Klimademo

Klimademo in Aarau: Jugendliche fordern eine Klimapolitik, die der Krise gerecht wird. © flickr/cc

Lernen für das andere Leben

Hans Steiger /  Blicke in ein deutsches Schulbuch: nach der Anti-Klima-Wahl in der Schweiz und vor der Weltkonferenz bei den Ölmagnaten in Dubai.

Es gibt – von der Grammzahl wie vom Anspruch her – gewichtigere Bücher zur Klimafrage als das kleinformatige blaue Bändchen der altehrwürdigen Reclam Universal-Bibliothek. Doch die auf den ethischen Aspekt des weiterhin vordringlichsten Themas konzentrierte Sammlung von Unterrichtsmaterial «für die Sekundarstufe II» beeindruckte mich. Es traf auch im passenden Moment ein, nämlich im Umfeld des nationalen Urnengangs vom 22. Oktober, für den seit Monaten das Gegenstück zur «Klimawahl» von 2019 vorhergesagt worden war, und im Vorfeld einer weiteren globalen Klimakonferenz, welche vom 30. November bis zum 12. Dezember ausgerechnet in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden wird, in der protzigen Metropole der Ölförderländer.

Rückblende zum 15. September: Schlusskundgebung der wohl für längere Zeit letzten Klima-Demo in Zürich, organisiert zum weltweit 13. Globalen Klimastreik-Tag: Ich war überrascht, wie wenig den Jugendlichen auf dem Podium die Enttäuschung über den – verglichen mit Manifestationen vor vier Jahren – bescheidenen Aufmarsch anzumerken war. Mit einem neuen Aktionsplan sollten nun von der Basis her auch lokal endlich konkretere Projekte vorangetrieben werden. Und dazu wurde gefordert, das Klimaproblem an Schulen zum zentralen Thema zu machen. Denn wer dort heute angeblich für das künftige Leben lerne, erfahre kaum etwas über die absehbar verheerenden Folgen des Versagens der Politik. Die von den aktuellen Entscheiden noch Ausgeschlossenen müssten jedoch mit dem Desaster umzugehen wissen. Dies die Erinnerung an ein mich besonders beeindruckendes Votum auf dem Helvetiaplatz.

Letzte und erste Reden

Kurz danach, an einem jener unheimlich sommerlichen Herbsttage, traf der Reclam-Reader mit Materialien und Reflexionen zur Klimaethik ein. Umgehend setzte ich mich damit an die milde Sonne, las das Vorwort und die ersten Texte – zwei knappe Auszüge aus 2015 sowie 2018 gehaltenen Reden. Roger Willemsen trug seine «Zukunftsrede» im Wissen um den baldigen Tod vor. Titel: «Wer wir waren». Das wäre wohl in den Blicken derer zu erkennen, die man enttäuscht haben wird, «die kommen und an uns verzweifeln werden». Der zweite Beitrag bietet Passagen aus der ersten öffentlichen Rede von Greta Thunberg. Viele wüssten wahrscheinlich noch nicht, wie ernst die Lage sei, stellte sie beim Auftritt am Klimamarsch in Stockholm fest, zu dem ihr weltweit ermutigender Schulstreik den Anstoss gegeben hatte. Als «beinahe das Schlimmste» beklagte sie das Verhalten von all jenen, «die ihr euch tagtäglich dazu entscheidet, wegzusehen, weil ihr offenbar mehr Angst vor den Veränderungen habt, die einen katastrophalen Klimawandel verhindern können, als vor dem katastrophalen Klimawandel selbst.» Ich zitiere dies hier und jetzt auch als Nachwahlkommentar. Wer noch Kind sei, könne später «nichts mehr an dem ändern, was ihr heute falsch macht».

Nach diesem Auftakt wird es von Kapitel zu Kapitel konkreter, fundierter, umfassender, auch was die Dimension der notwendigen Veränderung betrifft. «Nicht nur beim Einzelnen, sondern vor allem in Wirtschaft und Politik müssen sich Prinzipien, Werte und Weltbilder ändern», wird in der Einleitung eines Abschnitts zum «gesellschaftlichen Handeln» deutlich festgehalten. Zwar finden sich unterschiedliche Darstellungen möglicher Wege, aber alle wirken mit Blick auf die realen Verhältnisse radikal. Auch die Frage, ob es angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems überhaupt Lösungen ohne Revolution gebe, wird nicht einfach vom Tisch gewischt. Beschönigungen, gar ein Leugnen der Lage finden hier zu Recht keinen Platz. Sachwissen wird vorausgesetzt. Es geht um das ethische Grundieren der Auseinandersetzung mit Scheinlösungen, um engagiertes Handeln. Anregungen für intensive Recherchen sowie Aktionen in oder ausserhalb von Schulen machen das deutlich.

Eine nahrhafte Lektüre

Der kleine blaue Band sei «ein relevantes Lese-, Arbeits- und Diskussionsbuch», auf die Lehrpläne der letzten Stufe allgemeinbildender Schulen in Deutschland abgestimmt und einsetzbar in den Fächern Philosophie/Ethik, Politik/Gemeinschaftskunde sowie Religion, schreibt der Verlag. Klaus Draken und Jörg Peters, die beiden Herausgeber, seien selbst erfahrene Lehrer und seit Jahren in der Lehrerfortbildung tätig. Sie sollten also abschätzen können, wie viel Chancen ihre nahrhafte, aber anspruchsvolle Kost beim Zielpublikum – dem jungen und dem alten – haben dürfte. Die zuweilen schonungslose Konsequenz ihrer Fragestellung verblüffte mich; manchmal war die Lektüre trotz Vorwissen eine massive Herausforderung. Immer mit Erkenntnisgewinn. Ob es derartige Lehrmittel auch hierzulande gibt? Wo werden sie genutzt?

Klimaethik_Reclam
Klimaethik. Philosophische Reflexionen, Appelle und Aktionen. Texte und Materialien für den Unterricht. Hrsg. von Klaus Draken und Jörg Peters. Reclam, Stuttgart 2023, 255 Seiten, CHF 11.90

Sie müssten im Sinne der Klimastreik-Forderung eigentlich Pflichtstoff sein. Und zwar nicht nur an Schulen. Ethik ist nötig, um politisch verantwortlich zu wirken, aus all den Meldungen und Meinungen eine vertretbare Haltung zu entwickeln und entsprechend zu handeln. Dass das heute alles andere als einfach, sondern wohl so komplex wie nie ist, wird deutlich. Angesprochen werden etwa die Rechte kommender Generationen und der Natur, postuliert wird globale soziale Gerechtigkeit. Papst Franziskus steht da auch als Kapitalismuskritiker nah bei Naomi Klein. Eher rar bleiben jüngere Stimmen wie Luisa Neubauer von Fridays for Future. Immerhin wird empfohlen, aktive Leute aus solchen Bewegungen ins Klassenzimmer zu holen.

Technofallen als Beispiel

Beispielhaft für die differenzierte Darstellung wichtiger Aspekte ist ein Abschnitt über das sogenannte Climate Engineering, mit dem die Welt entweder elegant gerettet oder aber im Falle des eigentlich vermeidbaren Notfalls vor den schlimmsten Folgen verschont werden soll. Hier wird nicht allein die Plausibilität der «Argumente des kleineren Übels» analysiert, sondern auch deren Nebenwirkung. Ist nämlich das Anpreisen technischer Lösungen «mit ethischer Kurzsichtigkeit» verknüpft, kann es unsere Aufmerksamkeit auf die falschen Fragen lenken, zu völlig verantwortungslosem Handeln führen – oder zum verhängnisvollen Nichtstun.

2015 hat ein im Internet publiziertes «ökomodernes Manifest» international Kontroversen ausgelöst. Versuche, die heutige Menschheit auf herkömmliche Art wieder mit der Natur zu vereinen, würden zum Desaster für Mensch wie Natur, wurde dort gewarnt, während sich mit modernen Technologien «natürliche Ökosystemkreisläufe und -dienstleistungen» künftig effizienter nutzen und Auswirkungen auf die Biosphäre reduzieren liessen. Damit würde «der Weg zu einem guten Anthropozän» frei. Basis werde «eine neue Generation nuklearer Technologien» sein, die auch zur Klimastabilisierung benötigte Energie «sicher und billiger» liefern. Dem vorab amerikanisch inspirierten Aufruf hielt ein Physiker und Philosoph aus Deutschland entgegen, «Technikgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus» seien in der Praxis wie theoretisch zu oft widerlegt worden, um jetzt wie Glücksspieler beim Roulette auf eine bestimmte Zahl zu setzen. Er ist in der Technikfolgenforschung tätig, sodass seine Warnung vielleicht mehr ins Gewicht fällt als die dazu anderswo bemühte Parallele zu fahrlässigem Sex. Dafür dürfte diese den Diskussionsprozess beleben.

«Das Prinzip Verantwortung»

Dass die Technik auch ein Element sorgsamen Handelns sein kann, bleibt unbestritten. Janina Loh kommt im perspektivischen Schlussteil auf diese Problematik zurück. Anlass dazu bot der Technikphilosophin die eingangs erwähnte «Zukunftsrede» von Willemsen. «Technik ist neutral» sei Quatsch, eine bequeme Behauptung und ein Versuch, sich der Verantwortung zu entledigen, schrieb sie, denn nicht Maschinengewehre töten Menschen, und nicht Menschen töten Menschen, «sondern Menschen mit Maschinengewehren töten Menschen». Dann wird «Das Prinzip Verantwortung», das Hans Jonas schon 1979 dem Prinzip Hoffnung entgegensetze, als Basis einer den neuen Bedrohungen angemessene Zukunftsethik genommen und ein an das Europäische Parlament gerichtetes Votum von Greta Thunberg dazu gestellt. 2019 erklärte dort die 16-Jährige, wir könnten «um das Jahr 2030 herum» bereits «eine unumkehrbare Kettenreaktion in Gang gebracht haben, die wahrscheinlich zum Ende der Zivilisation führen wird» – jedenfalls der heute bestehenden. Die letzte der Schulbuchaufgaben lautet, zu dieser Aussage «begründet» Stellung zu nehmen. Wer wagt das? Aktuell ist da ja immerhin ein weiterer naher Krieg mit einzubeziehen, der die Lage verschärft, Kräfte und Mittel bindet, globale Zusammenarbeiten erschwert.

Dieser Text erscheint auch in der P.S.-Winter-Buchbeilage, dort mit weiterer Sachliteratur im Kontext.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die Klimapolitik kritisch hinterfragt

Die Menschen beschleunigen die Erwärmung der Erde. Doch kurzfristige Interessen verhindern griffige Massnahmen.

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