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Frontseite der 16-seitigen NZZ-Beilage vom 19. Mai 2016 © nzz

NZZ macht Werbung für gefährliche Börsenwetten

Ernst Wolff /  Die meisten «derivaten» Wertpapiere schaffen für die Realwirtschaft keinen Mehrwert, erhöhen aber drastisch ein Crash-Risiko.

In einer 16-seitigen Beilage hat die NZZ am 19. Mai «derivate Produkte» als «Notausgang für Investoren» empfohlen. Es handelt sich im Wesentlichen um Wetten gigantischen Ausmasses. Den Umfang dieses weltweiten Geschäfts mit Derivaten schätzt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ zur Zeit etwa auf unvorstellbare 550 Billionen Dollar. Insider gehen von 1,5 Trillionen Dollar aus. Genau weiss es niemand, weil der grösste Teil des Derivatenhandels ausserhalb der Börsen abgewickelt wird. Die Derivate erhöhen massiv das Risiko für einen globalen Finanzcrash.
Den ursprünglichen Zweck pervertiert
Zu den Derivaten gehören die Credit Default Swaps CDS. Solche Papiere hatten ursprünglich den sinnvollen Zweck, dass Investoren den Ausfall eines gewährten Kredits absichern können. Diese CDS werden jedoch frei gehandelt und es kann sie jedermann kaufen, auch wer selber gar nichts abzusichern hat. Solche Käufer von CDS – und das sind heute die allermeisten – gehen Wetten ein, dass ein Unternehmen oder sogar ein Staat pleite geht. Das verspricht mehr Gewinn als das Kaufen von Obligationen oder Aktien.


Titel aus der NZZ-Beilage «Derivate Produkte», NZZ 19.5.2016

Zahllose Grossinvestoren setzen auf solche seit 1994 existierenden gefährlichsten aller Finanzprodukte. Nicht etwa, um sich gegen Risiken abzusichern, sondern, wie erwähnt, um ganz gezielt auf den Ausfall von Unternehmen und Ländern zu wetten. Beim tatsächlichen Eintreten einer Insolvenz kann dies dazu führen, dass Grossbanken oder Versicherungskonzerne den Besitzern von CDS ein Vielfaches der Schadenssumme auf den Tisch legen müssen (wie 1998 im Fall des Hedgefonds Long Term Capital Management und 2008 im Fall des US-Versicherers AIG). Staaten und Regierungen bliebe im Ernstfall kaum etwas anderes übrig als das fehlende Geld zu drucken und es den betroffenen Finanzinstituten zum Überleben zur Verfügung zu stellen.
Wetten auf künftige Veränderungen der Zinssätze
Mit Zins-Swap-Derivaten kann man die Höhe künftiger Zinszahlungen absichern. Unternehmen und Staaten sichern sich gegen Verluste durch Schwankungen von Zinssätzen mit diesen Zins-Swap-Derivaten ab. Das kann sinnvoll sein. Aber auch diese Derivate kann man kaufen und handeln, ohne dass man tatsächlich eine Zinszahlung absichern muss – ein reines Wettgeschäft. Und das ist heute die Regel.
Diese Zins-Derivate sind mittlerweile einer der Hauptgründe, warum die Zentralbanken ihre Leitzinsen nicht erhöhen können, sondern immer weiter senken und sogar noch tiefer in den Negativbereich treiben müssen. Die Kurseinbrüche an den internationalen Aktien- und Anleihenmärkten im Januar 2016 als Folge der minimalen Zinserhöhung der Federal Reserve um minimale 0,25 Prozent im Dezember 2015 zeigen, in welch gigantischem Umfang diese Zins-Swaps mittlerweile abgeschlossen wurden. Die Folge: Den Zentralbanken bleibt in Zukunft kein Spielraum mehr für eine Erhöhung der Leitzinsen, eine Rückkehr zu den früher normalen Werten von mehreren Prozent ist damit praktisch ausgeschlossen.

Was aber bleibt Regierungen und Finanzindustrie, wenn eine Senkung des Leitzinses das Bankensystem selbst gefährdet und die immer grösseren aus dem Nichts geschaffenen Geldmengen zwangsläufig zu dessen totaler Entwertung führen müssen? Die Antwort lautet schlicht und einfach: Ein noch schärferer Angriff auf die erwerbstätige Bevölkerung.

Titel aus der NZZ-Beilage «Derivate Produkte», NZZ 19.5.2016
Lohnabhängige sind die Leidtragenden

Die vor uns liegende Phase wird von folgenden Entwicklungen geprägt sein: Die Unternehmen setzen unter dem Schlagwort der «Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit» alles daran, Löhne zu senken, Entlassungen vorzunehmen, Arbeitsbedingungen zu verschärfen und Leistungen wie Renten- und Sonderzahlungen zu kürzen, um auf diese Weise die Gewinne für die Investoren zu erhöhen. Die Staaten wiederum begleiten diese Massnahmen mit weiteren Austeritätsprogrammen, dem Abbau von Sozialleistungen, mit Personalkürzungen im öffentlichen Dienst, der Senkung von Mindestlöhnen und der Vernachlässigung der Infrastruktur.
Ausserdem werden sie den Gewalt- und Überwachungsapparat (Militär, Polizei und Geheimdienste) ausbauen, um sich gegen den zu erwartenden Widerstand seitens der Bevölkerung zu wappnen.
Teil-Konfiszierung als weitere Massnahme
Sollten diese Massnahmen nicht ausreichen und einzelne Finanzinstitute trotz aller Rettungsversuche zusammenbrechen, werden die Regierungen auf das inzwischen rechtlich in ganz Europa verankerte Bail-in zurückgreifen. D.h.: Die Vermögen von Anteilseignern, Einlegern und Sparern werden zum Teil konfisziert werden, um die betroffenen Geldinstitute am Leben zu erhalten. Grossinvestoren werden, da sie über genügend Marktinformationen verfügen, rechtzeitig abspringen und ihr Geld in Sicherheit bringen. Die Zeche wird in erster Linie die arbeitende Bevölkerung zahlen.
Massive Besteuerung von Bankguthaben
Sollte aber auch ein Bail-in nicht ausreichen, könnte ein Vorschlag des IWF auf den Tisch kommen, der 2013 in seiner Publikation «Fiscal Monitor» unter dem Titel «Taxing Times» («Zeit für Steuern») eine einmalige Vermögenssteuer in Höhe von 25 Prozent auf alle Bankguthaben zur Rettung des Systems ins Gespräch gebracht hat. Auch hier kann damit gerechnet werden, dass die Finanzelite und die Wohlhabenden dieser Welt ihr Geld rechtzeitig in nicht erreichbaren Steueroasen verstecken werden und am Ende die arbeitenden Menschen für die Verfehlungen der Finanzindustrie werden aufkommen müssen.

Die letzte Option heisst Krieg

Die erheblichen sozialen Verwerfungen, zu denen all diese Massnahmen unausweichlich führen werden, könnten die herrschende Klasse schlussendlich zu einem weiteren Mittel greifen lassen, durch das das Finanzsystem bereits zweimal, nämlich 1914 und 1939, zumindest für einige Jahrzehnte am Leben erhalten wurde. Wie die allseits praktizierte Aufrüstung, das Säbelrasseln der USA gegen Russland und China und die zunehmende globale Militarisierung zeigen, liegt die Option eines grossen Krieges bei den wichtigsten politischen Entscheidungsträgern dieser Welt bereits offen auf dem Tisch.

Wer glaubt, dass moralische Gründe diese Kräfte an der Entfesselung eines Krieges hindern könnten, der sollte einen Blick auf die Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts werfen: Wenn das System existentiell bedroht war, hat die politische Elite – die ja direkt von ihm profitiert – nie gezögert, auch diese letzte Karte auszuspielen, unendliches menschliches Leid billigend in Kauf zu nehmen und dabei einen Satz zu bestätigen, der heute mehr denn je gilt: «All wars are bankers’ wars.» – «Alle Kriege sind Banker-Kriege».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches «Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs», erschienen im Tectum-Verlag, Marburg, 26.90 CHF, sowie des Buches «Kapitalfehler – Wie unser Wohlstand vernichtet wird und warum wir ein neues Wirtschaftsdenken brauchen», Eichborn-Verlag 2016, 29.90 CHF.

Zum Infosperber-Dossier:

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Finanzcasino bedroht Weltwirtschaft

Mit unvorstellbaren Summen darf gewettet werden, dass grosse Unternehmen und Staaten pleite gehen.

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