Odermatt_Debatte

«Eigentlich ein bisschen Diebstahl»: Stadtrat André Odermatt zeigt das Heftchen seines Anstosses. © Gemeinderat Zürich

Werbescreen-Verbot: Linkes Parlament stoppt linke Exekutive

Pascal Sigg /  Die Stadt Zürich will Werbescreens verbieten. In der hitzigen Debatte wurde geflunkert, gefuchtelt und geflucht.

Die Stadt Zürich will Werbebildschirme aus dem öffentlichen Raum verbannen. Bereits im vergangenen September forderte der Gemeinderat (Legislative) den Stadtrat (Exekutive) auf, keine neuen Werbebildschirme mehr zu bewilligen. Nun will die Legislative auch den bereits installierten Anlagen den Stecker ziehen. Letzten Mittwoch nahm sie (Live-Aufzeichnung der Debatte ab 1h 37min) ein Postulat an, das forderte, die etwa 350 Werbebildschirme und Lichtdrehsäulen «zum frühestmöglichen Zeitpunkt» abzumontieren. AL, SP und Grüne setzten sich mit 61 zu 55 Stimmen durch.

Damit siegten ökologische und konsumkritische Argumente über die Verheissungen der digitalen Technologie. Gemäss seinem Votum wollte Postulant Dominik Waser von den Grünen nämlich neben der weiteren Kommerzialisierung des öffentlichen Raums auch unnötigem Stromverbrauch und der Lichtverschmutzung Einhalt gebieten.

Ein kleines Heft erhitzt Gemüter

Mit dem Entscheid stoppte der Gemeinderat das Hochbaudepartement von Stadtrat André Odermatt (SP), welches den Ausbau digital bewirtschafteter Werbescreens in den letzten Jahren förderte (Infosperber berichtete). Besonderen Einfluss hatte dabei die IG Plakat, Raum, Gesellschaft (IG PRG). Die ehrenamtliche Gruppierung hatte im Vorfeld aktiv lobbyiert und eine Broschüre mit Zahlen und Fakten zur Aussenwerbung zusammengestellt.

«Ich habe gar keine Zeit, um auf all den Seich einzugehen.»

FDP-Gemeinderat Patrik Brunner

In seinem Votum störte sich Odermatt am Heftchen. Es komme dreisterweise im «Corporate Design» der Stadt Zürich daher und das sei «eigentlich ein bisschen Diebstahl». Auch Patrik Brunner von der FDP vermutete eine «gewisse rechtliche Problematik» und fand die Anti-Werbung-Broschüre «verdammt schlecht gemacht» und «unglaubwürdig, wirklich unglaubwürdig». Die unprofessionelle Aufmachung zeige die Unprofessionalität der enthaltenen Behauptungen und Zahlen. «Ich habe gar keine Zeit, um auf all den Seich einzugehen.» Das tat er dann auch nicht.

Die Titelseite der Broschüre wollte eigentlich die Stromsparkampagne der Stadtverwaltung vom vergangenen Herbst aufs Korn nehmen. «Aus Sicht der IG PRG liegt dies im Bereich der politischen Satire und die IG PRG wird als Absender ausgewiesen.» Dies traf allerdings nicht auf das Cover zu. Darauf drohte der Stadtrat dem Verein trotzdem mit rechtlichen Schritten, worauf dieser die Cover-Gestaltung anpasste.

Eine Doppelseite aus der ursprünglichen Broschüre … (IG PRG)
… und ein Plakat der Stromsparkampagne der Stadt (Ruf Lanz).

Stadtrat behauptet Behauptungen

Doch Werbe-Befürworter Odermatt störte sich auch am Inhalt der Broschüre. Sie sei voller Behauptungen und Zahlen fehlten. Doch die Broschüre gibt durchaus Quellen für die Zahlen, Fakten und Schätzungen an. Diese zeigen, dass die Angaben von der Werbeindustrie, aus Medienberichten (u. a. Infosperber) oder von der Stadt selber stammen.

In seinem Votum gegen die Bildschirme hatte sich Postulant Dominik Waser (Grüne) stark auf die Broschüre gestützt. So schrieb der Tages-Anzeiger, dessen Konzern TX-Group selber Geld mit Werbebildschirmen verdient und das Geschäft kürzlich ausbaute: «Um seine Argumente zu unterstützen, las er einen Haufen Zahlen herunter, die ihm von der IG Plakat Raum Gesellschaft zusammengestellt worden waren.»

Auf Anfrage heisst es vom Amt für Städtebau, Stadtrat Odermatt habe sich inhaltlich vor allem daran gestört, dass die IG PRG selber Schätzungen vorgenommen habe. Insbesondere existieren noch keine belastbaren Zahlen, welche «den exakten Stromverbrauch der digitalen Werbeanlagen auf öffentlichem Grund pro Jahr abbilden würden».

Bisher unwiderlegte Schätzungen …

Doch Christian Hänggi von der IG PRG stützte sich beim geschätzten Energieverbrauch auch auf Zahlen eines Ökobilanzgutachtens, welches die Stadt selber in Auftrag gegeben hatte (Infosperber berichtete). Hänggi zu Infosperber: «Dies ist schlicht das beste verfügbare Zahlenmaterial. Wir sagen schon lange: Wer bessere Zahlen und Fakten hat, darf sie uns gerne liefern. Wo die Zahlen fehlen, haben wir geschätzt und dies ausgewiesen. Bis jetzt wurde keine unserer Zahlen und Schätzungen von irgendwem auf nachvollziehbare und transparente Art widerlegt.»

So sagte auch eine unlängst publizierte Studie im Auftrag des Verbands «Aussenwerbung Schweiz», dass KMU-Aufträge in der Aussenwerbung nur etwa 4.5 Prozent des Bruttoumsatzes ausmachten. Die IG PRG hatte den Anteil mittels Stichprobe auf 3 bis 5 Prozent geschätzt. Und auch die Zahl der Bildschirme in der Stadt wies die Broschüre eher zu tief aus. Aufgrund von Baubewilligungen kommt Hänggi heute auf folgende Zahlen: «Es sind mindestens 443 Einheiten. 36 davon sind bewilligt, aber noch nicht gebaut. Mindestens 51 davon sind auf öffentlich einsehbarem Privatgrund.» In der Broschüre rechnete er noch konservativ mit 395 Bildschirmen.

… weil die Stadt Zahlen nicht kennen will

Die Stadt selber gibt nicht bekannt, wie viele Werbescreens in der Stadt Zürich auf privatem Grund stehen. Das Amt für Städtebau schrieb Infosperber auf Anfrage, es würden weder beim Amt für Baubewilligungen noch beim Amt für Städtebau, das bei Baubewilligungsverfahren als Vernehmlassungsstelle agiere, Statistiken geführt. «Das Ermitteln von exakten Statistiken hätte für die Verwaltung erhebliche Mehraufwände zur Folge: Die Bewilligungsunterlagen einzelner Anlagen wären dabei rückwirkend auf Jahrzehnte zu überprüfen – viele der älteren Dokumente sind nicht digital verfüg- und durchsuchbar.» Die Firma APG installierte ihren ersten Werbebildschirm im Jahr 2000 am Zürcher HB.

Der Konflikt geht weiter

Trotz dem Entscheid des Stadtzürcher Parlaments birgt die Aussenwerbung in Zürich weiteres Konfliktpotenzial. Und bezüglich Umsetzung ist man sich schon mal uneinig. Stadtrat Odermatt mahnte, die Bildschirmwerbung würde sich einfach in den privaten Raum verlagern, wo man sie nicht verbieten könne. Da würde sie eben kantonalem Gesetz unterliegen. Dominik Waser ist anderer Ansicht: «Das stimmt nicht. Die Stadt bewilligt diese Bauten ja.» Odermatt bezog sich bei seiner Interpretation auf einen Bundesgerichtsentscheid vom 25. März 2021, welcher die Genfer Volksinitiative «Zéro Pub» für gültig erklärt hatte. Die Genfer Stimmbevölkerung lehnte die Initiative für ein weitergehendes Aussenwerbeverbot vor zwei Wochen knapp ab.

SP-Gemeinderätin Anna Graff, welche das Postulat ebenfalls unterzeichnete, interpretierte das Bundesgerichtsurteil aber anders: Es sei kein unzulässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit, Werbeflächen auf Privatgrund, der von öffentlichem Grund einsehbar ist, auf Gemeindeebene zu regulieren. Sie vertrat deshalb die Ansicht, dass auch alle digitalen Werbeflächen auf öffentlich einsehbarem Privatgrund zum frühestmöglichen Zeitpunkt demontiert werden sollen.

Bewilligungen trotz Gemeinderatskritik

Ungeachtet der Kritik des Gemeinderats hat die Verwaltung weitere Werbebildschirme bewilligt. Das angenommene Postulat vom 7. September 2022 hatte wörtlich gefordert, es «sollen insbesondere keine neuen digitalen Werbescreens mehr entstehen». Gemäss dem Amt für Baubewilligungen sind aber weitere Werbebildschirme erstellt worden. Zwischen dem 5. September 2022 und dem 6. Dezember 2022 wurden insgesamt acht neue Anlagen bewilligt. Am 6. Dezember 2022 wurden fünf Werbebildschirm-Anlagen bewilligt. Und ab dem 7. Dezember 2022 bis 22. März 2023 sieben weitere. Die Abstimmung über das Postulat, welches den Rückbau der Werbebildschirme forderte, war zuerst an der Gemeinderatssitzung vom 7. Dezember 2022 traktandiert.

Vom Hochbaudepartement hiess es dazu: «Bei den erwähnten seit dem 5. September 2022 bewilligten Anlagen war drei Mal die Stadt Zürich die Bauherrschaft. Bei allen anderen waren es verschiedene private Institutionen.» Das Postulat vom 7. September sei mit einer Frist von 24 Monaten überwiesen worden. «Wir müssen selbstverständlich nach wie vor nach den aktuell geltenden Grundlagen bewilligen.»

Grundsätzliche Kritik und (fast) grundsätzliche Anerkennung

Die Debatte im Gemeinderat förderte auch tiefe Gräben bezüglich Aussenwerbung im Allgemeinen zutage. Michael Schmid von der AL kritisierte, Werbung heize eine Konsumkultur an, trage zu einer Kultur des Narzissmus bei und beeinträchtige insbesondere bei Jugendlichen den Selbstwert. Zudem fand er: «Auch wenn Werbung es nicht schafft, uns zu manipulieren, so vereinnahmt sie doch unseren gemeinsamen öffentlichen Raum.»

Patrik Brunner von der FDP konterte: «Geniessen Sie die Werbung und stören Sie sich nicht!» Werbung sei schliesslich etwas Schönes. Doch auch ihm selber wollte das nicht so richtig gelingen. Zum Schluss seines Votums richtete er sich an die AL und sagte: «Eure Plakate stören wirklich! Jeden Tag fahre ich an ihnen vorbei und denke: Fuck!»

Der Stadtrat hat nun zwei Jahre Zeit, um zu prüfen, wie die Werbescreens aus Zürich verbannt werden sollen.

Weiterführende Informationen

  • Kundenüberwachung: SBB wollen Daten auch für «wirksame Werbung», Infosperber, 5.3.23
  • «Dieser Werbung kann niemand ausweichen», Infosperber, 28.9.22
  • Werbescreens: Wegen Stromverbrauch Ausbau-Stopp gefordertInfosperber, 30.6.22
  • Werbescreens erobern die Schweiz aus HinterzimmernInfosperber, 16.2.22

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor wohnt in Zürich.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.
Portrait Pascal.Sigg.X

Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

Eine Meinung zu

  • am 26.03.2023 um 17:32 Uhr
    Permalink

    Die Werbebildschirme sind grässlich. Sie machen einen Ort zum Unort und lenken ab.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...