Strom verschwenden. Manova.de

Den Kühlschrank nur kurz öffnen, den Inhalt intelligent verteilen und die Temperatur ein oder zwei Grad höher stellen: All das spart Strom. © Manova.de

So können progressive Stromtarife funktionieren

Urs P. Gasche /  Statt absatzfördernde Mengenrabatte wie in der Schweiz gibt es in Italien, Kalifornien und Südkorea längst progressive Tarife.

Haushalte, die viel Strom brauchen und verschwenden, werden in weiten Teilen der Schweiz noch immer finanziell begünstigt: Viele Elektrizitätswerke belohnen den Mehrverbrauch mit tieferen Stromkosten pro Kilowattstunde. Sie tun dies mit fixen Grundgebühren.

Die daraus sich ergebenden Mengenrabatte werden von Konsumenten- und Umweltorganisationen schon seit Jahren beanstandet. Sie forderten im Gegenteil schon im Jahr 2008 progressive Tarife: Verschwenderische Haushalte sollen für eine kWh mehr zahlen müssen als sparsame.

Doch progressive Stromtarife waren bisher kein Thema, sondern eher ein Tabu. Weder die Kantone als Besitzer von grossen Elektrizitätsgesellschaften noch Bundesparlamentarier noch der Bundesrat noch Wirtschaftswissenschaftler noch grosse Medien brachten progressive Tarife in die öffentliche Diskussion. Anders beispielsweise in Deutschland, wo Forscher der Universität Münster sowie der Freien Universität Berlin schon 2011 Studien darüber veröffentlichten.

Progressive Tarife führen in Wohnhäusern und Wohnungen zu weniger Stromverbrauch

Besonders überraschend war das Fazit einer Berliner Studie mit dem Titel «Progressive Tariffs for Residential Electricity Consumption – An Option for Germany?» nicht: Ein progressiver Tarif könnte den Verbrauch privater Haushalte mittelfristig um 6 bis 10 Prozent und langfristig um bis zu 20 Prozent senken. Langfristig geht der Stromverbrauch stärker zurück, weil das Anschaffen von stromsparenden Geräten nicht von einem Tag auf den anderen passiert. Kurzfristig kann man mit Duschen, Abwaschen, Waschen, Licht, Standby-Funktionen und Ähnlichem Strom einsparen.

Hier ein Beispiel, welche finanziellen Auswirkungen dreifstufige progressive Tarife auf einen Haushalt mit zwei Personen haben können. Die drei Tarifstufen hängen bei diesem Beispiel vom bisherigen Stromverbrauch ab: Der Strom bis zu 60 Prozent des bisherigen Verbrauchs wird am günstigsten. Der Stromverbrauch, der über dem bisherigen Durchschnitt liegt, wird am teuersten.

Auswirkungen Grafik 2011
So können sich progressive Stromtarife auf die Kosten eines Haushalts auswirken: Wer weniger verbraucht, zahlt pro kWh weniger (dritte Säule), wer mehr verbraucht, zahlt pro kWh mehr (vierte Säule). Etwas grössere Auflösung der Grafik hier.

Die Wirkung progressiver Tarife hängt laut der Berliner Studie von mehreren Faktoren ab. Unter anderen:

  • Einteilung der Tarifstufen.
  • Preisunterschiede zwischen den Stufen. Ein Grundbedarf könnte einheitlich sehr billig festgesetzt werden, ein überdurchschnittlicher Verbrauch sehr teuer.
  • Ob die Tarifstufen für alle gleich sind oder ob sie wie im Beispiel oben vom bisherigen Verbrauch abhängen. Der bisherige Verbrauch als Grundlage berücksichtigt, ob ein Haushalt beispielsweise das Warmwasser mit Strom heizt oder mit Öl oder Gas. Oder ob mit Wärmepumpen elektrisch geheizt wird und auch ein Elektroauto getankt wird. Beim Warmwasser, Heizen oder Tanken locken langfristig grössere Sparmöglichkeiten.
  • Sobald in der Schweiz auch für Endverbraucher wie bereits in Deutschland die freie Wahl des Stromanbieters eingeführt wird, müssten die progressiven Tarife für alle Anbieter verbindlich sein.

Ein anderes Fazit der Berliner Studie: Damit progressive Tarife die Verbrauchsgewohnheiten so stark wie möglich beeinflussen, braucht es eine begleitende wirksame Kommunikationsstrategie.

Mangelnde Ausgestaltung in Italien und Kalifornien

Die peer-reviewed Studie von Christian Dehmel der Universität Münster analysierte ebenfalls bereits im Jahr 2011 die Erfahrungen in Italien und in Kalifornien. In beiden Ländern wurden progressive Tarife weniger wegen der Stromverschwendung eingeführt als aus sozialen Gründen: Einen Grundbedarf an Strom sollten sich alle Menschen leisten können. Fazit von Dehmel: «Progressive Tarife allein sind kein gutes sozialpolitisches Instrument.»

Die Wirkung progressiver Stromtarife auf den Verbrauch sei jedoch positiv: «Es gibt einige Hinweise darauf, dass progressive Tarife sogar kurzfristig eine Wirkung haben.» Längerfristig sei ein Potenzial progressiver Tarife als Instrument der Energieeffizienz vorhanden.

Auch Dehmel sieht einen grossen Nutzen in Begleitmassnahmen, nämlich in der «Verknüpfung von progressiven finanziellen Anreizen mit Informationen über Stromsparmöglichkeiten in den Haushalten, kommunikativen Massnahmen und der aktiven Förderung anderer Instrumente wie Bonusprogramme für energieeffiziente Kühlgeräte in einem Gesamtpolitikmix».

Es lohne sich, bei einer Einführung progressiver Tarife in Deutschland Folgendes zu bedenken, schrieb Dehmel im Jahr 2011:

«Erstens sollten progressive Tarife für alle Haushalte verpflichtend sein, wie es in Italien und in Kalifornien bereits der Fall ist. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist, dass in Italien die Haushalte ihren Energieversorger auf dem freien Markt wählen können, was in Kalifornien derzeit nicht der Fall ist. Zweitens kann die Progressivität in allen Teilen des Strompreises eingeführt werden, je nachdem, wie der reguläre Rahmen aussieht. In Italien ist die Progression an die nicht wettbewerbsfähigen Bestandteile des Strompreises gebunden (Übertragungsgebühren, allgemeine Systemkosten, Steuern), während in Kalifornien nur die wettbewerbsintensiveren Elemente des Erzeugungs- und Verteilungspreises progressiv sind. 
Wenn ein progressives Tarifsystem nicht obligatorisch ist und die Verteiler entscheiden können, ob sie diese Tarife anbieten oder nicht, und die Haushalte ihren Stromversorger wählen können, werden diejenigen mit hohem Verbrauch wahrscheinlich ihren Vertragspartner wechseln.» 

Weiter stellt die Dehmel-Studie fest:

«In Zeiten der Energiekrise wurden in Italien und Kalifornien progressive Tarife zu einer praktikablen Option, um finanzielle Probleme sowohl für die Verbraucher als auch für die Stromwirtschaft zu lösen, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen bei der progressiven Gestaltung. Aber auch ohne eine Energiekrise wie in Italien bzw. nach der Energiekrise in Kalifornien haben Regierungen und Regulierungsbehörden die progressiven Systeme beibehalten, obwohl bisher keine systematische Studie über die Auswirkungen progressiver Tarife auf den Stromverbrauch durchgeführt wurde. Es sieht so aus, als würden sie mehr und mehr als Energieeffizienz-Instrumente angesehen. Die Vielzahl der Einzelergebnisse dieser Studie unterstützt die positive Wirkung progressiver Tarife auf die Stromeinsparung, insbesondere wenn sie nicht als einzelnes Instrument, sondern als wichtige Säule in einem Mix von Energiesparinstrumenten betrachtet werden.»

Progressive Stromtarife in Südkoreas Hauptstadt Seoul

Eine neuere Studie von 2020 untersucht die Folgen der progressiven Stromtarife, welche die Stadt Seoul im Jahr 2017 eingeführt hatte, um – wie viel früher Italien – einkommensschwache Haushalte zu entlasten, weil diese im heissen Sommer viel Strom zur Klimatisierung brauchen. Bei den 402 untersuchten Wohnungen konnte ein geringerer Stromverbrauch geschätzt werden. Signifikant weniger Strom verbrauchten eher Haushalte, in denen Menschen eng zusammenlebten und in denen überproportional viele Männer wohnten.


Fazit: Es ist administrativ nicht so einfach, auf progressive Tarife umzustellen. Die Bedingungen müssen gut abgestimmt sein. Und begleitend braucht es eine Informationskampagne. Aber wer überzeugt ist, dass Preise das Verhalten beeinflussen und dass finanzielle Anreize marktkonformer und effizienter sind als Vorschriften und Verbote, muss für progressive Tarife eintreten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 11.09.2022 um 17:10 Uhr
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    Dass sich so der Verbrauch etwas senken liesse, liegt auf der Hand. Die Gleichsetzung von «viel Strom brauchen» und «Strom verschwenden» scheint aber mit Blick auf Kranke und Behinderte problematisch. Sie wären die Verlierer einer solchen Regelung.

  • am 11.09.2022 um 18:12 Uhr
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    «Viele Elektrizitätswerke belohnen den Mehrverbrauch mit tieferen Stromkosten pro Kilowattstunde. Sie tun dies mit fixen Grundgebühren.»
    Das gibt es hier nur für gewerbliche Betriebe mit hohem Stromverbrauch. Für Privathaushalte oder EFH-Besitzer geht da gar nichts, weil der jährliche Stromverbrauch viel zu tief ist. Und der Anteil der Grundgebühren ist marginal, aber höher für einen Gewerbebetrieb.
    Einen Durchschnittsverbrauch gibt es nicht (wie im Artikel erwähnt), weil vor allem EFH Besitzer völlig unterschiedlich aufgestellt sind: die einen benutzen Strom, Gas, Heizöl, Holz, Treibstoff usw., andere benutzen für ALLES ausschliesslich Strom! Dann eben doppelt so viel wie der «Durchschnittsverbraucher».
    Wer käme auf die Idee, den Treibstoffverbrauch für Fahr- und Flugzeuge progressiv zu bepreisen? Das Gegenteil ist der Fall. Flugzeuge und viele öffentliche Verkehrsbetriebe bezahlen keine Treibstoffsteuer. Trotzdem suchen alle nach Treibstoff sparenden Verkehrsmitteln.

  • am 11.09.2022 um 21:07 Uhr
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    Danke, ein gutes Konzept. Z.B. Alterssiedlungen. Wer an OPC leidet und rund um die Uhr auf elektrische Geräte angewiesen ist, wie z.B. Sauerstoffüberwachung, Atemfrequenzüberwachung, usw. Oder wer auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen ist und andere Hilfsmittel, um den Leidensdruck zu verkleinern. Menschen welche die Wohnung ohne Wegbegleitung kaum mehr verlassen können, aber sozial über das Internet gut vernetzt sind, ein Modem braucht im mindesten 20 Watt wenn es gut eingestellt ist, die Netzanbieter kommunizieren, man solle es nicht abschalten, das könne zu Störungen führen. EBanking braucht Strom, alte Menschen mit ihrem Laptop können ihre Einzahlungen mit Lesebrille und noch nicht vertraut mit der neuen Technologie nicht in 15 Minuten abwickeln, sie brauchen Zeit, die Stunde kostet sie mindestens 120 Watt. Am Bildschirm mit Enkeln kommunizieren, 150 Watt die Stunde. So kommt gegenwärtig eine Person mit elektrisch Kochen auf 2500.- pro Jahr. All dies müsste beachtet werden.

  • am 13.09.2022 um 16:55 Uhr
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    Guten Tag,
    es klingt in den Leserbriefen an, das die Bürger zur Kasse gebeten werden. Der Rest hat in Sachen Energie Narrenfreiheit. Warum wird die Vergeugung durch den Sport nicht abgeschafft (Formel 1; Rasenheitzung etc) Solange das nicht geschieht, geht es den Menschen noch viel zu gut. Die Industrie und das Militär sind Maxi-Verschwender, Mehrfachverwendung von Formglas spart sehr viel Energie. Die Produktion von Neu-Glas ist eine sehr energieaufwendige Sache. Es wird mit dem Finger auf den Bürger gezeigt, um von den Maximal-Sündern abzulenken. Deshalb bitte nur Bedürfnisproduktion anstatt Profit-Produktion. Viele Grüße Kurt Wolfgang Ringel, Braunschweig .

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