Das globale Abfallproblem müsste die Köpfe zum Rotieren bringen
Red. Marcos Buser ist Geologe, Abfallspezialist und Mitglied der Stiftung 5RSt-Ursanne für Kreislaufwirtschaft. Ein Gastbeitrag.
Ein Ranking der Abfall-«Sünder» lenkt vom tatsächlichen Problem ab
Um neue Atomkraftwerke wieder akzeptabel zu machen, verglich Walter Rüegg in der NZZ die radioaktiven Abfälle mit anderen Abfällen und titelte «Vorteil Radioaktivität». Er wies beispielsweise darauf hin, wie gefährlich und toxisch der Kupferabbau aus Bergwerken sei. Tatsächlich gibt es viele andere Abfallarten als Radioaktivität, welche für die Umwelt und die Menschheit langfristig gefährlich sind.
In seinem Vergleich hätte Rüegg das Schwermetall Blei mit einbeziehen können, das in modernen Kernreaktoren der vierten Generation als Kühlmittel eingesetzt wird oder werden soll. Dann sähe die Bilanz anders aus.
Doch der Ansatz des promovierten Kernphysikers Walter Rüegg in der NZZ wird den wirklichen Problemen unserer Zivilisationsabfälle nicht gerecht.
Angesichts der katastrophalen Situation in Sachen Abfallflut braucht es weder ein Ranking der «sündhaften» Schadstoffe noch einen Wettbewerb in technologischer Überlegenheit. Denn was giftiger oder schlechter sei, ist angesichts der Abfall-Sintflut zweitrangig.
Viel wichtiger ist es heute, die grossen Zusammenhänge der Abfallproblematik besser zu erkennen und zu verstehen. Nur mit diesen Erkenntnissen können wir der Vergiftung unserer Welt durch Zivilisationsabfälle Einhalt gebieten und nach langfristigen Lösungen Ausschau halten.
Es geht um folgende drei Problemkreise:
Universalität und Komplexität des Phänomens
Ein erstes Problem ist die kaum mehr zu überblickende Abfallflut und die damit einhergehende Vielfalt von Substanzen und Substanzgemischen. Es zeigt die Universalität dieses Phänomens. Von klimaschädigenden Gasen, giftigen Schadstoffcocktails im Grundwasser und festen Giftkuchen. Und dazu der ganze Müll, der sich im nahen Weltraum ansammelt.
Unsere Produkte bestehen schon lange nicht mehr aus einzelnen Stoffgruppen, wie es früher Holz, Naturtextilien oder Kautschuk waren. Die heutigen Konsum-Erzeugnisse sind komplexe technologische Stoffgebilde, die aus ineinander verschachtelten Bestandteilen aufgebaut sind. Abfall ist zu einem furchtbar komplexen Ding geworden. Verwickelt zusammengesetzt und überall verteilt auf der Erde, bis hin in ihre entferntesten Ecken.
Unsere Umwelt ist zur «Cloaca maxima» der weltweiten Konsumwirtschaft verkommen. Der Mensch hat es tatsächlich geschafft, seinen Lebensraum innerhalb von zwei Generationen ernsthaft zu gefährden. Und es geht ungebremst weiter. Die Abfallflut hat heute bereits die Dimension natürlicher Sedimentationsprozesse überholt. Dass selbst die schönen Urlaubsstrände mittlerweile Plastikhalden gleichen, die an Sommertagen aufwendig geputzt werden müssen, und deren Sande immer mehr aus unterschiedlichsten Plastikteilchen bestehen, mutet nur noch kafkaesk an.
Die Gemische solcher Rückstandshalden werden immer giftiger.
Mikro- und Nano-Schadstoffcocktails vom Hirn zum Marianengraben
Dabei wissen wir es nämlich schon seit Rachel Carson’s Tagen des «Stummen Frühlings», also seit über 70 Jahren: Schadstoffe wirken auch in kleinsten Mengen, wenn sie durch industrielle Prozesse verteilt und verdünnt in die Umwelt gelangen.
Unsere gut informierte Gesellschaft müsste sich bereits im Klaren sein über die Mikro- und Nano-Plastikfibern in unseren Hirnen. Bereits wird vermutet, dass diese auch neurodegenerative Störungen und Krankheiten begünstigen. Siehe Infosperber vom 16. Juli: «Plastik in Hoden, Plazentas und Hirnen».
Weniger Aufmerksamkeit als die Plastikpartikel in menschlichen Organen erheischt die Mikroplastikflut, die sich in die Meeresgewässer bis hin zum 11’000 Meter tiefen Marianengraben ergiesst. Sie enthält alles, was der Mensch je in die Hände nahm. Auch in urbanen Kanalisationen vereinen sich alle möglichen dünnflüssigen Schadstoff-Süppchen, die – mit menschlichen Ausscheidungen vermischt – alle in Haushalten anfallenden Produkte und Konsumwaren in sich vereinen, von Entfettungsmitteln und Sprays über Kosmetika und Putzmittel bis hin zu Arzneimitteln und Drogen. Von dort gelangen sie via Abwasserreinigungsanlagen ins Fliess- und Grundwasser.
Aus all diesen Süppchen fischen Kleinlebewesen die Spurenstoffe wieder hervor, konzentrieren sie und bringen sie schliesslich über die Nahrungskette wieder auf den Tisch. Eine wahre Kreislauf-Schadstoff-Wirtschaft. Alles fein säuberlich verteilt und re-konzentriert.
Das Problem dabei ist, dass sich diese kleinstverteilten Schadstoffcocktails nur schlecht, wenn überhaupt behandeln lassen. Und die Liste dieser Cocktails wird immer länger und reicher an Substanzen. Es kommt zudem zum mikrobiellen Abbau oder zur Umwandlung der Abfallstoffe in toxische Tochterprodukte, oft unter Bildung von Metaboliten (Stoffwechselabbaustoff). Und dagegen ist kein Kraut gewachsen.
Langfristige Schäden
Hinzu kommen die Langzeiteffekte. Beim Klima etwa spricht man von langzeitwirksamen Schäden. Zu Recht. Die Hitzerekorde jagen sich. Tuvalu versinkt im Pazifik. In den Bergen böllern die Hänge herunter. Der Permafrost taut und gast aus. Was die vom Menschen gemachten Anteile angeht, stammen die Sünder – CO2, Methan, und andere – mehrheitlich aus Verbrennungsprozessen.
Als Kältemittel und Treibgase eingesetzte Chlor-Fluor-Wasserstoffe vervollständigen die Liste und besorgen den Abbau der die Erde schützenden Ozonschicht.
Die grosse Menge der an die Luft abgegebenen Gase sorgt dafür, dass die Effekte – ob Klimabeeinflussung oder Ozonabbau – langlebig und über Generationen wirksam sind.
Auf viele erfundene Stoffe ist die Natur nicht gefasst
Bei den Wunderstoffen der organischen Chemie sieht es nicht besser aus. Viele dieser synthetischen, also im Chemielabor entdeckten und hergestellten Verbindungen haben wunderbare Eigenschaften: als Kühl-, Kälte- oder Lösungsmittel, als Mittel für die Insektenvernichtung oder gegen den Pilzbefall usw.
Die Kehrseite: Die Umwelt ist nicht auf diese neuen Stoffe eingestellt. Sie kennt sie nicht. Synthetische organische Stoffe wirken darum häufig extrem toxisch für Lebewesen und sind sowohl besonders gesundheitsschädlich als auch eine Bedrohung für die Biodiversität. Sie bauen sich kaum ab, und wenn überhaupt, dann nur sehr langsam. Diese Persistenz der Schadstoffe führt dazu, dass sie, einmal in der Natur abgelassen, über Hunderte und Tausende von Jahren in der Umwelt verbleiben.
Wenn sie abgebaut werden, entstehen die schon erwähnten teils toxischeren Metaboliten. Und so geht es weiter und weiter mit all den möglichen, vom Menschen geschaffenen Schadstoffen bis hin zu hochradioaktiven Abfällen, die eine Laufzeit von hunderttausenden von Jahren und mehr haben. Der Fussabdruck der Abfallflut ist also nicht nur breit und tief, er ist auch extrem lang.
Es ist Zeit zum Aufräumen
Was können wir aus dieser Aufzählung lernen? Wir Lebende und die gesamte Mit- und Umwelt sind von dieser Entwicklung betroffen. Es ist ein gewaltiges, von uns selbst eingeleitetes Experiment einer Autoimmunisierung mit Schadstoffen aller Art, das unkontrolliert abläuft. Niemand kann sich dagegen wehren. Die Menschheit kann nicht mehr zurück. Wir sind in der Handlung der Vergangenheit gefangen, die unsere Zukunft bestimmt. Definitiv und unausweichlich.
Wenn man all dies nun zusammenzählt, müsste man meinen, ein Aufschrei ginge durch die Gesellschaft. Aber weit gefehlt. Man nimmt zwar die Vergiftung wahr, ist besorgt, doch lebt und konsumiert man gleich so weiter wie bisher.
Was soll man den anderes tun? Grundlegend ändern kann der Einzelne nicht viel – meint er jedenfalls. Und mit Hans Fallada gesprochen kann man sich dann gerade nur noch die Frage stellen: «Kleiner Mann, was nun?» Wie lange soll es mit diesem Modell noch weitergehen? Und was kann man realistischerweise daran noch verändern? Dies sind Grundfragen, die wir uns heute stellen müssen. Angesichts dessen, dass wohl kaum jemand auf die angenehmen Seiten des Konsums verzichten will.
Doch es ist definitiv Zeit zum Aufräumen. Zum Aufräumen dieses Abfalldramas, das vergangene Generationen verursacht haben, das wir als weitgehend ausgelieferte Opfer fortführen, und das wir als Täter in zunehmendem Ausmass auf künftige Generationen und Generationen vererben.
Viel Wissen ist vorhanden, wo gehandelt werden soll und kann. Die Rezepte sind eigentlich klar. Nichts Revolutionäres, sondern weitsichtige Handlungsanweisungen und harte Arbeit.
- Ein grundlegender Umbau unseres Wirtschaftens.
- Griffigere Gesetze. Wirtschaftliche Fördermittel und Sanktionen.
- Gifte vermeiden.
- Die Substitution von toxischen Schadstoffen bis hin zum Verbot von Substanzen oder bestimmten Stoffgemischen.
- Kreislaufwirtschaft. Rückgewinnung von Stoffen durch neue Technologien. Recycling.
- Teurere und langlebigere Produkte. Behandlungskaskaden einrichten.
- Exportverbote, etwa von Kleidern nach Südamerika oder Afrika.
- Strukturanpassungen, auch in der Aufsicht.
- Es muss Geld her. Viel Geld für all die Altlasten der Vergangenheit. Man muss den Stall des Augias ausmisten.
Eine enorme Herausforderung. Aber es bewegt sich etwas: Diese Entwicklung kommt langsam in Gang.
Fokus vom Abfall auf die Produktion lenken
Vor allem aber gilt: Wir müssen die Abfallwelt neu denken. Die Produktionslogik muss grundlegend neu gedacht und verändert werden. Nicht vom Produkt zum Abfall, sondern vom Abfall her gedacht zurück zum Produkt.
Es braucht die Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema. Das Abfallproblem muss endlich in die Köpfe. Bei Alten wie bei Jungen. Über alle kulturellen Grenzen hinweg.
Es wird zwar Zeit brauchen. Zwei, vielleicht drei Generationen oder mehr. Aber wir schulden dies nicht nur unseren Kindern und Nachfahren, sondern auch der Tier- und Pflanzenwelt, die von dieser Gift-Sintflut betroffen ist.
Mit einem «Ranking des Bösen» kommen wir definitiv nicht weiter. Es braucht einen gesellschaftlichen Neuanfang, der die Komplexität des Themas Abfall berücksichtigt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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