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Die imposante Skyline von Hongkong ist nach den Regeln von Feng Shui gestaltet. © BG

China ante portas

Beat Gerber /  Hongkong bietet Globalisierung pur. Ungleichheit, Übertourismus, 5G und Anweisungsdichte werden bald auch die Schweiz beschäftigen.

Good luck! Anfang Februar hat das chinesische Jahr des Schweins begonnen. Der Neujahrstag wurde ausgiebig gefeiert. In Hongkong lockte der Umzug Hunderttausende auf die Strassen, wo sie die bunte Parade begeistert beklatschten. Das Schwein ist klug und bringt Glück, es verspricht Wohlstand und Fortschritt. So sehen es zumindest die Chinesen, die in den zahlreichen Tempeln ihre Götter mit brennenden Räucherstäbchen inbrünstig um Gesundheit und Vermögen (health & wealth) baten, ein erstaunlich abergläubisches Volk.
Hongkong ist seit 1997 eine Sonderverwaltungszone von China und geniesst aus der vorherigen Zeit als britische Kronkolonie (noch) gewisse Vorrechte bei Steuern und politisch-wirtschaftlicher Autonomie (siehe Ergänzung Nr. 1, hinten aufgeführt). Doch der starke Arm von Peking rückt näher, augenfällig etwa bei der Transportinfrastruktur. So wurden im vergangenen Herbst die 55 km lange Hongkong-Zhuhai-Macau-Brücke wie auch eine Schnellbahnverbindung zwischen der chinesischen Hightech-Metropole Shenzhen und Hongkong eröffnet. Die Waren- und Menschenströme aus dem chinesischen Festland sind seither stark angeschwollen.
Übermächtiger Hub für Finanzen und Hightech
Das Gebiet mit elf Grossstädten an der Mündung des Perlflusses ins südchinesische Meer soll zu einem übermächtigen Hub für Finanzen, Technologie und Handel werden, wie kürzlich ein Entwicklungsplan aus Peking darlegte (South China Morning Post, 19/02). Dabei soll Hongkong eine führende Rolle spielen; viele Ansässige sind aber misstrauisch gegenüber dem ehrgeizigen, vollmundig angekündigten Vorhaben (25/02).
Die vibrierende Wirtschaftsmetropole zählt 7,5 Millionen Bewohner und ist extrem dicht bevölkert (6500 Menschen pro km², Schweiz: 215). Die Folgen der Globalisierung sind unübersehbar, so schreitet die Gentrifizierung einzelner Bezirke unaufhaltsam voran. Die Stadt ist eine lärmige Riesenbaustelle. Wohnungen in den zentralen Quartieren sind für Normalverdienende unerschwinglich geworden. In hübsch gelegenen Bezirken wie Kennedy Town oder Stanley kostet ein relativ kleines Apartment (unter 100 m², ohne Meerblick) umgerechnet mehrere Millionen Franken. Auch in der Schweiz ist die Luxussanierung von Quartieren zu beobachten, am eindrücklichsten in Zürich (z.B. Europaallee, Langstrasse und Seefeld).
Ein Fünftel unter der Armutsgrenze
In Hongkong residieren weltweit (relativ gesehen) am meisten USD-Milliardäre (2). Der Anteil der Superreichen wächst weiter, während ebenso die Zahl der wirtschaftlich Bedürftigen steigt, eine Folge der zunehmenden Überalterung (3). Die Hongkonger haben eine Lebenserwartung, die zu den höchsten der Welt zählt.
Rund ein Fünftel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, davon mehr als 100’000 in äusserst prekären Verhältnissen. Mehrere übereinander gelegte, abschliessbare Käfige in einer Wohnung beherbergen da Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, dies auf engstem Raum (ca. 2 m² pro Person). Man nennt sie Käfigleute (cage people). Hongkong weist die global grösste Ungleichheit zwischen Arm und Reich aus (gemessen am Gini-Index). Die Proteste verschiedener Gruppierungen richten sich immer wieder gegen die soziale Ungerechtigkeit, bisher ohne Wirkung (13/02).
Sonntagshöck der Nannys
Einkommensstärkere Schichten hingegen geniessen ein angenehmes Leben. Luxuskarossen (Bentley, Ferrari, Mercedes, BMW und Co.) garantieren den erwünschten hohen Status, ebenso Hunde edler Rassen. Verbreitet in der City sind zahlreiche Nobelboutiquen, Feinkostläden mit westlichen Marken (Lindt & Sprüngli, Emmi, Evian), Weinshops (voll erlesener Flaschen aus Bordelais und Burgund) und noble Schönheitssalons.
Reichtum beansprucht zwingend auch Serviceleistungen: In Hongkong arbeitet fast eine halbe Million weibliche Haushaltshilfen (maids), je knapp die Hälfte davon kommt aus Indonesien und den Philippinen, wenige Prozente aus Thailand. Sie wohnen bei den reichen und mittelständischen Familien, kochen, servieren, putzen und hüten die Kinder. An ihrem freien Sonntag treffen sich die jungen Frauen in der Innenstadt, mehrere Tausend davon im Victoria Park. Dort stellen sie ihre Iglu-Zelte auf und sitzen in Gruppen zusammen, reden, essen, trinken, lachen viel, singen und beten ab und zu. Ein lebhaftes Get-together, die Dienstherrinnen sind weit weg.
Essen als zentrales Ereignis
Über alle gesellschaftlichen Klassen hinweg gilt das Essen in China als grösstes Vergnügen und zentrales Erfordernis. Die traditionelle Begrüssung auf Chinesisch enthält denn auch die Frage: Hast du heute schon gegessen? (Ni chi fan le ma?) Die Mahlzeiten sind ein soziales Ereignis, verbunden mit lauter Konversation und Kindergeschrei. Niemand isst eigentlich allein.
Die vielfältigen Speisen mit Fleisch, Fisch, Meeresfrüchten und Gemüse sind reich an Gewürzen und Zutaten und schmecken vorzüglich. Kein Vergleich mit der hiesigen Fastfood-Chinaküche. Jede chinesische Region ist stolz auf ihre Spezialitäten und Eigenheiten; in Hongkong dominiert die kantonesische Küche, bekannt für ihre milden und leicht süssen Saucen. Die omnipräsenten Esslokale decken alle Geschmäcker und Budgets ab.
Florierende Luxusgastronomie
Auch in der Gastronomie herrscht grosse Ungleichheit (4). Während die billigen Gerichte mit meist fettem Schweine- und Hühnerfleisch sowie Innereien aufwarten, werden in der Luxuskategorie kostbare Abalonen (Meerschneckenart) und die umstrittene Haifischflossensuppe aufgetischt (Tierschützer heulen auf). Doch die reichen Feinschmecker wünschen stets ausgesuchtere Delikatessen (5) – tendenziell auch in unseren Breitengraden, was die einschlägigen Lokale und Gastrojournale widerspiegeln.
Die Volksrepublik hat in den letzten Jahrzehnten eine unglaubliche Entwicklung vollzogen. Der Mittelstand ist dramatisch auf (je nach Schätzung) 300 bis 500 Millionen angewachsen und verfügt über ansehnliche finanzielle Mittel, die (wie erwähnt) zu einem beträchtlichen Teil in Statussymbole wie Haus, geräumige Wohnung, Autos, Wein und Auslandreisen investiert werden. So machen sich chinesische Touristen – in grossen und kleinen Gruppen oder im Familienverband – heute in der ganzen Welt bemerkbar. In benachbarten Ländern wie Thailand, Malaysia und Indonesien profitieren sie von den tiefen Preisen, in Honkong vom (für sie) grandiosen Einkaufsangebot mit sämtlichen westlichen Markenprodukten. Auch die Schweiz ist vom Tourismusboom aus der Volksrepublik betroffen: Am Berner Zytglogge kann der Bus jeweils beim Glockenspiel um 12 Uhr kaum mehr passieren, Massen von vorwiegend chinesischen Reisegruppen versperren den Weg.
Übertourismus an Topdestinationen
Prognostiker erwarten in naher Zukunft jährlich weltweit gegen 200 Millionen chinesische Touristen. Allein in Hongkong stieg der Tourismusstrom aus dem Festland-China letztes Jahr um 11,4 Prozent auf 51 Millionen Gäste (01/01). Mit negativen Nebenerscheinungen. Die Topdestinationen sind ganzjährig völlig überlaufen, die Wartezeit für das historische Tram auf den Victoria Peak hoch über der Stadt beträgt mehrere Stunden. In gewissen Quartieren beklagen sich Hongkonger, dass aufgrund des chinesischen Besucheransturms die kleinen Läden durch Shoppingzentren verdrängt werden und die Mietpreise steigen.
Übertourismus kennt nicht nur Hongkong, das ein attraktives Stadtbild mit vielen Sehenswürdigkeiten bietet (6). Venedig, Dubrovnik, Bangkok oder die Tempelanlage Angkor Wat in Kambodscha können ein Lied davon singen. Dabei steigen die Ansprüche: Der neue chinesische Tourist will nicht mehr bloss Souvenirs kaufen, die er nicht brauchen kann. Er ist jünger, vermögender und abenteuerlicher als der kommune Massenreisende. Der Trend zu teuren Individualreisen ist ebenfalls in der Schweiz zu beobachten, man denke an die jüngst angebotenen, exklusiven Helikopterflüge in alpine Skigebiete. Oder die neue Excellence Class im Glacier-Express samt 5-Gang-Menü und Weinbegleitung.
Vorbildlicher Hongkonger ÖV
Das Wachstum hat seine unschönen Kehrseiten. Der Verkehr in Asien leidet an Dauerkollaps, die Strassen in Shanghai, Manila, Bangkok, Kuala Lumpur und Jakarta sind pausenlos verstopft, für wenige Kilometer sitzt man mehrere Stunden im Wagen, die Luftverschmutzung gefährdet in gefährlichem Ausmass die Gesundheit. Öffentliche Verkehrssysteme sind ungenügend ausgebaut oder ineffizient. Das mit seiner ausgedehnten U-Bahn (im Zwei- bis Drei-Minuten-Takt), den zweistöckigen Trams und Bussen erschlossene Hongkong ist geradezu beispielhaft, die Luftqualität übersteigt hier jährlich «nur» an 60 Tagen die Grenzwerte (07/02).
Der Energiekonsum für Verkehr und Kühlung ist weiterhin am Wachsen, meist produziert aus fossilen Treib- und Brennstoffen (7). Elektroautos sind noch selten, hie und da sieht man in Hongkong einen funkelnden Tesla. China baut (neben dem Kohlestrom) auch die Kernkraft aus. Insgesamt sind in der Volksrepublik 38 AKWs in Betrieb, 19 weitere im Bau und 39 geplant (Nuklearforum, Stand Anfang 2018). Auch im Westen werden neue AKW-Reaktortechnologien angesichts des Klimaschutzes wieder diskutiert. Ein delikates Thema, ideologisch aufgeladen.
Führungsrolle Chinas im Klimaschutz?
In der Schweiz (und einigen europäischen Ländern) bringen die Demonstrationen der Schülerinnen und Schüler für wirksame Massnahmen gegen die Erderwärmung das politische Establishment auf Trab. Auch die Hongkonger Zeitungskommentatoren fordern einen aktiven Klimaschutz, vorzugsweise möglich unter globaler Führung (09/02). Das Klimachaos sei ebenso an der Perlflussmündung angekommen. Die Neujahrstage erreichten einen Wärmerekord, und letzten September wurde Hongkong von einem mächtigen Taifun getroffen, der verheerende Schäden anrichtete.
Es gibt sogar westliche Stimmen, die China eine führende Rolle bei der Umsetzung des Klimaschutzes zusprechen, zum Beispiel der in Hongkong aufgewachsene, britische Autor John Lanchester (24/02). Ein Grund sei unter anderem das demokratische Defizit, weil in diesem grossen Land grundlegende Veränderungen schneller und effizienter realisiert werden könnten. Gefordert wird Pragmatismus statt Schuldzuweisung (z.B. Klimasünder) wie im Westen, dies bedingt natürlich die Einführung der Kostenwahrheit, die gemäss Verursacherprinzip möglichst sämtliche Umweltkosten in den Preisen (Energie, Flüge usw.) einschliesst!
Technologische Führerschaft
China ist inzwischen zur zweiten politischen und ökonomischen Weltmacht aufgestiegen und strebt nun die technologische Führerschaft an. Hightechkonzerne wie Huawei kopieren längst nicht mehr westliche Produkte, Unternehmen aus Shenzhen (30 km nördlich von Hongkong) gelten heute als ebenso erfinderisch wie ihre Konkurrenten im kalifornischen Silicon Valley. Huawei hat den schnellsten Chip für 5G (neuster Mobilfunkstandard) entwickelt und arbeitet bereits mit vielen westlichen Firmen zusammen (z.B. Sunrise und Swisscom). Hongkongs Universitäten zählen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) zu den weltbesten. Die Angst der USA, dass China beim Internet der Dinge die Nase vorne haben könnte, ist spürbar. Millionen von Jobs sind in Gefahr (09/02). 5G ist mit der Huawei-Affäre zum geopolitischen Zankapfel geworden.
In Hongkong versteht man das Misstrauen des Westens gegenüber Huawei nicht. Die Verhaftung der Huawei-Finanzchefin in Kanada auf Geheiss der US-Behörden Anfang Dezember wird denn auch als Affront gegenüber der chinesischen Kultur und Mentalität verstanden. China sei nicht primär an Spionage- und Überwachungspraktiken in Zusammenarbeit mit Industriefirmen interessiert, wie sie 2013 der US-amerikanische Whistleblower und ehemalige CIA-Mitarbeiter Edward Snowden in den amerikanischen Geheimdiensten (z.B. mit Cisco-Produkten, BG) enthüllt habe, schreibt der Kommentator (01/02). Vielmehr ginge es der Volksrepublik ums Ausspionieren politischer Oppositioneller.
Chinesischer Big Brother
Die soziale Überwachung (basierend auf KI und 5G) ist denn auch ein heiss diskutiertes Thema. Die Hongkonger befürchten eine graduelle Abnahme ihrer Privilegien und eine ebenso totale individuelle Kontrolle wie auf dem chinesischen Festland. Die Debatte wird erstaunlich offen und ausführlich in der Zeitung geführt. Big brother is watching – and he’s keeping score (Big Brother beobachtet – und er zählt Punkte), titelte die South China Morning Post (08/02/2019) einen längeren Artikel über das soziale Kontroll- und Kreditsystem, das in China ab 2020 flächendeckend eingesetzt werden soll (8). Die Redaktion fragte sich, ob das Überwachungssystem in einer Orwellschen Dystopie enden werde oder einfach eine weitere ärgerliche bürokratische Massnahme darstelle. Die Frage blieb auch nach der Auslegung der Argumente offen, die Regierung legitimiert die Überwachung ihrer Bürger mit der Garantie von Sicherheit und Ordnung.
Das Zusammenleben grosser Populationen auf engstem Raum erfordert zweifellos unzählige Regeln und Verbote. Jederzeit und überall hört, liest und sieht man diese Dos and Don’ts, eindringlich in der Hongkonger Metro: Please mind the gap! – Don’t drink, eat, litter and smoke! Die Vorschriftendichte ist extrem hoch, sie grenzt beinahe an Gehirnwäsche. Unterwegs im öffentlichen Raum werden die Leute stets sanft, aber bestimmt geführt: Always hold the handrail! – Halten Sie immer den Handlauf! Vielleicht müssen wir uns in einer 10-Millionen-Schweiz auch an solch permanente Anweisungen gewöhnen, subtil korrektiv wirken ja bereits all die politischen Korrektheiten (verpönter Fleischkonsum, geächtete Flugreisen, gendergerechte Sprache usw.).
Feindbild China
China ist uns Europäern in vieler Hinsicht fremd, oft auch ein Feindbild. Der helvetische Tunnelblick genügt nicht, um diese Welt in all ihren Facetten zu verstehen. Was in China geschieht, ist hierzulande weitgehend unbekannt, ausgenommen sind Katastrophen, Menschenrechtsverletzungen, militärische Aufrüstung und andere Schreckensmeldungen. Das Korrespondentennetz der westlichen Medien wurde arg ausgedünnt, Hintergrundberichte zum tieferen Verständnis der Volksrepublik (und Hongkong) sind selten geworden.
Doch China wird für uns weit bedeutender werden. Nicht nur wirtschaftlich und technologisch (mit neuem Huawei-Falthandy), auch kulturell. Wer offen bleibt, findet in der fremden Kultur einzigartige Einsichten, etwa in der traditionellen Medizin (9). Oder im Verhalten der Menschen: Die Chinesen sind beileibe kein Volk der Galanterie, aber spürbar weniger aggressiv, rüpelhaft und erbittert als wir Schweizer. Sie lachen auch mehr, sind fröhlicher. Es herrscht mehr Gleichmut, der in der Öffentlichkeit (nicht privat) in Gleichgültigkeit münden kann. Please mind the gap! heisst es jeweils beim Ein- und Aussteigen in Hongkongs Metro, damit man zwischen Waggon und Perron nicht ins Leere tritt und sich verletzt. Achtung auf die Kluft! gilt auch für einen (gegenseitigen) respekt- und verständnisvollen Umgang zwischen dem Westen und China.
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Der Beitrag entstand während eines fünfwöchigen Aufenthalts in Hongkong und anhand der regelmässigen Lektüre der «South China Morning Post» (Ausgabe jeweils in Klammern). Die 1903 gegründete Zeitung gehört seit 2016 der chinesischen Online-Handelsplattform Alibaba, unterliegt aber offiziell nicht der Zensur der Volksrepublik. Eine gewisse Selbstzensur bei kritischen und politisch heiklen Artikeln, die der Staatsführung in Peking nicht genehm sein könnten, ist trotzdem nicht auszuschliessen. Das Blatt (Auflage ca. 120’000) versteht sich als internationales Qualitätsmedium, das der Welt China erklären soll. Seine täglichen Meinungsseiten sind ein intellektueller Lesegenuss. Die Online-Ausgabe (via App) ist kostenlos. Nachfolgend sind einige anekdotische Ergänzungen zum Haupttext aufgeführt.

(1) Eine Nation, zwei Systeme: Charakterisiert offiziell (gemäss dem Reformer Deng Xiaoping) das Ordnungsprinzip Chinas mit einerseits dem neoliberalen Kapitalismus in Hongkong (und Macau) sowie anderseits dem totalitären Staatskapitalismus der Volksrepublik.
(2) Superreiche: Ende 2018 gab es weltweit 2470 USD-Milliardäre, davon 658 in China und 584 in den USA (Quelle: Hurun Global Rich List, 27/02/2019). In Hongkong haben sich gemäss dem Wirtschaftsmagazin Forbes etwa 70 Tycoons eingenistet (Vergleich Schweiz: 48). Der reichste Mann in der Volksrepublik ist Jack Ma, Chef der Alibaba Group und Besitzer der South China Morning Post, mit einem Vermögen von 39 Milliarden USD.
(3) Altersarmut: Bei den Senioren (Ruhestand für Frauen ab 55, für Männer ab 60) sind laut offiziellen Angaben 30 Prozent unter der Armutsgrenze, Tendenz infolge der Überalterung steigend. Auch in der Schweiz könnte die Altersarmut längerfristig zum Problem werden, wenn auch weniger drastisch.
(4) Übergewicht: Die Hälfte der Hongkonger sind gemäss einer Regierungsstudie übergewichtig, die Hauptgründe sind zu viel Fett und wenig Bewegung (27/02/2019). Auf der Strasse sind aber überwiegend schlanke und normalgewichtige Leute zu sehen, die korpulenten bleiben wohl eher zu Hause. Auffallend sind hingegen die vielen westlichen Junk-Food-Ketten wie McDonald’s, Kentucky Fried Chicken und etliche chinesische Varianten davon.
(5) Luxusgastronomie: Die Nachfrage nach Abalonen (Seeohren) steigt rasant, auch der Mittelstand in der Volksrepublik will jetzt die delikate Meeresfrucht auf dem Teller haben. In Südafrika gibt es riesige Abalonenzuchten, die billigere Seeohrenschnecken für den chinesischen Markt liefern. Die chinesische Mafia soll das Geschäft mit dem weissen Gold fest im Griff haben. Eine andere Leckerei ist der hochtoxische Kugelfisch. Chinesische Züchter haben den teuren Fisch in den letzten Jahren vom tödlichen Gift befreit (08/02/2019). In Japan (er heisst dort Fugu) braucht es für die Zubereitung ein spezielles Zertifikat, weil ein Fehlschnitt bei der Zerlegung winzige Giftmengen aus der Leber freisetzen kann, die beim Verzehr sofort tödlich wirken. Jetzt können also die weniger mutigen Feinschmecker das effektiv hauchzarte Fischfleisch (zergeht förmlich auf der Zunge) gefahrlos geniessen. Der Markt boomt ebenso wie derjenige für Abalonen.
(6) Gestörtes Stadtbild: Hongkong entzückt die Besucher mit einem ästhetisch ausgewogenen Stadtbild. Die zahlreichen Wolkenkratzer auf der Hongkong-Insel sind gemäss der Feng-Shui-Lehre architektonisch ausgestaltet und angeordnet worden – mit einer Ausnahme: Die mächtige Bauherrin des 367 Meter hohen Turms der Bank of China mit seinen scharfkantigen Formen widersetzte sich ausdrücklich den taoistischen Harmonieprinzipien. Deshalb hat die Besitzerin des benachbarten Gebäudes, die HSBC (Hongkong & Shanghai Banking Corporation), auf dem Dach zwei Unterhaltskräne wie Kanonen angeordnet und gegen den Bank-of-China-Turm gerichtet. Damit soll die schlechte Energie der Konkurrenzbank, ausgelöst durch das spitze, messerartige Design ihres Wolkenkratzers, ferngehalten werden (16/02). Die Episode (um 1990) verdeutlicht, wie im High-Tech-Hongkong immer noch Tradition respektiert wird. Oder eben auch nicht!
(7) Schiefergasgewinnung: Über 1000 Personen haben letzthin gegen die lokale Regierung in der Provinz Sichuan protestiert (27/02). Grund ihres Unmuts waren verschiedene Erdbeben, die bei der breit angelegten Förderung von Schiefergas (Fracking) in dieser Region auftraten. In die mehrere Kilometer tiefen Bohrlöcher werden mit Hochdruck Wasser und Chemikalien gepresst, was die Bodenstruktur in der Tiefe verändert und (wie bei der Geothermie) Beben auslösen kann. Beim mächtigsten Erdstoss der Stärke 4,9 (sic!) wurden zwei Menschen getötet und zwölf verletzt.
(8) Gesichtserkennung: In Hongkong geht die Angst um, dass die Sonderverwaltungszone über kurz oder lang an die kurze Leine kommt und auch hier die öffentliche Gesichtserkennung zur Sozialkontrolle eingeführt wird. Privatfirmen und Spitäler setzen die KI-Technologie schon länger zur Identifizierung von Personal und Besuchern ein (23/02). Die Volksrepublik testet die Überwachungsmethode in ausgewählten Pilotgebieten und wendet sie vermehrt in der Praxis an. Zum Beispiel sollen anscheinend in den Toiletten eines Pekinger Parks diejenigen Benutzer registriert werden, die mehr als 60 cm WC-Papier beziehen (27/07/2018). Damit will man Papierdiebe ertappen und bestrafen. Auch wer bei Rot an der Ampel über die Strasse marschiert, soll mit Abzug bei den Sozialkreditpunkten und entsprechenden Konsequenzen rechnen müssen (Reiseverbote, Drosselung der Internetgeschwindigkeit, Verweigerung eines Studiums usw.). Es gibt aber auch Benefits bei Wohlverhalten wie sozialem Engagement oder ökologischem Verhalten (Tickets für Kulturveranstaltungen, Visumerleichterungen für Auslandreisen usw.). Noch sind Ausmass und Konsequenzen des Sozialkreditpunktesystems weitgehend unbekannt, auch für die Chinesen (und Hongkonger), beste Voraussetzungen für Gerüchte und Fake-News.
(9) Chinesische Heilkunde: Wer sich auf die über 3000-jährige Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) einlässt, gewinnt neuartige Erkenntnisse über blockierte Energien (Qi) im Körper, welche die Ursache bestehender Krankheiten sind oder neue auslösen können. Die dagegen verschriebene Medizin (Kräuter, Akupunktur, Schröpfen, Massage) strebt eine körperlich-geistige Harmonie an und soll ganzheitlich wirken, anders als der westliche, physische Ansatz mit Blutdrucksenkern, Statinen und Kortison. Pulsmessung und Zungenanalyse sind die wesentlichen Diagnostikmethoden. Grosse, teure Maschinen und Instrumente sind unnötig. Selbstverständlich hat TCM bei bestimmten Krankheiten wie etwa Krebs ihre Grenzen. Als Ergänzung zu unserer digitalisierten, metrischen Schulmedizin ist sie durchaus sinn- und wirkungsvoll.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich.

Zum Infosperber-Dossier:

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Chinas Innenpolitik

Hohe Wachstumszahlen; riesige Devisenreserven; sozialer Konfliktstoff; Umweltzerstörung; Herrschaft einer Partei

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Beat Gerber

Der langjährige TA-Wissenschaftsjournalist und ehemalige ETH-Öffentlichkeitsreferent publiziert auf www.dot-on-the-i.ch Texte und Karikaturen. Kürzlich erschien sein erster Wissenschaftspolitkrimi «Raclette chinoise» (Gmeiner-Verlag).

Eine Meinung zu

  • am 15.03.2019 um 13:39 Uhr
    Permalink

    Sehr eindrücklicher Bericht mit relativ wenig Wertungen.
    Es macht eben einen Unterschied ob jemand 5 Wochen «in» einem Land direkt ist ode «über» ein Land indirekt mit Zahlen berichtet.

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