die Drohnen bediente und das Land überstürzt verliess, als ihr klar wurde, wie viele Menschen sie getötet hatte. Ich hörte von einer linksgerichteten Mutter, deren Sohn schockiert aus Gaza zurückkehrte und von seinen Erlebnissen berichten wollte. Sie bat ihn zu schweigen.
Ich hörte von einem jungen Offizier, der während der Durchsuchung eines leerstehenden Gebäudes in Gaza einen palästinensischen Teenager aufgriff, der sich um die dort zurückgebliebene Grossmutter kümmerte. Als die Soldaten die Grossmutter im Keller fanden, erschossen sie sie auf der Stelle — gegen den anderslautenden Befehl des Offiziers. Er habe nichts dagegen tun können, sagte er.
Ein anderer Zeuge meinte: ‹Wenn die IDF tausend Hunde im Gazastreifen töten würde, würde das in der Öffentlichkeit einen grösseren Aufschrei auslösen als die Massenabschlachtung von Menschen›.»
Unterdessen hätten Fotos des verwüsteten Gazastreifens den Fotos von Hiroshima geglichen, berichtete ein israelischer Filmemacher.
Zeugenaussagen von fünf israelischen Soldaten
Sie wurden direkt nach der Matur (Abitur) nach Gaza in den Krieg geschickt und berichteten am 3. Juli 2025 der Zeitung «Haaretz» über eine Realität voller Verzweiflung, Wut und lähmender Angst – ohne Aussicht auf ein Ende.
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«Das Leben eines palästinensischen Zivilisten ist nichts wert»
Unbequeme Fragen stellt der französische Soziologie-Professor Didier Fassin. Das Zuschauen in Gaza werde in der moralischen Ordnung der Welt eine tiefe Wunde hinterlassen. Fassin fragt:
- Warum akzeptieren die politisch Verantwortlichen und intellektuellen Vertreter westlicher Länder bis auf wenige Ausnahmen die statistische Tatsache, dass das Leben eines palästinensischen Zivilisten um einen Faktor von mehreren hundert weniger wert ist als dasjenige eines Israelis?
- Wie ist es zu erklären, dass Demonstrationen und Versammlungen, die einen gerechten Frieden fordern, verboten wurden?
- Warum berichten die meisten grossen westlichen Medien ungeprüft und beinahe automatisch die Version der Ereignisse aus dem Lager der Besatzer und ziehen die Perspektive der Besetzten unablässig in Zweifel?
- Warum wenden so viele, die protestieren, ja aufbegehren könnten, ihre Augen ab von der Vernichtung eines Territoriums, seiner Geschichte und Denkmäler, seiner Krankenhäuser und Schulen, seiner Wohnungen und seiner Infrastruktur, seiner Strassen und seiner Bewohner. Warum ermutigen sie sogar in vielen Fällen die Fortsetzung dieser Zerstörung?
«Im Namen der Moral»
Fassin versucht, eine Antwort selber zu geben: Es geschehe im Namen der Moral selbst. Die Zerstörung Gazas und eines Teils seiner Bevölkerung würde als das kleinere Übel angesehen, das ein grösseres beseitige, nämlich die Zerstörung des jüdischen Staates. Wer deshalb von den Verbrechen spreche, welche die Israelis begehen, mache sich der abscheulichsten Form des Rassismus verdächtig: des Antisemitismus. Dies gelte insbesondere dann, wenn von Völkermord gesprochen werde, um auf das Massaker an der palästinensischen Bevölkerung hinzuweisen. Denn es sei nicht zu akzeptieren, dass die Nachkommen eines Volkes, das Opfer des grössten Völkermordes wurde, beschuldigt würden, selbst einen solchen zu begehen.
Diese Sichtweise würden die meisten Israelis heute teilen, sagt Professor Omer Bartov. Doch indem die Regierungen der USA und Westeuropas diese Sichtweise kritiklos übernehmen und in das Auslöschen des Gazastreifens einwilligen, hätten sie aus dem Holocaust falsche Lehren gezogen.
Die Erinnerung an den Holocaust als eine Art Freibrief
In seinem Anfang 2025 veröffentlichten Buch «Being Jewish After the Destruction of Gaza» warf der liberal-orthodoxe Jude Peter Beinart der israelischen Regierung vor, die Erinnerung an den Holocaust als einen Freibrief zu missbrauchen.
Beinart begründet, weshalb er von einem starken Befürworter Israels zu einem entschiedenen Kritiker des Zionismus wurde. Nach dem Holocaust habe sich beim jüdischen Leben ein Gefühl der «falschen Unschuld» eingeschlichen. Erinnerung verpflichte, zumal, wenn sie mit der absoluten Entschlossenheit einhergehe, einen Holocaust «nie wieder» zuzulassen. Wenn dieses «Nie wieder» aber zum Teil einer staatlichen Ideologie werde, die jede Bedrohung, jedes Sicherheitsproblem, jede Kritik an der Legitimität oder Rechtschaffenheit des Staates in eine existenzielle Gefahr umdeute, dann seien alle Grenzen aufgehoben.
Eine solche Weltanschauung, erläutert Beinart, erteile «fehlbaren Menschen eine grenzenlose Lizenz».
Der Holocaust-Spezialist ergänzt:
«Es ist dieses Bewusstsein des ‹Nie wieder›, das es den meisten jüdischen Bürgern Israels gestattet, sich auch dann noch moralisch überlegen zu fühlen, wenn ihre Armee, ihre Söhne und Töchter, ihre Enkelkinder jeden Quadratmeter des Gazastreifens pulverisieren. Auf perverse Weise wurde an den Holocaust erinnert, um die Auslöschung Gazas und das ausserordentliche Schweigen zu rechtfertigen, das diese Gewalt begleitete.»
Bei einer Umfrage im Mai 2024 sagten mehr als die Hälfte der befragten Israelis, der Hamas-Angriff habe Ähnlichkeit mit dem Holocaust.
Völkermord vor aller Augen
Resigniert bilanzierte Bartov in «The New York Review»:
«Wie konnte es passieren, dass achtzig Jahre nach dem Ende des Holocaust und der Schaffung eines internationalen Rechtssystems – das solche Verbrechen verhindern sollte – der Staat Israel, der sich selbst als Antwort auf den Völkermord an den Juden definiert und bezeichnet, nahezu ungestraft und vor aller Augen einen Völkermord an den Palästinensern begeht?
Wie gehen wir damit um, dass Israel ausgerechnet mit Verweis auf den Holocaust jene Rechtsordnung zerschlug, welche die Wiederholung eines solchen «Verbrechens der Verbrechen» verhindern sollte?»
Schliesslich, meinte Bartov, könne die Lizenz, die Israel, das Land der Opfer, lange Zeit genoss und missbrauchte, an ihr Ende gelangen. Die Söhne und Töchter der nächsten Generation würden für die Sünden ihrer Eltern bezahlen müssen und die Last des in ihrem Namen begangenen Völkermords tragen.
Völkermord oder kein Völkermord
Professor Omer Bartov nennt Israels Vernichtungskrieg in Gaza einen Völkermord und begründet dies u.a. wie folgt:
«Wenn wir die Getöteten und Verwundeten in Betracht ziehen, die Tausenden noch unter den Trümmern Begrabenen, die Tausenden «indirekten» Todesopfer durch die Zerstörung der meisten medizinischen Einrichtungen, die Tausenden von Kindern, die sich von den Langzeitfolgen des Hungers und des Traumas nie ganz erholen werden, dann müssen wir zum Schluss kommen, dass Israel dem palästinensische Volk in Gaza vorsätzlich Lebensbedingungen auferlegt, ‹die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen›, wie es in Artikel II(c) der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Uno von 1948 heisst.»
Unterstützung erhält Bartov von der NGO Amnesty International. Sie sieht «hinreichende Belege» dafür, dass Israel an der palästinensischen Bevölkerung im besetzten Gazastreifen Völkermord begangen hat und weiterhin begeht
NZZ-Chefredaktor Eric Gujer verteidigte in seinem Leitartikel vom 21. Juni 2025 Israels Vorgehen:
«Die Pogrome am 7. Oktober, die blutigsten ihrer Art seit dem Holocaust, waren der ‹Ground Zero› für Israel und der Anlass, in einen Feldzug gegen alle seine Feinde zu ziehen. So wie Amerika nach 9/11 den ‹Krieg gegen den Terror› begann, der den Irak ins Chaos stiess und erst mit dem Abzug aus Afghanistan endete.
Der Vorwurf, Jerusalem habe einen völkerrechtswidrigen Angriff lanciert, geht daher ins Leere. Israel verteidigt sich wie damals Washington, das nun erneut in den nahöstlichen Konflikt hineingezogen werden könnte. […] Im Jom-Kippur-Krieg 1973 stand Israel vor dem Untergang und kämpfte sich dennoch zurück. Die permanente Bedrohung ist tief ins israelische Gedächtnis eingeschrieben. Militärische, technologische und geheimdienstliche Überlegenheit ist überlebenswichtig.»
Unterstützung erhält Gujer von Oliver Diggelmann, Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich. Am 11. Juni 2025 meinte er in Tamedia-Zeitungen, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag die «israelische Militäroperation» in Gaza nicht als Völkermord einstufen solle. Denn laut bisheriger Rechtssprechung müsse «die Absicht der Vernichtung einer Gruppe das einzige Motiv des Angreifers sein». Das sei bei Israel nicht der Fall.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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