Sperberauge
Ein Film fürs Mitfeiern und Fremdschämen
Der Himmel über Zürich ist milchig weiss. Die Waldbrände in Kanada trüben nicht nur die Sicht, sondern belasten auch die Luftqualität in Europa. Die Nachmittagstemperatur steigt gegen 30 Grad Celsius. Meine Frau kommt von der Qi-Gong-Stunde zurück und fällt erschöpft auf die Chaiselongue. Die tüppige Hitze setzt ihr zu. Meine Gedanken wandern zurück zum Film «Trop Chaud» über die Klimaseniorinnen, für den wir uns kürzlich an einem frischen Regentag ins Kino setzten.
Mutige Frauen
Der Film begleitet die beharrlichen Frauen auf ihrem achtjährigen Weg durch die Instanzen. Amüsiert darf das Publikum den kämpferischen Groove der Seniorinnen miterleben, die neben den vielen Sorgen und Enttäuschungen auf dem Weg zum finalen Erfolg eben auch viel Spass miteinander haben. Da hat sich eine Gruppe von Frauen aus sehr verschiedenen Milieus in einem Verein zusammengefunden, der schiesslich internationale Prozessgeschichte schreiben wird.
Vor gut einem Jahr, am 9. April 2024, jubelten die rüstigen Klägerinnen über ein überraschendes Gerichtsurteil: Ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führte zum Erfolg. Die Grosse Kammer urteilte, dass die Schweiz das garantierte Menschenrecht auf Achtung des Privatlebens, Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), verletzt habe und ebenso das Menschenrecht auf ein faires Verfahren, Art. 6 der EMRK. Das Gericht verpflichtete die Schweiz, schärfere Klimaschutzmassnahmen zu treffen und konkrete Reduktionsziele bei Treibhausgas-Emissionen zu formulieren.
Die Anwältinnen Bähr und Simor
Nachdem die nationalen Instanzen die Klagen allesamt abgewiesen hatten, blieb den Seniorinnen nur noch der Weg nach Strassburg. Die federführende Anwältin, Cordelia Bähr, war sich nicht zu schade, kurz vor der entscheidenden Gerichtsverhandlung das Plädoyer der Kronanwältin mit englischer Muttersprache, Jessica Simor, anzuvertrauen. Resultat dieser Selbstbescheidenheit: Ein eklatanter Qualitätsunterschied des mündlichen Vortrags: hier die eloquente Stimme des klagenden Vereins der Klimaseniorinnen und dort die hölzerne, fahrige der verteidigenden Partei, der Vertretung der Schweiz. Die zentralen Wortmeldungen im Gerichssaal und die richterlichen Interventionen sind im Film im O-Ton zu verfolgen, wie auch strategische und taktische Absprachen hinter den Kulissen. Die Fachzeitschrift «Nature» setzte denn auch letztes Jahr Rechtsanwältin Cordelia Bähr auf die Liste der zehn wichtigsten Persönlichkeiten der Wissenschaft: Nature’s 10.
Fremde Richter
Die offizielle Schweiz reagierte äusserst pikiert auf die Verurteilung aus Strassburg. Viele Politikerinnen und Politiker verfielen beleidigt in den alteidgenössischen Fremde-Richter-Abwehrreflex und versuchten, das Gericht oder die Seniorinnen mit mehr oder minder originellen Argumenten schlechtzureden. Der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber zum Beispiel fragte im Nationalratssaal: «Finden Sie es dann nicht auch einen absoluten Hohn, wenn genau diese Bevölkerungsgruppe oder Teile dieser Bevölkerungsgruppe hingehen und unser wunderbares Land verklagt und unsere direktdemokratischen Instanzen verhöhnt, weil sie im Sommer ein bisschen zu heiss haben.» Im Namen der ständerätlichen Rechtskommission sprach der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch von «gerichtlichem Aktivismus». Andere Stimmen empfahlen dem Bundesrat, ganz in Sinne einer österreichischen Redewendung, das Urteil nicht mal zu ignorieren.
Historisches Urteil
Der Verein «humanrights.ch» schreibt, der Richterspruch aus Strassburg sei deshalb historisch, weil zum «ersten Mal ein internationales Menschenrechtsgericht einen Staat wegen seiner Untätigkeit im Bereich Klimaschutz verurteilt hat». Den Richtern und Richterinnen sei durchaus bewusst gewesen, dass sie eine neue Dimension in die Rechtsprechung einbringen, indem sie zum ersten Mal einen Kausalzusammenhang zwischen dem Anstieg der Treibhausgasemissionen und den Menschenrechten von Einzelpersonen herstellten.
«Trop Chaud»
Wer sich mit den Frauen freuen mag oder sich ein wenig in Fremdschämen über die Schweiz üben möchte, kann sich im lokalen Kinoprogramm die Vorstellungszeiten des Films «Trop Chaud, KlimaSeniorinnen vs. Switzerland» heraussuchen. Es lohnt sich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das Gericht ignoriert, dass es rein rechnerisch völlig wurscht ist, ob die Schweiz Treibhausgase reduziert oder nicht. Davon wird es den «Klimaseniorinnen» nicht kälter. Der Anteil der Schweizer Treibhausgase am weltweiten Ausstoß wird wohl im tausendstel Bereich liegen und hat somit keinen messbaren Einfluss auf die Erwärmung in der Schweiz. «Klimaschutzmaßnahmen» ist ebenfalls ein nettes Etikett, das vor allem sehr viel Geld kostet, jedoch nachweislich nirgendwo die Temperaturen nennenswert senken konnte. Interessant ist, wen die «Klimaseniorinnen» verklagen, wenn die Schweiz alles umsetzt, die Temperaturen aber trotzdem weiter steigen. Ob das EGMR der souveränen Schweiz konkrete Maßnahmen und Handlungen vorschreiben darf, deren Verhängung allein dem Stimmvolk obliegt, ist außerdem grundsätzlich anzuzweifeln. Das EGMR hat ja keine Handhabe, seinen Urteilsspruch auch durchzusetzen, insofern könnte der Spruch bald totes Recht sein.
Herzlichen Dank für diesen Artikel und all die Verweise.
Trolle, die offenbar grundsätzlich jeden Infosperber-Artikel als «nicht nützlich» brandmarken, gibt es viele. Aber hier ist der Anteil negativer Stimmen erstaunlich hoch. Offenbar hat es viele Männer unter den Lesern, die nicht nachvollziehen können, dass Frauen ein ganz anderes Temperaturempfinden haben und stärker leiden als sie…