Kommentar
Sozialdienst als Bedingung für ein Grundeinkommen
Das Hauptproblem aller Industriestaaten liegt darin, dass uns die bezahlte Arbeit ausgeht und dass der Sesseltanz um die verbleibenden Jobs immer groteskere Formen annimmt. Das gilt auch für die Schweiz: Was wir 2015 produziert und investiert haben, können 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung mit einer 42-Stundenwoche herstellen. Wenn der aktuelle Produktivitätsfortschritt anhält, reicht in 15 Jahren die Arbeit von 60 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Die Beschäftigung könnten wir nur konstant hoch halten, wenn wir den Konsum um 15 Prozent steigerten. Doch das geht schon aus ökologischen Gründen nicht. Würden wir nur so viel produzieren und konsumieren, wie die Umwelt zulässt, reichte rund ein Drittel der gegenwärtigen Erwerbsarbeit. Die Arbeit ist knapp und sie wird tendenziell immer knapper.
Dass wir trotzdem (noch) eine tiefe Arbeitslosenquote haben, hängt damit zusammen,
- dass wir die Ausgesteuerten nicht mitrechnen,
- dass wir einen Exportüberschuss von weit über 10 Prozent des BIP haben, und
- dass sich bei uns auch der Mittelstand sehr viel Luxus leistet kann – Restaurant, Kino, Wellnesstudio, Massage, Ferien, Schönheitschirurgie usw. Vor allem aber arbeiten viele nicht Vollzeit, sondern nur Teilzeit. Im Durchschnitt ergibt das ein Arbeitspensum von 80 Prozent
.
Genau hier lauert denn auch die erste und grösste Gefahr: Wenn auch der Mittelstand das Vertrauen in ein sicheres Arbeitseinkommen verliert, wird er seinen Konsum einschränken und sein Teilzeitpensum gegen ein 100-Prozent-Pensum tauschen wollen. Dann wird der Sesseltanz um die Arbeit zum Höllenritt.
Nachteil des heutigen Sozialstaats
Ein Grundeinkommen kann diese Ängste besänftigen. Unser Sozialstaat will das auch – und erst noch effizienter. Seine Eingriffe sind gezielt, nicht bedingungslos. Doch er hat einen Nachteil, der ihn für die real existierende Arbeitswelt zunehmend ungeeignet macht. Seine Leistungen sind an den Arbeitsmarkt gekoppelt:
Die Rente hängt vom Arbeitseinkommen ab
Das Arbeitslosengeld auch. Zudem ist es mit einem immer unsanfteren Zwang zur Arbeitsaufnahme verbunden. Und das wiederum beschleunigt den Sesseltanz um die bezahlte Arbeit, drückt die Löhne und verschärft die Ungleichheit.
In Deutschland, wo einst Bismarck den Sozialstaat erfunden hat, geht demnächst die erste Generation der prekär Beschäftigten und Niedriglöhner in Pension. Weil sich viele von ihrem Lohn noch nicht einmal eine Rente von 700 Euro ersparen konnten, fordert die SPD jetzt eine «Lebensleistungsrente», beziehungsweise eine Aufstockung auf ein sehr knapp bemessenes Existenzminimum. Das Problem liegt darin, dass der Arbeitsmarkt heute ganz anders und viel weniger fair funktioniert, als sich die Gründerväter des Sozialstaats das vorgestellt hatten. Sonst hätten sie den Sozialstaat nicht auf das wacklige Fundament des Arbeitsmarktes gestellt.
In der Schweiz funktionieren der Arbeitsmarkt und damit auch der Sozialstaat zwar noch besser. Aber wir leben nicht auf einer Insel und müssen gegen das gewappnet sein, was uns der Konkurrenzkampf von aussen aufdrängt.
Zweifel an rückgängiger Erwerbsarbeit
Doch geht die bezahlte Arbeit wirklich zurück? Gegen diese These werden üblicherweise zwei Argumente vorgebracht.
Zum einen wird behauptet, dass die Arbeit trotz allen Unkenrufen und trotz neuen Technologien noch immer zugenommen habe. Die Statistik weiss es besser: Seit 1980 sind die Arbeitszeiten pro Beschäftigten in Deutschland, Frankreich und in der Schweiz um 22, 18 und 12 Prozent geschrumpft. Es gab zwar konjunkturelle Schwankungen, aber der Trend ist eindeutig.
Das zweite Argument wiegt schwerer. Danach sollen die steigenden Gesundheits- und Pflegeaufwendungen für zusätzliche Beschäftigung sorgen.
Unbezahlte Arbeit aufwerten
Mag sein, doch wer sagt denn, dass die Alten und Kranken nicht (auch) von ihren Kindern, Enkeln und Nachbarn gepflegt werden können? Produktive Leistungen werden in unserer Gesellschaft nicht nur gegen bezahlte Arbeit erbracht. Und unsere Gesellschaft kennt nicht nur finanzielle, sondern auch soziale Verpflichtungen. Doch wenn wir diese Gesellschaft einseitig entlang den finanziellen Verpflichtungen und der bezahlten Arbeit organisieren, verdrängen wir die freiwillige Arbeit und entwerten wir die sozialen Verpflichtungen. Wer täglich sechs «zumutbare» Stunden Arbeitsweg auf sich nehmen muss, um acht schlecht bezahlte Arbeitsstunden zu leisten, kann weder Kinder aufziehen noch seine Eltern pflegen, und wenn er selbst zum Pflegefall wird, muss der Staat die Zeche zahlen.
Sozialethiker schlägt Grundeinkommen mit obligatorischem Sozialdienst vor
Die Neuaufteilung der bezahlten und der unbezahlten Arbeit, sowie der Interessensausgleich zwischen Arbeit und Kapital sind zwei entscheidende Zukunftsthemen. Ein Grundeinkommen kann dazu einen Beitrag leisten und für den nötigen «New Deal» zwischen Arbeit und Kapital sorgen. Ob es allerdings diesen Zweck erfüllt, wenn es «existenzsichernd» und «bedingungslos» sein soll, ist eine andere Frage.
Vielleicht müssen wir andere Formen suchen. Der emeritierte Professor für Sozialethik, Hans Ruh, schlägt für die Schweiz ein arbeitsunabhängiges Grundeinkommen von monatlich 1500 Franken vor, «das einerseits für eine breite Schicht von Menschen eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen Lage bringt, das aber anderseits den Anreiz für die Übernahme der eigenen Verantwortung, sprich: den Anreiz für das Erbringen von eigenen Leistungen, nicht schwächt.» Ergänzend dazu will Ruh einen für alle offenen obligatorischen Sozialdienst einrichten. Auf diese Weise könnte man fliessende Übergänge zwischen der bezahlten und der unbezahlten Arbeit ermöglichen.
Das Stichwort dazu heisst «Nachbarschaften entwickeln». Wie das konkret umgesetzt und auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden könnte, kann man in einer gleichnamigen Broschüre der NGO Neustart Schweiz nachlesen. Die Ideen von Hans E. Widmer und seinen Mitstreitern haben den Vorteil, dass man sie sofort lokal anwenden kann, ohne erst ein ganzes Land in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu stürzen. Die Zeit für ein nationales Grundeinkommen ist noch nicht reif. Aber wir müssen heute schon Strukturen vorbereiten, welche die fatale Abhängigkeit von (schlecht) bezahlten Arbeiten verringern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Danke für den klaren Text, dem es eigentlich nichts hinzuzufügen gibt, ausser zwei Zahlen zur Verdeutlichung.
"Würden wir nur so viel produzieren und konsumieren, wie die Umwelt zulässt, reichte rund ein Drittel der gegenwärtigen Erwerbsarbeit.»
oder anders ausgedrückt: Datum für den schweizerischen Earth Overshoot Day, dem Tag als bereits mehr Ressourcen verbraucht wurden als die Erde im Jahr hergibt, war 2015 am 15. April!
"doch wer sagt denn, dass die Alten und Kranken nicht (auch) von ihren Kindern, Enkeln und Nachbarn gepflegt werden können?"
2014 beliefen sich die «heimbedingten Ergänzungsleistungen» bei CHF 2 Mia. Zieht man diesen Betrag vom Gesamtbetrag der EL ab, macht das pro Bezüger einen Betrag von CHF 719. Zusammen mit den durchschnittlichen Nettoausgaben für Sozialhilfe pro Jahr bei CHF 789, zusammen also rund CHF 1’000 weniger als das bGE.
Das heisst, dass auch dieses Argument der nicht gedeckten Sozialleistungen nicht stimmt!
Vielen Dank für diesen Artikel. Endlich eine ruhige und vernünftige Argumentation für das Grundeinkommen. Schade nur wird im letzten Abschnitt vor einem Ja gewarnt und ausgerechnet mit dem Argument, die Zeit sei noch nicht reif dazu! Und wenn die Schweiz für einmal der Zeit voraus wäre?
Oswald Sigg
Der positiven Position für ein Grundeinkommen für alle kann ich nicht folgen, weil sie vor negativen ökonomischen Entwicklungen resigniert, anstatt gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik anzutreten. Die immer ungerechtere Verteilung der Arbeit und der Einkommen muss man nicht einfach hinnehmen, sondern gegensteuern. Das völlig ungenügende Grundeinkommen bewirkt das Gegenteil davon: Ob 2’500 oder 1’500 Franken, beide Beträge sind nicht existenzsichernd und rechtfertigen indirekt prekäre Lebenssituationen und Armut. Der Einsatz für Mindestlöhne (Fr. 4’000), Vollbeschäftigung und tiefere Arbeitszeiten oder die Umverteilung der immer gigantischeren Einkommens- und Vermögensunterschiede ist für mich viel realistischer und zukunftsgerichtet. Wenn die Initianten ihre über 200 Milliarden teuere Idee noch in erster Linie vom Einkommensteil bis 2’500, also mit einer sehr hohen Kopfsteuer bezahlen wollen, machen sie klar, dass sie an der ungerechten Verteilung gar nichts ändern wollen. Das ist nicht utopisch, sondern schlicht neokonservativ.
Zimmerman spricht einen wichtigen Punkt an: Ein Grundeinkommen könnte den verhängnisvollen Deal zwischen den Staaten und dem globalen Unternehmertum zementieren. Der Deal geht so: Wir produzieren bei Euch, aber ihr zahlt die Differenz zwischen unseren Löhnen und dem Existenzminimum. Die Befürworter sagen, dass das Grundeinkommen diesen Deal –eigentlich eine Bankrotterklärung der Marktwirtschaft – in einem zentralen Punkt aushebelt: Die Staatsgelder sind nicht mehr an eine (mies bezahlten) Arbeit geknüpft. Das Grundeinkommen funktioniere wie eine individuelle Streikkasse und stelle so das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt wieder her. Das ist denkbar. Doch diese Hoffnung könnte sich leicht als frommer Wunsch erweisen.
Auch die von Zimmermann und auch von mir (siehe hier und hier) geforderte Anhebung der Mindesteinkommen löst das zentrale Problem des Arbeitsmarktes nicht: Die offiziellen Arbeitszeiten sind gemessen am Bedarf (an Konsum und Arbeit) viel zu lang. So lange diese Sesseltanz um die schwindende Arbeit anhält, sitzen die Arbeitgeber am längeren Hebel. Die von Gewerkschaften und Sozialdemokraten ungeliebte Diskussion um das Grundeinkommen ist die Quittung dafür, dass sie das Thema der Arbeitszeitverkürzung jahrzehntelang verpennt haben. Jetzt ist es dafür zu spät. Bei den Tieflöhnen, welche die Gewerkschaften (in der EU) zugelassen haben, sind kürzere Arbeitszeiten nicht mehrheitsfähig. Mit einem Grundeinkommen wäre diese Diskussion wieder möglich.
Werner Vontobel
Den Artikel betrachte ich als ausgezeichnet, objektiv und sachlich. Dennoch stimmt für mich der Ansatz mit einem pauschalen, nicht-zweckgebundenen Grundeinkommen nicht.
Ich plädiere für einen anderen Weg:
Zweckgebundener Verwendung der Mittel durch Verbilligung der Güter und Dienstleistungen welche ein Existenzminimum sichern.
Als eigentliches Problem erachte ich nicht den Beschäftigungsgrad oder die Produktivität der Wirtschaft und Gesellschaft sondern die viel zu hohen Lebenshaltungskosten. Statt im Giesskannenprinzip unkontrolliert Geld zu verteilen erachte ich eine Verbilligung der wirklich nötigen Dinge des täglichen Lebens wie z.B. Grundnahrungsmittel, Krankenkassenprämien, Bildung die in einem definierten «Grund-Warenkorb» zusammengefasst werden können (Details müssten aber sicher noch diskutiert und festgelegt werden) als weitaus effizienter und zielführender. Eine Zweckbindung eines Grundeinkommens lässt sich nicht durchsetzen, genausowenig wie eine Verpflichtung zu einem obligatorischen Sozialdienst – ein Missbrauch ist vorgezeichnet. Eine Verbilligung der Kosten für die Grundbedürfnisse hingegen hilft allen und ist weit effizienter und unbürokratischer realisierbar. Es lässt sogar gewisse Steuerungsmechanismen zu, z.B. mit einer Ausrichtung auf eine gesunde Ernährung duch gezielte Subventionierung der entsprechenden Lebensmittel u.s.w.. Damit werden weder der Wettbewerb verzerrt noch sonstige Präjudizien geschaffen.
@Oswald Sigg: Herr Sigg, leider haben auch Sie oft davon geredet, dass die Initiative wohl keine Chance hat und auch Herr Häni sprach in den letzten Interviews, zu letzt heute in der BAZ, dass es kein JA geben wird. Ich bin allerdings durchaus optimistisch, dass es gelingen kann. Ich wrüde Sie gerne persönlich sprechen, Sie erreichen mich unter sk(@)stephanklee.ch – Danke für die bis dahin geleistete Arbeit!
@Rolf Zimmermann: Herr Zimmermann, das Grundeinkommen entlastet die Finanzschwächsten und sorgt so sehr wohl auch zur Umverteilung mit. Je nach konkreter Umsetzung, lässt sich die Umverteilung und tiefere Arbeitszeiten erreichen.
@Werner Vontobel: Herr Vontobel, Sie beschreiben die aktuelle Situation sehr schön, nur dass sie gängige Praxis ist. Globale Unternehmen kommen und gehen, wo es gerade am günstigsten ist. Viele Kantone, die diesen Unternehmen sehr entgegengekommen sind, kämpfen nun aber auch mit ihren Finanzen, da diese globalen Firmen ja genau wissen, wie sie das Minimum an Steuern zahlen und das Geld in Briefkästen verschwinden lassen können.
@Roland Hausin: Leider ist auch ihr Ansatz nicht praktikabel und viel zu kompliziert. Die Zeit aber drängt, dass der mündige Bürger das Zepter in die Hand nimmt, so wie bei der Energiewende, wie heute in verschiedenen Medien zu lesen ist. Das bGE ist nicht Giesskannenprinzip, aber nun gehen mir bald die Zeichen zu Ende. Wenn Sie also wissen möchten, wieso ich dieser Meinung bin, dann fragen Sie hier.
Beim BGE geht es meiner Meinung nach nicht um eine Umverteilung von oben nach unten oder um eine Änderung des «verhängnisvollen Deal zwischen den Staaten und dem globalen Unternehmertum», wie Herr Vontobel schreibt.
Wenn ich hier «unten» Dank der BGE selbstbestimmt leben kann, dann ist mir egal, wie viel «die da oben» haben oder welchen Profit globale Unternehmen machen. Mir und den anderen hier «unten» geht es gut.
@Herr Hausin: in diesem Warenkorb gingen die Wohnungsmieten vergessen, für mich und ganz viele andere der grösste regelmässige Ausgabeposten. Dann bin ich mit Ihnen. Nur: wie machen wir das den Vermietern klar?
@Franz Abächerli: Danke für den richtigen und wichtigen Hinweis. Meine Aufzählung ist keineswegs abschliessend, sie stellt nur mal meine Idee für eine Ausgangslage dar. Richtig, das Thema Mieten ist nicht so einfach zu lösen.
@Stephan Klee: Der Ansatz ist durchaus praktikabel und weit weniger kompliziert als es auf den ersten Blick erscheint. Zumindest verhindert er einen Missbrauch der Gelder da der Mitteleinsatz absolut zweckgebunden ist.