Gotthardposthellgross

Rudolf Kollers «Gotthardpost» von 1873: Kommt das Kalb davon? © cc

Der Gotthard – der helvetische Sinai

Jürg Müller-Muralt /  Rudolf Kollers «Gotthardpost» von 1873 im Zentrum politischer Bildbetrachtung: Christoph Blocher und Peter von Matt interpretieren.

Der Gotthard lässt uns nicht los. Selbst wenn an seinem Fusse ein arabischer Investor ein ganzes Dorf zu einem Luxus-Resort umbaut, die Reduit-Festungen der Schweizer Armee längst geschleift oder zu Museen umgebaut sind und das Massiv mehrfach mit Hightech-Tunneln durchbohrt ist: Der Gotthard bleibt ein helvetischer Mythos.

Vor exakt 130 Jahren wurde der erste Gotthard-Eisenbahntunnel in Betrieb genommen, vor 32 Jahren der Strassentunnel – und in rund vier Jahren wird der Gotthard-Basistunnel, der längste Eisenbahntunnel der Welt, fertiggestellt sein. Und schon läuft eine alte Debatte neu an, jene um den Bau einer zweiten Strassenröhre. Trotz – oder gerade wegen – der Nutzung und Übernutzung einer der wichtigsten Verkehrsverbindungen Europas: Entzaubert worden ist der legendenumwobene Alpenübergang nie.

«Symbol des Freiheitswillens»

Die Einübung in den Mythos wird periodisch wiederholt: Rechtzeitig zur Eröffnung des Strassentunnels 1980 erschien das aufwändig gestaltete Werk von Karl Lüönd mit dem bezeichnenden Titel «Unser Gotthard». Im Vorwort hält Bundesrat Hans Hürlimann fest, dass der Gotthard «nicht ein Pass wie jeder andere ist, sondern für die Schweiz seit je eine besondere Bedeutung hat.»

Und für den Autor Karl Lüönd ist der Begriff Gotthard schlicht «ein anderes Wort für die Schweiz», ein «Bergmassiv als Symbol des Freiheitswillens», und er versteigt sich gar zur Aussage, dass es «seit 800 Jahren in Europa nur wenige magische Namen von ähnlicher Leuchtkraft gibt wie den des Gotthards, der kürzesten Nord-Süd-Verbindung über die Alpen.»

Nähe zur Gründungsgeschichte

Der Gotthard ist die kürzeste Verbindung, aber ein noch verhältnismässig junger Pass. Die Römer benutzten auf ihrem Weg in das Gebiet der heutigen Schweiz die Bündner Pässe, und auch Furka und Grimsel sind, zusammen mit den Walliser Pässen, historisch gesehen die wichtigeren Alpenübergänge. Was der Gotthard jedoch allen anderen Schweizer Pässen voraus hat, ist seine Nähe zur Landschaft der Gründungsgeschichte um den Vierwaldstättersee und die einst dramatische, heute aber längst verschwundene Gefahrenzone der Schöllenenschlucht.

«Es ist daher von einer verblüffenden Logik, wenn die stärkste nationale Symbolkraft heute vom neuen Eisenbahntunnel durch den Gotthard ausgeht. In diesem technischen Spitzenwerk verschmelzen wieder einmal Ursprung und Fortschritt, und sie setzen auch diesmal mächtige Gefühle frei», schreibt Peter von Matt, Schweizer Literaturwissenschaftler und emeritierte Professor an der Universität Zürich. Und «wenn’s drauf ankommt, sich mittels Bilder zu verständigen, tauchen auch heute weder die Zürcher Bahnhofstrasse noch das Genfer Bankenviertel, noch der Basler Rheinhafen auf, sondern wie eh und je der nebelverhangene Gotthard, dieser helvetische Sinai.»

Berühmtestes Gotthardbild

Das jüngste Buch von Peter von Matt trägt denn auch den prächtigen Titel «Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz» (Carl Hanser Verlag, München 2012). Der Sammelband umfasst 29 bereits früher publizierte Essays. Im speziell für diese Ausgabe verfassten Beitrag mit dem Titel «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation» geht es um die wohl berühmteste Darstellung der Gotthardpost, jenes 1873 entstandene Ölgemälde von Rudolf Koller (siehe Bild).

Es zeigt eine von fünf Pferden gezogene Postkutsche in der kurvenreichen Tremola hinunter in die Leventina; dabei gerät ein versprengtes Kalb vor das in hohem Tempo zu Tal donnernde Gespann. Das Bild war lange Zeit omnipräsent in Kalendern und Zeitschriften. Mit einer «Mischung aus Bangen und Faszination» habe man sich als Kind oft gefragt, ob das Kalb davonkommen werde oder ob die Pferde über das schutzlose Tier stürzen und die Kutsche womöglich über die Mauer kippen werde, schreibt von Matt.

Christoph Blochers Nationaltier

Das Bild hat es tatsächlich in sich, und es sind die vielen, dramaturgisch hervorragend komponierten Elemente, die das Gemälde zu einem Faszinosum machen. Kurz vor Erscheinen des Buches von Peter von Matt hat sich auch SVP-Nationalrat Christoph Blocher zum Maler Rudolf Koller und dessen berühmtestem Bild vernehmen lassen, dies im Rahmen seines Neujahrsanlasses vom 2. Januar 2012 unter dem Titel «Würdigung grosser Zürcher Persönlichkeiten». Dabei kam neben Alfred Escher und Gottfried Keller eben auch Rudolf Koller als «Künstler des schweizerischen Nationaltiers – der Kuh» zur Darstellung (siehe Link unten).

Blochers Bildbetrachtung ist selbstredend kein akademisches Unterfangen, sondern steht im Dienst politischer Propaganda. Koller wird als Maler der heimeligen Schweiz vereinnahmt. Der Künstler selbst habe an seine Kunst die Forderung nach «Heimeligkeit» gestellt, «was seinen späteren Erfolg als typischer Schweizerkünstler im jungen Bundesstaat, der sich als Sonderfall behaupten musste, ausmachte.» Als Koller ein Kuhgemälde in München ausstellte, habe sich das grossstädtische Publikum irritiert und «auch etwas hochnäsig amüsiert» gezeigt.

Das Sujet sei in den Augen der Deutschen eben «Ausdruck der zurückgebliebenen Hirten und ‚Kuhschweizer‘» gewesen, meint Blocher. «Doch die Schweizer im jungen Bundesstaat – demokratisch und nicht monarchisch, bodenständig und nicht grossmächtig – erkannten ihr Vieh. ‚Heimeligkeit‘ war gefragt, vor allem aber eine friedlich in sich ruhende, vom Lärm der Welt unberührte Heimat.»

«Erhabenheit und Gottesnähe»

Mit diesem bescheidenen analytischen Ansatz vermag Blocher im Bild von der Gotthardpost denn auch bloss den «Kontrast zwischen zwei Bewegungsabläufen von Natur und Technik, die rasche Pferdekutsche und die langsame Kuhherde», zu erkennen. Die Begegnung von rasanter Postkutsche und «eines in Panik geratenen Kälbchens» qualifiziert er als «gleichsam anekdotisch».

Berühmt sei das Bild neben der künstlerischen Qualität vor allem wegen der überragenden Bedeutung des Gotthards für die Schweiz geworden: Einerseits «Herz und Ursprung der Eidgenossenschaft, Symbol der Freiheit, Erhabenheit und Gottesnähe», anderseits als Symbol für technischen Fortschritt und militärische Abwehr, «was weit über das Landschaftliche ins politische Nations- und Staatsverständnis reicht.»

Ein beklemmendes Bild

Damit ist Blocher fürs Erste nicht einmal sehr weit von Peter von Matt entfernt. Nur schaut von Matt genauer hin, spannt den Bogen weiter. Und rasch spürt man, dass bei vertiefter Betrachtung so gar nichts mehr von der von Blocher in den Vordergrund gerückten Heimeligkeit übrigbleibt. Denn gar so brav und altväterisch, wie es auf den ersten Blick erscheint, sind Rudolf Kollers Bilder nicht; sie haben häufig einen «Stich ins Doppeldeutige».

Über der temporeichen Szene liege «ein beklemmender Zug», findet von Matt. Nicht nur das von der Postkutsche unmittelbar gefährdete Kalb ist in Gefahr, sondern auch jene aufgestörten in einer Staubwolke am Rand stehenden Kühe. Bei wachsender Geschwindigkeit gibt es immer Zurückbleibende, Abgehängte, Verlierer. Der Gipfel der Ironie liegt in der Tatsache, dass das Bild eine Auftragsarbeit und ein Geschenk war für den «grössten Tycoon des Fortschritts, den die Schweiz je hatte», für Alfred Escher, unter anderem Eisenbahnunternehmer und treibende Kraft hinter der Gotthardbahn. Das ist der Mann, dessen Lebenswerk indirekt die Eliminierung aller Postkutschen war.

Keine Ikone der guten alten Zeit

Dass das Bild zur Ikone der guten alten Zeit wurde, ist für Peter von Matt eine der Paradoxien des Gemäldes. Denn eigentlich verkörpert das Bild eben gerade nicht diese Ikone, denn sonst «müssten die Pferde gemächlich gehen, die Kühe friedlich daneben weiden und der Kutscher ein wenig auf seinem Posthorn blasen.»

Bildergeschichtlich gesprochen steht die verwirrte Herde für ein «aufgesprengtes Idyll»: «Was als konservatives Manifest erlebt und geliebt wurde, trug in Wahrheit die Zeichen des zivilisatorischen Umbruchs und seiner Gefahren eingebrannt.» Und dann folgt einer der Kernsätze: «Diese Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservatismus, ein janusköpfiges Voraus- und Zurückschauen zugleich, ist eine Eigentümlichkeit der Schweiz im politischen und literarischen Leben.»

Subtile Dekonstruktion

Ausgehend von und immer wieder zurückkehrend zu der rasenden Postkutsche, dem gefährdeten Kalb und den konsternierten Kühen am Bildrand durchstreift Peter von Matt in einem brillanten Parforceritt die Politik und Literatur der Schweiz. Das Produkt ist eine subtile Dekonstruktion längst überholter oder gar nie vorhandener helvetischer Idyllen.

Er zeigt etwa, wie Gottfried Keller die Risse im schönen Schweizerbild literarisch verarbeitet hat, Risse, die auf eine drohende Finanzkatastrophe hindeuteten. 1873, im Jahr als Kollers «Gotthardpost» entstand, krachte die Wiener Börse zusammen und versetzte auch der Schweiz, schon damals keine Insel, einen schweren Schlag.

Die Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservatismus, von wirtschaftlicher Weltläufigkeit und isolationistischer Selbstbezogenheit als Eigentümlichkeit der Schweiz: Von Matt zeigt dieses Phänomen in all seinen Schattierungen, angefangen bei Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen», das das Selbstverständnis der Schweiz als glückliche Alpenrepublik akzentuiert hat und noch heute ungebrochen weiter wirkt: «Noch immer kommen sich Leute, die stadtnah und an bevorzugter Lage in angenehmen Villen leben, als geborene Bergler vor, spielen im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp und werden dafür von anderen synthetischen Berglern begeistert beklatscht.»

Obschon die Schweiz ein hochentwickeltes Industrie-, Dienstleistungs- und Hightech-Land ist, bleibt die Deutungshoheit weitgehend in den Händen jener, die das Land im Grunde als rückwärtsbezogene, ländlich geprägte Alpenrepublik sehen.

Die Schweizer Existenzformel

Die Dialektik von Fortschritt und Fortschrittskritik ist in der Schweiz besonders ausgeprägt und zeichnet die schweizerische Mentalität bis heute aus. Das Traumbild der heilen alpinen Zone wird hierzulande häufig als repräsentativ für das ganze Land betrachtet. Das Negative, Verkommene wird dabei gerne auf die «grossen Städte» und «Europa» ausgelagert; schon bei Albrecht von Haller war das so – und es zieht sich bis heute durch.

Gleichzeitig zeigt von Matt eindrücklich, dass – entgegen allen ideologischen Phantasiebildern – der Austausch über die Grenze, der Aufbruch in die Welt das Land prägt. «Auszug und Heimkehr ist die Schweizer Existenzformel. Die Schweizer Wirtschaft weiss es sehr genau», sagte von Matt schon in seiner Festrede auf dem Rütli am 1. August 2009.

«Auszug und Heimkehr meint nicht nur das einmalige biographische Ereignis, sondern eine Form der vitalen Verbundenheit mit der Welt, insbesondere dem europäischen Kontinent.» Nicht nur die früheren Säumer und Reisläufer wussten das. Die grössten Literaten der Schweiz wären ohne ihre häufig langjährigen Auslandaufenthalte nicht das, was sie sind: Albrecht von Haller, Gottfried Keller, Robert Walser, Friedrich Glauser, Max Frisch, Thomas Hürlimann und viele andere.

Unterkomplexe Sprache

Von Matt zeigt auf, wie kosmopolitisch die Schweiz im Grunde ist, wirtschaftlich, verkehrstechnisch, kulturell und wie «unterkomplex» die politische Sprache des Isolationismus: «Für die genaue Verbalisierung der Probleme, die sich zwischen der Schweiz und ihren Nachbarländern fortlaufend ergeben, taugt sie nicht. Sie ist aber von rhetorischer Effizienz und täuscht durch ihre Simplizität eine Simplizität auch der politischen Probleme vor.»

Was Peter von Matt, getragen von einer tiefen Liebe zu diesem Land, in seinem rund 90-seitigen Essay an politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und literarischen Zusammenhängen und Einsichten liefert, stellt manch dickes historisches Grundlagenwerk über die Schweiz in den Schatten. Und er schafft das einmal mehr mit seiner unverwechselbaren Symbiose aus kerniger Sprache und analytischer Tiefenschärfe. Gleichzeitig zeigt das Buch, wie unverzichtbar Literatur für das Verständnis der Lage der Nation ist.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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