Natur in Stadt

Grüne Insel in der Stadt: Auch kleinste Flächen erhöhen die Lebensqualität. © cc-by kreetube/Flickr

Mehr naturnahe Lebensräume – auch in unseren Städten

Hans Steiger /  Geht urbane Dichte mit mehr Natur? Ja – und jeder Schritt in der Richtung ist wichtig. Hier dazu ermunternder Lesestoff für alle.

2024 stehen erneut Volksabstimmungen an, in denen es um mehr Biodiversität oder zusätzliche Autobahnspuren im ganzen Land und um Begrünung der Städte geht. Am 9. Juni stimmt Winterthur über die Stadtklima-Initiative der verkehrspolitischen Umweltorganisation umverkehR ab. Diese politischen Entscheide sind wichtig. Ebenso das Hinterfragen unserer Wirtschafts- und Lebensweise, die zum weiteren rasanten Verlust von Arten und lebensfreundlichen Orten führt. Aber in einer der Vorbemerkungen zu einem nun neu vorgelegten «Praxishandbuch Stadtnatur» stellt der Direktor des Botanischen Gartens in Bern auch fest, dass wir zugleich alle Vielfalt fördern, gestalten und dabei selbst erleben können. Das inspiriere «zum Aktivwerden, Dazulernen und Weitergeben», werde so auch prägend für Kinder, also die «Weichenstellenden von morgen».

Ähnlich zuversichtlich klingen die derzeit in Bern und Zürich politisch für den grünen Bereich zuständigen Frauen. Wenn sich dann aber die Direktorin des Bundesamtes für Umwelt auf ein Konzept beruft, das die «Schönheit und Vielfalt der Schweizer Landschaften» für heutige wie künftige Generationen bewahren wolle, weckt das bei mir höchstens den bitteren Wunsch, sie möge ihren gegenwärtigen Chef doch bei nächster Gelegenheit an diese bundesrätliche «Vision» erinnern.

Vielfalt macht auch glücklich

In der Einleitung des auch von ihr empfohlenen Bandes steht nämlich, die Biodiversität – «unsere Lebensgrundlage» – befinde sich «im freien Fall». Für das Buchteam kein Grund zur Kapitulation, sondern zum entschiedenen Einsatz für mehr Vielfalt. «Weil es klug ist», «weil sie glücklich macht», «weil es gerecht ist». Damit wird eine deutsche Kollegin zitiert, die auch ethische Argumente für konkrete Naturschutzarbeit ins Spiel bringt. Angesichts der Klimaentwicklung ist ja der Nutzen belebender Begrünungen offensichtlich.

Praxishandbuch Stadtnatur
Sabine Tschäppeler / Andrea Haslinger: Praxishandbuch Stadtnatur

Es geht zudem um das Entsiegeln von toten Flächen, die Vernetzung neu gewonnener Inseln. Denn ein kleinräumiges Mosaik mit unterschiedlichen Standortbedingungen kann den Wert für Flora und Fauna wesentlich erhöhen. Schon jetzt finden im Siedlungsgebiet etliche Arten einen Ersatz für Lebensräume, die ihnen einst ein natürliches oder noch traditionell bewirtschaftetes Umland geboten hat. So verlagerten sich etwa die Igel aus dem für sie heute unwirtlichen Landwirtschaftsgebiet weitgehend in städtische Gebiete. Künftig liesse sich von diesen Orten her «eine wieder lebensfreundlicher gewordene Landschaft zurückerobern. Wenn wir es schaffen, sie bis dann zu halten.» Mit dem Trend zur «Siedlungsentwicklung nach innen» nimmt nämlich auch in Städten der Druck wieder zu. Alte, strukturreiche Gebiete werden neu überbaut oder derart verändert, dass zum Beispiel die Wanderkorridore von Tieren danach gefährlicher sind oder fehlen. Bei der Planung einer sogenannten Sanierung oder Verdichtung müssten darum Gebote der Biodiversität von Beginn an berücksichtigt werden. Wo dies nicht geschah, braucht es koordinierte Korrekturen.

Aus dem Bestreben der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün in Bern, dafür gangbare Wege zu zeigen, entstand im Zusammenspiel mit Fachleuten des Botanischen Gartens der Universität nach einem Themenjahr zu «Natur braucht Stadt» eine erste Publikation. Nun liegt, auch vom Bund, der Stadtgärtnerei Basel und Grün Stadt Zürich unterstützt, ein gesamtschweizerisches Handbuch für alle in dem Bereich tätigen Leute vor.

Auch wer ganz privat etwas tun will, wird unzählige Anregungen entdecken. Nach jeweils knappen allgemeinen Einführungen geht es in den einzelnen Kapiteln etwa zu Wiese, Wildhecke, Baum oder Krautsaum präzis ins Detail. Zu allem finden sich kleine Tipps. Die speziell wichtigen «Kleinstrukturen» werden weiter konkretisiert: Totholz, Ast-, Laub-, Steinhaufen… Beispielfotos wecken Lust, die genauen Angaben machen Mut, einen Versuch zu wagen. Es gibt Links zu Merkblättern und Bezugsquellen. Wo etwas rechtlich heikel sein oder zu sehr ins Geld gehen könnte, wird auf vielleicht mögliche Förderbeiträge und Auskunftstellen hingewiesen. Zweifellos interessant ist auch der Gedanke, einem Dilemma zwischen Solaranlage und Dachbegrünung durch deren optimale Kombinationen zu entkommen.

Asphaltknacken – unbewilligt?

Trocken sachliche Details machen das Buch vorab nützlich. Zuweilen wird die Lektüre zum doppelbödigen Spass. So erfreuten beim Abschnitt über «Entsiegelungen» zwei Bildchen mit knappen Legenden mein Gemüt: «Betonstein entfernt und begrünt.» Tätig geworden sind da Studierende der Landschaftsarchitektur in Lausanne im Umfeld einer Gartenausstellung. «Asphalt aufgebrochen und begrünt.» Dies in Bern beim Start der dortigen Stadtklima-Initiative. Im ersten Satz des erläuternden Textes dann noch die ermunternde, eher technisch gemeinte Feststellung: «Kleine Flächen können Sie selber entsiegeln.» Voraussetzung sei allerdings «die Zustimmung der Eigentümerschaft» und direkt darunter sollte keine Leitung verlaufen. Baubewilligungen wären «im Normalfall» nicht nötig, wenn mit dem Entsiegeln «keine Nutzungsänderungen» verbunden seien. Sicherheitshalber wird trotzdem auf den Abschnitt über «gesetzliche Grundlagen» verwiesen. Der abschliessende Link zu einer «Asphaltknacker-Seite», auf der vom Naturama Aargau ein Erfahrungsbericht sowie «kostenlose Erstberatung» für weitere Vorhaben angeboten wird, lässt wieder Hoffnungen keimen.

Ein mentales Problem können unterschiedliche Vorstellungen von schöner Natur sein. Was ist Unkraut? Die selbst bei einem bewussten Fördern wilder Strukturen allenfalls unerwünschten Pflanzen werden nur mit Anführungszeichen so benannt. Wie auch die «Schädlinge», die sich notabene in Monokulturen weit besser ausbreiten könnten. Von vielfältigen Kleinstrukturen würden eher Nützlinge angezogen. Klar ist: keine Pestizide! Auch das Verwenden von energieaufwendig hergestellten Kunstdüngern oder von Torf, bei dessen Abbau anderswo Natur geschädigt wird, ist tabu. Selbstverständlich sind dazu Alternativen angegeben. Zudem werden sich die Leute rundum bald auch an wildere Gärten gewöhnen, wahrscheinlich sogar über ungewohnte Farben und Formen freuen.

Wer nur einen Garten im Miniformat, einen Balkon, ein Fensterbrett zur Verfügung hat, wird nicht weniger sorgfältig beraten und ermutigt, seine Chancen zu nutzen. Dadurch könnten «wichtige kleine Lebensraum-Trittsteine» entstehen, die zur Vernetzung mobiler Arten beitragen. Je mehr es davon gibt, desto besser. Zu vollblumig sollten die bunten Ecken allerdings nicht sein, denn «gefüllte Blüten sind steril. Sie enthalten keinen Pollen, kaum Nektar und sind für Insekten nahezu nutzlos.» Wer sein kleines Reich sorgsam gestaltet, kann auch für sich selbst über die gesamte Vegetationsperiode hinweg vieles zum Ernten und Beobachten finden.

Bioterra besichtigte eine Oase

Auf den letzten Seiten zeigen Artenlisten mit «einheimischen, regionalen» Bäumen sowie Wildsträuchern und -pflanzen, was je nach den gegebenen Bedingungen ideal passen könnte. Dazu finden sich alphabetisch – von Birdlife Schweiz bis WWF und Zoo – allerlei Organisationen und Institutionen, die beim Bemühen um eine bessere Umwelt auch im grösseren Rahmen hilfreich sein könnten. Bemerkenswert unter P eine kurze Notiz zu Parteien als Interessengemeinschaften: «Verbunden mit Gleichgesinnten wird die Stosskraft sofort sehr viel grösser.» Es könnten auch einschlägige Vereine sein.

Bioterra März
März-Ausgabe der Mitgliederzeitschrift von Bioterra

Und präzis am Tag, als ich das las, traf die März-Ausgabe der Mitgliederzeitschrift von Bioterra ein. Auf dem Cover ein für diese Rezension perfektes Symbolbild, innen eine wunderbare Reportage über den Garten, den Marilene Jucker im Zentrum von Effretikon bei ihrem Elternhaus als Oase zwischen Einkaufszentrum, Bahnhofstrasse und Stadthaus hütet. «Tag und Nacht brausen Autos vorbei. Das war nicht immer so.» Doch tatsächlich habe sich auch das Grundstück «mit Umschwung», welches ihr Grossvater vor über 110 Jahren als wohl schönstes in der damals noch ländlichen Gemeinde kaufte, ein wenig verändert. Früher herrschte da eine eher strenge Ordnung, erinnert sich die 82-Jährige. «Wildromatisch – dieses Wort gab es noch gar nicht. Aber so würde ich meinen Garten heute bezeichnen.» Vieles von dem, was das «Praxishandbuch Stadtnatur» empfiehlt, ist hier Realität.

Mut zu etwas wilderen Gärten

Das oben gewürdigte Handbuch ist trotz seiner wildurbanen Akzentsetzung nicht nur für Stadtmenschen nützlich. Doch wer primär einen grösseren eigenen Garten im Blick hat, könnte mit der «Naturgarten»-Animation von Katja Falkenburger ebenso gut bedient sein. Auch sie findet sich im Frühjahrsprogramm des Haupt-Verlags und bietet tendenziell fast dasselbe. Etwas bunter vielleicht, kompakter und ohne die lokalen Bezüge.

Naturgarten
Katja Falkenburger: So geht Naturgarten

Das hier aus deutscher Sicht geschätzte Potential der Privatgärten ist imposant: Gemäss einer Studie des grössten Naturschutzverbandes Deutschlands liesse sich mit deren Umgestaltung die dort vorhandene Fläche der Schutzgebiete rundweg verdoppeln! Logisch, dass der NABU-Vertreter im Vorwort die entsprechende Ermutigungen lobt. Zu einer Zeit, wo der Wunsch nach einer intakten Umwelt immer stärker werde, eröffne sich «vor unseren Haustüren ein faszinierendes Abenteuer», schreibt die Autorin. Sie habe nun immerhin «über 20 Jahre Selbstversorgung im Naturgarten schadlos überstanden», und für die Zukunft liege da noch weit mehr drin. Schritt für Schritt zur Vielfalt – das werde für alle ein überraschungsreiches Erlebnis sein.

Gartenbaum
Brunhilde Bross-Burkhardt: Mein Gartenbaum

Als gleichfalls erfahrene Fachjournalistin steuerte ihre Kollegin Bross-Burkhardt schon im Herbst einen Wegweiser für richtige Entscheide beim aufkommenden Traum vom eigenen Baum bei. Den sollte nun unbedingt pflanzen, wer Möglichkeiten sieht. Aber wohlüberlegt, nicht nur zum eigenen Nutzen. Bei ihren Kriterien für die Auswahl der Gehölzart kommen die «persönlichen Vorlieben» nicht zufällig am Schluss; hier sind Klimaaspekte im Zentrum. Heimische oder importierte hitzeresistente «Zukunftsarten»? Erstere sind besser für die Biodiversität. Eichen zum Beispiel wären in fast jeder Hinsicht ideal, sind aber «innerorts» nur selten anzutreffen. Sie brauchen viel Raum. Gerühmt wird die schwierige «Kunst der Beschränkung». Doch vielleicht erlauben die Voraussetzungen ja sogar ein «Agroforst»-Experiment im Kleinen? Gehölz lässt sich durchaus «selbst vermehren»… Auch das also ein vielseitig lehrreiches Buch. Wer bei Haupt Natur zu stöbern beginnt, wird weitere finden.

  • Sabine Tschäppeler / Andrea Haslinger: Praxishandbuch Stadtnatur. Biodiversität fördern im Schweizer Siedlungsraum. Haupt, Bern 2024, 256 Seiten, über 330 Fotos, 80 Illustrationen und 80 Tabellen, 34 Franken.
  • Bioterra. Gärtnern, Gestalten, Geniessen. Erscheint als Mitglieder-Zeitschrift von Bioterra siebenmal jährlich. Beitrag: 85 Franken. Probe-Abo: 20 Franken für drei Ausgaben via www.bioterra.ch.
  • Katja Falkenburger: So geht Naturgarten. Schritt für Schritt Artenvielfalt fördern. Haupt, Bern 2024, 176 Seiten, rund 300 Fotos, 35 Illustrationen, 32 Franken
  • Brunhilde Bross-Burkhardt: Mein Gartenbaum – klimarobust und klimaschützend. Haupt, Bern 2023, 176 Seiten, 218 Farbfotos, 32 Franken

Dieser Text erschien als Frühlings-Literaturempfehlung im rotgrünen Zürcher P.S.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

NaturfreundlicheGrten

Naturfreundliche Gärten

Unsere Siedlungen könnten Raum bieten für Tiere und Pflanzen. Aber oft sind sie Kampfzonen gegen die Natur.

Wald

Schutz der Natur und der Landschaft

Nur so weit es die Nutzung von Ressourcen, wirtschaftliche Interessen oder Freizeitsport zulassen?

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • am 23.05.2024 um 13:19 Uhr
    Permalink

    Ich plädiere für mein Gesundheitswohnenprojekt, zunächst als Prototyp (Vorbild für die Welt) zwecks Aha- und Dominoeffekt.
    Hingegen die oft propagierte Mehrbegrünung begünstigt wohl eher eine Zementierung von Wohnenmissstrukturen (kosmetisch statt bahnbrechend). Gemessen am Gewohnten verblüffte es mich trotzdem, als ich kürzlich an einer grösseren Liegenschaft (Chur) mit dem leider üblichen Rasen rings ums Haus vorbeikam. «Home»: Baumstrünke, Erde, Vertiefungen mit Steinen (wie für Tümpel), hohe Ästehaufen (Büsche, Pflanzen etc. werden wohl folgen), Arbeiten erst am Anfang.
    Rasen nenne ich Fehlkonstruktion: Rasenmäher, Laubbläser etc. Lärm-/Abgase «im Abo»; und weil es Insekten, Käfern etc. in ihrem «Schutz» so ergeht wie oft Rehkitzen in Bauernwiesen. «Motorisierter Sensenmann». Coopzeitung Rasenmähen zeigt Varianten: Spindelmäher (ohne Motor) und ein Lämmli als Mäher (sagt sogar «mäh») ohne Lärm und Abgase. Mein Ideal: Unberührte Flächen, Natur ungestört da-sein lassen, Flora Fauna.

  • am 23.05.2024 um 15:45 Uhr
    Permalink

    Sicher,es hat viele gute und interessante Tipps in diesem Artikel. Ein Problem sehe ich,wie häufig, beim Geld. Leider sind Steingärten sehr modern,doch dort wächst meist nichts,ist deshalb sehr pflegeleicht und den Gärtner kann man sich sparen. Selbst die Stadt Bern macht diesen Gugus mit. Jedenfalls ist der «Grünstreifen» beim alten Tramdepot/Punto eigentlich nur eine Kiesfläche, mit ein paar traurigen Sträuchern. Klar,wahrscheinlich wird sich das Unkraut dort auch in 10Jahren irgendwie ausbreiten, aber kühlen im Sommer,oder Grünfläche für Insekten,Käfer und Regenwürmer sehen definitiv anders aus. Grünflächen müssen halt gepflegt werden und in der heutigen Zeit, sparen sich viele den Gärtner, was irgendwie nicht sehr zukunftsträchtig anmutet.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...