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Ein Zukunftsbild ohne Autobahn quer durchs Stadtzentrum. © public-domain Han van de Wetering

Bieler Westast ist vom Tisch – nun beginnt die Knochenarbeit

Catherine Duttweiler /  Das Autobahnmonster ist tot. Doch wie wird der Bieler Verkehr gebändigt - und was passiert mit der Brache zwischen Bahnhof und See?

Nach jahrzehntelanger Blockade ging es plötzlich blitzschnell. Am
7. Dezember 2020 übergab die Dialoggruppe «Bieler Westast» ihren Schlussbericht mit 15 Empfehlungen. Kurz vor Weihnachten beantragte der Berner Baudirektor Christoph Neuhaus die Abschreibung des gescheiterten Autobahnprojekts, und noch während der Bundesratsferien setzte Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga letzte Woche den Schlusspunkt: Das Plangenehmigungsverfahren für den A5-Westast sei nun «gegenstandslos» geworden und sei abzuschreiben, verfügte sie in einem vierseitigen Schreiben ihres Generalsekretariats.

Damit ist das Autobahnmonster erlegt – dank dem gemeinsamen Widerstand einer kreativen, überparteilichen Bürgerbewegung, deren Erfolgsrezept ich kürzlich für «Das Magazin» in einer Hintergrundreportage beschrieben habe. Mit der Abschreibung der Westastumfahrung wird nach Abschluss einer letzten Beschwerdefrist von 30 Tagen auch der Enteignungsbann für Dutzende von Häusern aufgehoben, die wegen der Autobahn abgerissen werden sollten und verlotterten. Die Besitzerinnen und Besitzer dürfen endlich wieder über ihre Grundstücke verfügen – und die grossen, für die städtebauliche und wirtschaftliche Entwicklung wertvollen Areale und Naherholungsgebiete zwischen Bahnhof und See können nun ohne Autobahnschneisen komplett neu gestaltet werden. 30 Jahre lang hätten Biel und Nidau ihre städtebauliche Planung ganz auf die Autobahn ausgerichtet und deren Bau abgewartet, kritisiert Han van de Wetering, der als Experte im Dialogprozess mitwirkte. Jetzt ist die Blockade gelöst, ein Befreiungsschlag. 

Keine verkappten Autobahnanschlüsse im Grundwasser

Der Sieg der Bieler Bürgerbewegung hat also historische Ausmasse[1] – dabei wurde erst die erste Hälfte des Marathons absolviert, wie Urs Scheuss, Parteipräsident der grünen Stadtsektion und Mitglied des Verhandlungsteams, die 15 westastkritischen Organisationen kürzlich ermahnte. Noch steht viel Arbeit an:

  • Es gilt zu verhindern, dass die frei gewordenen Gelände zu Spekulationsobjekten werden – etwa mit einer Zone mit Planungspflicht, wie dies die Dialoggruppe forderte. Doch die Stadtregierungen von Biel und Nidau halten sich bisher bedeckt. Sie wollen am Rande der alten Autobahnbrache ein neues Seequartier namens «Agglolac» für mehrere tausend Menschen hochziehen.
  • Im Schlussbericht zum Dialogprozess wurden neben dem Verzicht aufs offizielle Autobahnprojekt 14 weitere kurz-, mittel- und langfristige Lösungsempfehlungen abgegeben, um den Bieler Verkehr in geordnete Bahnen zu lenken. Bei der Umsetzung einzelner Massnahmen ist mit politischem Widerstand wie auch finanziellen Einschränkungen zu rechnen, obwohl der fussgänger- und velofreundliche Schlussbericht von 28 der 30 beteiligten Gruppen bis hin zum TCS unterstützt wurde.
  • Schliesslich hat sich die Dialoggruppe für eine allfällige langfristige Lösung lediglich auf Eckwerte geeinigt. Sollte sich bei einer Erfolgskontrolle und Evaluation der Massnahmen in frühestens zehn Jahren zeigen, dass es eben doch eine zusätzliche Autobahnverbindung im Westen Biels braucht, wollen die unterlegenen Befürworter im Siedlungsgebiet verkappte Anschlüsse bauen: unterirdische Autobahnzufahrten über mehrere Parkhäuser, die nach ihren Vorstellungen über ein Netz miteinander verbunden sind, unter der Stadt, mitten im Grundwasser. Das wäre fahrlässig und teuer.

Keine Wiederholung von Stöcklis Alibiübung

Um all diese Empfehlungen und Phantasien soll sich nun eine komplexe Projektorganisation namens «Espace Biel/Bienne.Nidau» kümmern. SVP-Regierungsrat Neuhaus, ein traditioneller Autofreund, hat dazu ein erstes Organigramm vorgelegt, das altgediente Anti-Westast-Kämpfer kritisch beurteilen: Sie fühlen sich an die «Arbeitsgruppe Stöckli» und deren Subgruppen erinnert, mit welcher der damalige Bieler Stadtpräsident (SP) vor gut zehn Jahren eine Pseudo-Partizipation inszeniert hatte. Damals durften die über hundert Mitglieder hinter verschlossenen Türen mitdiskutieren und erhielten dafür einen Maulkorb.

Daher überlegen sich die 15 westastkritischen Organisationen derzeit genau, ob und wie sie sich künftig am wirkungsvollsten für eine zukunftsfähige Mobilität und eine lebenswerte Stadt engagieren: Lassen sie sich, wie von Stöcklis Nachfolger Erich Fehr angeboten, in einer «Reflexionsgruppe» am Rande der Projektorganisation einbinden – oder agieren sie lieber unabhängig von aussen wie vor Beginn des Dialogprozesses, mit symbolischen Aktionen und Demonstrationen? Sie haben zwar den lavierenden Stadtpräsidenten in den entscheidenden letzten Monaten des Dialogs als zuverlässigen Alliierten erlebt, nachdem er im August 2020 kurz vor den städtischen Wahlen den Westast für «politisch tot» erklärt hatte. Doch die Stadt Biel tut sich schwer mit partizipativen Prozessen, auch wenn in letzter Zeit innovative Ansätze entstanden sind, etwa bei der neuen Stadtordnung oder aktuell bei der Neugestaltung des Unteren Schüssquais, wo Anwohnerinnen und Anwohner per Los ausgewählt wurden und sich zum Projekt äussern können. Beide Projekte sind noch nicht abgeschlossen.

Freundschaftsdienst des Baudirektors?

Aufmerksame Beobachterinnen bleiben jedenfalls auch bei der Umsetzung des Dialogprozesses skeptisch, zu recht. Die Behörden haben beim Westast- Dossier meist erst unter Druck und dazu parteiisch gehandelt – schon als sie den Dialogprozess lancierten. Das zeigt sich jetzt erneut:

  • In seinem unveröffentlichten Schreiben an die Verkehrsministerin wirkt Christoph Neuhaus eher zerknirscht als von den neuen Lösungsansätzen überzeugt: Seine Behördendelegation habe «erkennen müssen, dass dem Ausführungsprojekt keine Zukunft mehr beschieden» sei: «Zu gross sind die Widerstände gegen diese Lösung.» 
  • Die Leitung der Behördendelegation und die Verantwortung fürs Westast-Dossier hat der kantonale Baudirektor unmittelbar nach Abschluss des Dialogs Mitte Dezember nach Biel abgegeben, nachdem er von der Bevölkerung mehrfach ausgepfiffen und in seiner eigenen Partei, der SVP, unter Druck geraten war. 
  • Und obwohl Christoph Neuhaus das unliebsame Westast-Dossier den Bieler Behörden abgetreten hat, bestimmte er eilends und ohne Ausschreibung noch im Dezember eine «externe Projektkoordinatorin»: die grosse, auf Tiefbau spezialisierte Bauunternehmung «TBFpartner». Diese Entscheidung ist fragwürdig: Das Unternehmen bearbeitet seit Jahren regelmässig Grossprojekte für Neuhaus’ Tiefbauamt und ist alles andere als neutral (genauso wenig wie einst das erste PR-Sekretariat im Dialogprozess, welches nach viel Kritik das Handtuch warf). Zudem offenbart sie, wo Neuhaus künftig Akzente setzen will: beim Bau von Grossprojekten und im Strassenbau, wofür die Firma spezialisiert ist – obwohl der Schlussbericht der Dialoggruppe den motorisierten Individualverkehr explizit nicht mehr ins Zentrum rückt, sondern ein gestaffeltes Vorgehen verlangt und Städtebau und Verkehr künftig gleichwertig behandeln will. 

Dieser bewusst «integrale Ansatz» und die «pragmatische Umsetzung durch mehrere kleine, zusammenhängende, stufenweise umsetzbare Massnahmen» gilt laut den beiden ständigen Experten im Dialogprozess, Fritz Kobi und Han van de Wetering, als Meilenstein. Offenbar sieht das Regierungsrat Neuhaus nun anders und möchte so rasch wie möglich zum courant normal übergehen, also den Juratunnel und den Porttunnel bauen, wie er auch schon öffentlich erklärt hatte. Zum Glück ist da das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Überarbeitung des Porttunnels als Chance

Zumindest beim Porttunnel ist der Baudirektor vom Departement Sommaruga bereits ausgebremst worden: Der Porttunnel und der umstrittene Bau einer neuen Wehrbrücke als Zubringer vom rechten Bielerseeufer kann nicht einfach vorgezogen werden, wie es die Befürworter und Neuhaus während dem Dialogprozess gefordert hatten. Da der Porttunnel nach der Abschreibung des Westasts neu an den Ostast angeschlossen werden soll, muss der Bund nach Angaben des UVEK erst ein neues «Generelles Projekt» bewilligen. Dabei böte sich auch die Chance, die wenig durchdachte bisherige Planung zu überarbeiten. Der Bau des 2,2 Milliarden teuren Westasts hätte die Strecke zwischen Ipsach und der Innenstadt von Biel mehr als verdoppelt, zudem hätten dreimal mehr Lichtsignalanlagen erstellt werden müssen, wie Fachleute des Komitees «Westast so nicht!» berechneten (vgl. Grafik). Die westastkritischen Organisationen warnen davor,  dass sich – wie bei jeder Autobahn, bei jedem Anschluss – das Verkehrsproblem verlagern könnte, in die umliegenden Gemeinden am Bielerseeufer.

Ja, die zweite Hälfte des Marathons hat eben erst begonnen, für die Behörden wie die Bürgerbewegung. Es braucht Engagements auf politischer wie auf strategischer Ebene, von innen wie von aussen. Und es braucht speziell bei den westastkritischen Organisationen weiterhin einen langen Atem. In einer Medienmitteilung zum Dialogabschluss haben sie bereits klar gemacht, dass sie den Druck weiterhin hochhalten werden: «Wir bleiben wachsam und werden die Umsetzung genau verfolgen.»


[1] Auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben in den letzten Jahrzehnten Erfolge erzielt – etwa mit Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst, welches in eine elfwöchige Besetzung mündete; mit dem Widerstand gegen den Waffenplatz in Rothenturm; oder dem Kampf gegen die Sondermülldeponie im nidwaldnerischen Wellenberg – alles nationale Projekte, die an regionalem Widerstand scheiterten. Aber nie zuvor ist es hierzulande gelungen, ein fixfertig geplantes Autobahnprojekt zu verhindern, wie Architekt Beno Loderer in seinem Buch «Das Bieler Dreieck» aufzeigt.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Catherine Duttweiler war bis 2011 Chefredaktorin des Bieler Tagblatts und arbeitet als freie Autorin, Dozentin und Beraterin. Beim Dialogprozess zum Bieler Westast beteiligte sie sich als Mitglied der Kern- und Dialoggruppe an der Lösungssuche, koordinierte den Informationsfluss unter den 15 westastkritischen Organisationen und war deren Mediensprecherin.

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2 Meinungen

  • am 19.01.2021 um 17:10 Uhr
    Permalink

    Liebe Catherine Duttweiler, mit grosser Erleichterung nehme ich als Direktbetroffener (wohne an der Seevorstadt) diese Nachricht zur Kenntnis. Chapeau bas!
    Ein Bilderbuch-Beispiel für gelebte Demokratie!

  • am 19.01.2021 um 23:19 Uhr
    Permalink

    Aus Freiburg bleibt uns nur, unsere Glückwünsche für diesen Erfolg nach Biel zu schicken, denn hier leben wir noch in anderen Zeiten: Das Mobilitätsamt der Stadt Freiburg wurde in den letzten 10 Jahren zuerst vom SP-Mann Thierry Steiert und danach vom ehemaligen VCS-Sekretär Pierre-Olivier Nobs geleitet. Resultat: Nichteinhaltung des Verkehrsrichtplans zur Poya-Brücke, deshalb massiver Mehrverkehr in der Stadt. Dem Ziel des «Langsamverkehrs» sind die beiden allerdings nähergekommen, die Autos bewegen sich je länger desto mehr im Schritttempo, der ÖV ebenso, denn vielerorts fehlen Busspuren. Beim Kanton ist Steierts Bruder und ehemaliger Pro Velo-Schweiz-Präsident Jean-François Steiert als Staatsrat am Ruder. Dieser plant neue Umfahrungsstrassen und Autozubringer – und erntet Zustimmung beim Volk. Eine 2019 fertiggestellte Verkehrsstudie zur künftigen Situation zwischen Fribourg Nord und der Stadt prognostiziert den Kollaps, wenn nicht sofort ein Paradigmenwechsel erfolgt. Staatsrat Steiert hatte noch keine Zeit, sie zu studieren, wie er kürzlich auf Radio SRF verlauten liess. Infos hierz: http://www.juraction.org/aktuell_d.html

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