Kommentar

Viel Schizophrenes rund um die «Eliten»

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Der sportlichen Elite liegt die Welt zu Füssen, die politische Elite steht unter Generalverdacht. Eine Betrachtung.

Schon wieder wetteifert die sportliche Elite der Welt um Edelmetall. Kaum hat man sich vom europäischen Fussballzirkus erholt, ist der olympische Karneval von Rio im Gang. Es sind die Besten der Besten, die am Start sind. Die Eliten eben. Fast alle fiebern mit, schön geordnet nach Nationen, wenn es darum geht, Medaillen «nach Hause» zu bringen. Doch der «völkerverbindende Sport» – selbst ein höchst fragwürdiges Klischee – findet vor dem Hintergrund eines völlig kranken Sportsystems statt: «Kommerzieller Erfolg lässt moralische Bedenken in den Hintergrund rücken. Doping, die Verletzung von Menschenrechten und die mutwillige Zerstörung der Natur werden billigend in Kauf genommen», schreibt die «Berner Zeitung» in einem Kommentar zum Auftakt der Olympischen Spiele.

Doch der dunkle Hintergrund kann das Bild des sauberen, ehrlichen, unbefleckten, fairen Sportlers nicht trüben. Dieses Bild ist in vielen Fällen sicher nicht falsch. Trotzdem irritiert es, dass die halbe Nation kurzzeitig beinahe in eine kollektive Depression verfällt, wenn etwa drei beliebte schweizerische Tennisspieler aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Rio reisen können. Das Beispiel zeigt: Die sportliche Elite geniesst Kultstatus.

Die EU als Elitenprojekt

Nicht so die politische. Wer von «politischen Eliten» spricht, lässt meist keinen guten Faden an ihnen. Der Begriff ist negativ besetzt. Im Grunde muss sich jeder Politiker, jede Politikerin hüten, zur Elite gezählt werden, denn dann ist man automatisch «volksfern», gehört zur «classe politique», zum «Establishment». Und wie perfid Eliten sein können, hat uns ja SVP-Nationalrat Roger Köppel vor einigen Monaten klargemacht. Dank ihm wissen wir, dass die Ablehnung der Durchsetzungsinitiative vom 28. Februar 2016 nichts anderes als ein «Aufstand der Eliten» war. Die Eliten haben also gewissermassen einen Aufstand gegen das Volk veranstaltet und dabei erst noch gegen 60 Prozent der Stimmenden hinter sich geschart. Im Grunde genommen ein völlig regelwidriges Verhalten.

Regelwidrig läuft es bekanntlich auch in der Europäischen Union. Schon beinahe als Mainstream gilt die Bezeichnung der EU als «Elitenprojekt». Die Absicht jener, die das immer wieder betonen, ist klar: Es geht darum, die EU als Kopfgeburt und als intellektuelle Fehlkonstruktion zu denunzieren. Elitenprojekt – das lässt jeden aufrechten Demokraten erschaudern. Dabei ist der Begriff durchaus zutreffend, die EU ist unbestreitbar ein Elitenprojekt. Die Frage ist bloss, was daran so schlimm ist.

Intellektuelle Schizophrenie

Die intellektuelle Schizophrenie beginnt dann, wenn jene, die die Abkehr von der EU und die Renationalisierung Europas predigen, unterschlagen, dass auch die im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten einst Elitenprojekte waren. Selbst der schweizerische Bundesstaat von 1848 ist nicht einfach aus des Volkes tiefer Seele entstanden. Intellektuelle Eliten waren für das Schweizer Staatsdenken im Vorfeld der Bundesstaatsgründung von herausragender Bedeutung, selbst wenn sie heute im allgemeinen Bewusstsein wenig verankert sind. Zwei Beispiele zeigen, dass auch ursprünglich ausländische Eliten kräftig mitmischten.

Die Schweiz als Elitenprojekt

Da ist einmal Heinrich Zschokke (1771-1848) zu nennen. Der aus Magdeburg stammende Deutsche hat in vielfältiger Weise das schweizerische Nationalbewusstsein beeinflusst. Edgar Bonjour, einer der Altmeister der schweizerischen Historikerzunft, sagte vor über 60 Jahren, die Entstehung der modernen Schweiz wäre ohne Heinrich Zschokke nicht möglich gewesen. Zschokkes Wirken war umfassend: Er war Politiker, Staatsmann, Aufklärer, Revolutionär, Schriftsteller, Publizist, Philosoph, Pädagoge, Grossrat und Verfassungsrat. Gemäss seinem Biografen Werner Ort («Heinrich Zschokke», Baden 2013) entschied sich Zschokke bewusst für die Schweiz. Er kehrte Paris nach kurzer Zeit enttäuscht den Rücken und kam in die Schweiz, weil er hier für möglich hielt, was zwar in Frankreich «erfunden» worden, aber auch misslungen war – nämlich den Postulaten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Zschokke hat unter anderem auch das schweizerische Geschichtsbild über Generationen hinweg geprägt. Sein historisches Werk von 1822 hat bis ins 20. Jahrhundert hinein als Grundlage für den Geschichtsunterricht an Schweizer Schulen gedient. Übrigens: Das Werk Heinrichs Zschokkes erschien bei dem aus Frankfurt am Main stammenden Heinrich Remigius Sauerländer (1776-1847), dem Gründer des gleichnamigen Verlags in Aarau. Auch Sauerländer wirkte mit seiner verlegerischen Tätigkeit als eine der wichtigen Figuren beim Aufbau der modernen Schweiz.

Zu nennen wären auch Ludwig Snell (1785-1854) und sein Bruder Wilhelm (1789-1851). Die beiden aus Hessen stammenden Brüder zählten zu den einflussreichsten Staatstheoretikern der Schweiz und übten massgeblichen Einfluss auf die liberal-radikale Bewegung aus. Wilhelm Snell war Gründungsrektor der Berner Universität, Ludwig daselbst erster Professor für Staatswissenschaften. Die beiden gingen allerdings politisch so radikal zur Sache, dass sie im Volk bald als «die Snellen» bezeichnet wurden. Und sie verloren in einem Machtkampf mit den Konservativen gar ihre Posten an der Berner Hochschule. Als Hochschullehrer drückten sie dem schweizerischen Staatsdenken dennoch juristisch und philosophisch den Stempel auf.

Wer also etwas genauer hinschaut, kann leicht erkennen: Auch Nationalstaaten haben einst als hochfliegende Pläne einer politischen und gesellschaftlichen Elite angefangen.

Romantiker haben Deutschland geschaffen

Der Publizist Markus Reiter verweist in einem Beitrag für «Deutschlandradio Kultur» (02.08.2016) auf die Nationalstaaten Italien und Deutschland, die als Elite- und Einigungsprojekte 1861 bzw. 1871 von oben entstanden sind. In der ersten Sitzung des italienischen Parlaments hat der Abgeordnete Massimo d’Azeglio eine berühmte Rede gehalten, die im Satz gipfelte: «Italien haben wir geschaffen. Jetzt müssen wir noch die Italiener schaffen!»

Markus Reiter: «Der Satz kommt mir in den Sinn, wenn dieser Tage in Kommentaren und Talkshows wieder einmal die Rede davon ist, Europa sei ja nur ein Projekt der Eliten. In der Regel soll eine solche Behauptung die Idee eines gemeinsamen europäischen Bundesstaates desavouieren. Der sei nur das Hirngespinst einiger Intellektueller. Bei den Nationalstaaten hingegen handle es sich um die natürliche Ordnung der Völker».

Massimo d’Azeglio, der Mann, der die Italiener schaffen wollte, war nicht nur Politiker, sondern gleichzeitig auch ein Schriftsteller der Romantik. «Auch in Deutschland waren es die Romantiker, die die Deutschen geschaffen haben», sagt Reiter, und zwar in ihren Werken der Literatur und der Kunst. Eine nationale Identität entsteht, «wenn solche Bruchstücke von einer Bildungselite zusammengefügt werden». Die Historiker sprechen dann von einem Narrativ. Markus Reiter hält ein gemeinsames europäisches Narrativ für möglich, wenn eine Bildungselite überzeugend die europäische Geschichte der Gemeinsamkeiten erzählt. «Die Aufgabe für die Eliten lautet also: Europa haben wir geschaffen, jetzt müssen wir die Europäer schaffen.» Markus Reiter muss ein unverbesserlicher Optimist sein. Und vielleicht ein bisschen elitär…


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3 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 10.08.2016 um 11:23 Uhr
    Permalink

    Gratuliere zum Hinweis auf Zschokke. Martin Schulz hat indes Abitur nicht geschafft und bei seinem ungeschickten Gesamtauftritt bisher Mühe, zu den 30 000 stärksten Persönlichkeiten der europäischen Politikgeschichte aufzusteigen. Auch der Unterschied zwischen Churchill oder auch nur Guiscard d’Estaing, einem ausgesprochenen Elitenpolitiker, zu Juncker ist gigantisch, obwohl letzterer zum Beispiel noch ein guter Kenner der Soziallehre der katholischen Kirche ist und gewiss ein noch ein brauchbarer politischer Akademiker. Habe ein Jahr lang den Ständerat beobachtet und glaube mich zu der Meinung berechtigt, dass dieser 1848 weit eher die Elite der damaligen Schweiz darstellte. Ein ausgesprochener Elitenpolitiker im 19. Jahrhundert, nicht bloss weil er Geld hatte, war Alfred Escher, ein entschiedener Gegner der direkten Demokratie und natürlich für schweizerische Verhältnisse ein für viele nur bedingt wählbarer Politiker, zeitweilig ähnlich umstritten wie in neuerer Zeit Blocher, dessen Bildungsniveau und theologischer Überblick nur wenig unter Juncker anzusetzen ist, sicher nicht mit Trump vergleichbar. Aber gewiss auch nicht die Liga von Escher. Als Zwanzigjähriger, nach dem fundamentalistischen Züriputsch, schrieb Escher eine glänzende bildungspolitische Abhandlung zwecks Rettung der damals bedrohten Uni Zürich.

    Der wohl eindrücklichste Elitepolitiker des Europ. Parlaments heute ist wohl Guy Verhofstadt. Seine Reden sind heutige Weltspitze, betr. Griechenland und Brexit.

  • am 10.08.2016 um 20:29 Uhr
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    Ein europäischer Einheitsstaat wäre nur dann auszuhalten, wenn es ein Land gibt, in das die verfolgten Europäer notfalls flüchten können. Dieses Land wäre logischerweise die Schweiz. Wer sogar die Schweiz noch «europäisch» machen will, erhöht den Drohfaktor Europas ins Unerträgliche – macht Europa so untragbar.
    Wer das nicht sieht, ist zur «Elite» ungeeignet.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 11.08.2016 um 07:25 Uhr
    Permalink

    Man sollte die sog. Eliten nicht überschätzen, z.B den von Müller-Muralt gelobten umstrittenen Nassauer Alkoholiker Wilhelm Snell, der zwar ein origineller Kopf war zur Zeit der Gründung der Universität Bern, wo dann Ignaz Paul Vital Troxler die Eröffnungsvorlesung hielt. Snell trug massgeblich zur Spaltung des schweizerischen Liberalismus bei und gehört auch zu denjenigen, die den Unterschied zwischen Radikalismus und Extremismus nicht realisierten. Dass er für den dummen und verantwortungslosen 2. Freischarenzug von 1845 agitierte, mit dem Ziel der Entlassung von 7 Jesuiten via ausserkantonal organisierten Putsch in Luzern, führte zu Sonderbundskrise und Bruderkriegssituation in der Schweiz. Der konservative Segesser wies darauf hin, dass der Scharfmacher auf der konservativen Seite, Konstantin Siegwart-Müller, ebenfalls ein eingebürgerter deutscher Akademiker war, dem nun mal der Bruder-Klaus-Instinkt abging, obwohl er sich zwecks Hetze auf den Landesheiligen berief.

    Natürlich aber waren die Snell bedeutend. Dürrenmatts Grossvater Uli schrieb in seiner Buchsi-Zitig mit Gedichten gegen die «Nassauer» an. Der Eindruck scheint nicht von der Hand zu weisen, dass es einerseits eine Katastrophe wäre, wenn es in der Politik nur nach den «Eliten» ginge, aber ebenfalls eine Katastrophe, wenn es diese nicht gäbe. Leute mit manchmal bescheidenem intellektuellem und sozialem Niveau verhalten sich an der Urne im Prinzip und im Durchschnitt nicht unvernünftiger wie «wir» Akademiker.

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