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Drei Titel aus der «Bibliothek der Nachhaltigkeit» des Oekom Verlags © oekom verlag

MMXX – endlich die Wende?

Hans Steiger /  Eine neue Bibliothek der Nachhaltigkeit spiegelt im Rückblick auf fünf Jahrzehnte unser politisches Versagen. Lesen und handeln!

2020 … MMXX … alles Gute im Neuen! Die kunstvoll karge Karte passte zu meinen Festtagslektüren: Eine neu gestartete Buchreihe mit alten, aber erschreckend aktuellen Texten sowie Rückblicke einer Zeitschrift für Politische Ökologie mit Denkpfaden in die Zukunft. Publikationen eines Verlages, der seit drei Jahrzehnten unverdrossen Wegweiser für den nachhaltigen Wandel in die Welt setzt. Mich habe die seltsame Symbolik verblüfft, teilte ich dem Absender des Kärtchens mit, das mich erstmals mit MMXX konfrontierte – nach monumentalen Jahrhunderten zweimal die Chiffre für Unbekanntes? Nein, nein. Ihm hätten als Grafiker einfach die seltenen Doppelziffern gefallen; zudem gebe es sie bei den römischen Zahlen nie mehr in so einfacher Form. 1919 und 2121 war oder wird komplizierter. Und beides ist weit weg.

Ein halbes Jahrhundert verspielt

Noch relativ nah liegt 1972, als «Small is beautiful» von Ernst F. Schumacher (1911–1977) erschien. Einer der Texte, die der Oekom Verlag in seiner «Bibliothek der Nachhaltigkeit» neu präsentiert. Der britische Ökonom deutscher Herkunft, dem «humanere Wirtschafts- und Technikstrukturen vorschwebten», so die Vorschau, glaubte an die Überwindbarkeit des Kapitalismus und an «eine Ökonomie, deren Grundlage die Würde des Menschen ist». Bei der fälligen Rückkehr zum menschlichen Mass wäre «ein Maximum an Glück mit einem Minimum an Konsum zu erreichen».
Niko Paech, einer der prägnantesten Verfechter radikaler Postwachstumspolitik unserer Tage, würdigt in dieser Neuedition den Scharfsinn der damaligen Lageanalyse, aber fast mehr noch, «wie wegweisend Schumachers Zukunftsentwurf» war. Zu wenige nahmen ihn auf; ein halbes Jahrhundert wurde verspielt. Beispielhaft der Hinweis auf den Weltbedarf an Brennstoffen, die Dynamik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Prognosen für das Jahr 2000. Werden wir dann, wie erwartet, dreimal so viel verbrauchen? «Was ist mit dem Jahr 2028, wenn Kinder, die heute auf der Strasse spielen, an ihre Pensionierung denken?» Wieder eine Verdreifachung? Unbedacht zehrten wir weiter «vom Kapital der lebenden Natur».

Wende an den Wachstumsgrenzen

Paech bemerkt, dass die bereits auf Alternativen zielende Schrift von Schumacher im Schatten der «Grenzen des Wachstums» stand, dem im Vorjahr publizierten Report an den Club of Rome. Dieser habe es mit seiner «plakativen Dramatik» leichter gehabt, die eben entstehende Umweltbewegung zu erreichen. Doch in die nachhaltige Bibliothek wird nun nicht der damalige Bestseller aufgenommen, sondern ein weit weniger bekanntes Werk von Donella H. Meadows (1941-2001), einer Hauptautorin jener Studie. Sie war mit ihrem Mann am Massachusetts Institute of Technology in das Projekt einbezogen worden und hatte sich dabei intensiv mit Methoden zur ganzheitlichen Analyse sowie komplexen dynamischen Systemen auseinandergesetzt. Später führte sie als Pionierin der Umweltanalyse in den USA über 25 Jahre lang einen Öko-Bauernhof.
«Die Grenzen des Denkens» wurde erst nach ihrem Tod als Buch publiziert. Es basiert auf Vorlesungen, immer wieder überprüften Entwürfen und vielen Gesprächen. Eigentlich war es eine direkte Folge der Auseinandersetzung mit der Wachstums-Studie. Sie habe früh erkannt, «wie tief der Widerspruch zwischen der darin vertretenen Sicht des menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde und dem realen Wachstum der Weltbevölkerung und des ökologischen Fussabdrucks war», steht in einer Vorbemerkung von Jørgen Randers, der zum Forschungsteam gehörte. Zwar sei jene Warnung vor globalen Wachstumsgrenzen «ein wahrer Durchbruch für angewandtes Systemdenken» geworden, aber auch der Widerstand gegen die Schlussfolgerungen war gewaltig. Und er hielt sich unerwartet lang. Kapitalismus ohne Wachstum? Es entstand ein bis heute bestehender Paradigmenkonflikt. Immer neue Versionen «des seit jeher fruchtlosen Streits» blockierten angemessenes Handeln.

Plädoyer für mehr offenes Denken

Randers empfiehlt die Einführung ins Systemdenken zum besseren Verständnis des Geschehens auf unserem Planeten. Aber vorab sei das Buch «ein Plädoyer für offenes Denken». Es mahne uns, stets nach den Mechanismen zu fragen, die zu einem Problem geführt haben. Wo liegen seine Ursachen? Was geschieht, wenn nichts unternommen wird? Wie werden sich verschiedene Lösungen auswirken? Kurzfristig und auf längere Sicht … Es gab beim Lesen viele Aha-Momente. Wenn die anfangs noch einfachen Grafiken mit Badewannen, Stauseen, Zu- und Abflüssen zu kompliziert werden, Formeln zu lang, die Systemtheorie zu abstrakt, bauen eingängige Geschichten wieder Brücken zur Praxis. Vielleicht hatte ich bisher bei «System» zu sehr an den Kapitalismus gedacht. Ihm bin ich in den weiten Meadows-Denk-Exkursionen als Begriff kaum begegnet, dafür «selbstverstärkenden Rückkoppelungsschleifen». Etwa: «Reiche bezahlen Steuerberater und drängen Politiker, ihre Steuern zu senken; Arme können das nicht. Reiche versorgen ihre Kinder mit Erbschaften und guter Ausbildung. Programme zur Armutsbekämpfung sind schwache ausgleichende Rückkoppelungen, die diesen starken selbstverstärkenden Schleifen etwas entgegenzusetzen versuchen.» Dann der sanfte Rat: «Es wäre viel effektiver, die selbstverstärkenden Rückkoppelungen abzuschwächen.»

Vergleichbares findet sich bei den zentralen ökologischen Themen. Zuversichtlich könnte hier die Feststellung stimmen, dass uns sogar Systeme, die wir gut durchschaut zu haben glaubten, mit völlig Unerwartetem verblüffen können. «Ob das eine schlechte Nachricht ist oder eine gute, hängt davon ab, ob Sie die Welt beherrschen wollen oder sich an ihren Überraschungen erfreuen möchten.» Sie habe sich bei ihrer Arbeit in einer renommierten Forschungsinstitution selbst verzaubern lassen durch das, was neue (Computer-)Brillen plötzlich sichtbar machten. «Wir übertrieben unsere Erkenntnisse. Nicht, um damit andere zu täuschen, sondern als Ausdruck unserer eigenen Erwartungen und Hoffnungen.» Aber das schnelle Umsetzen von «Systemreparaturen» mittels Management war illusionär. «Als wir anfingen, systemisches Denken besser zu verstehen, stellte es sich als wertvoller als vermutet heraus, aber anders als wir vermutet hatten.» Weltbilder wurden komplexer, deutlich nur die richtige Richtung.

Und notfalls der Geoingenieur?

Das dritte Bändchen der Nachhaltigkeits-Reihe ist wieder näher an der aktuellen Dramatik. Es geht vom Begriff «Anthropozän» aus. Dieser hat Paul J. Crutzen berühmter gemacht als der Nobelpreis, den er 1995 für die Erforschung der Ursachen des Ozonlochs bekam. Im erfreulichsten Text der vielfältigen Auswahl geht es um dieses Thema. Näher beim Titel ist ein Aufsatz zur «Geologie des Menschen», wo der Meteorologe die These begründet, dass das zehn- bis zwölftausend Jahre dauernde Holozän vorbei und «die gegenwärtige, vom Menschen geprägte geologische Epoche» angebrochen sei. Das bürdet uns eine enorme Verantwortung auf. Nebst der aktuellen Klimafrage gibt die Vision des «nuklearen Winters», den ein Atomkrieg bescheren könnte, eine Vorstellung davon, wohin politische Unvernunft führen könnte. Mich allerdings irritierte erneut das am meisten, was mich schon 2011 im «Jahrbuch Ökologie» entsetzte: Auf vier Seiten wird relativ nüchtern abgewogen, ob und wie etwa eine «Erdabkühlung durch Sulfatinjektion in die Stratosphäre» machbar wäre. Die vorab technischen Argumente sollten «aktive» Forschung in diesem Bereich anschieben. Sozusagen als Vorbereitung auf den Ernstfall. «Wissenschaftliche, rechtliche, ethische und gesellschaftliche Aspekte des Klimaengineerings gibt es viele.» Zwar betont der Autor, «die beste Lösungsstrategie» wäre es, Treibhausgase in dem Umfang zu reduzieren, dass sich derartige Experimente erübrigen. Aber «gegenwärtig» scheine das «ein frommer Wunsch» zu sein. «Und genau das ist der Grund, warum ich diesen Artikel schreiben musste.»
Das im Anhang wiedergegebene Gespräch mit Crutzen mündet erneut in die Frage nach den technischen Möglichkeiten, die er selbst als «Plan B» für den Fall beschrieben habe, «dass es nicht zum notwendigen Schutz des Klimas kommt». Er werde da leider oft falsch verstanden. «Natürlich will ich zuerst Vernunft und Umdenken.» Doch das Problem bleibe, dass es «trotz besseren Wissens zu Nichtstun, Abwarten und damit zu einem Versagen kommt. Warum wird das Notwendige nicht getan?» Er wolle «dazu beitragen, dass es keine Scheinlösungen gibt». Gern hätte ich hier eine Zusatzfrage gestellt: Erzeugt nicht gerade das immer lautere Spekulieren über phantastische Notfall-Lösungen den Schein einer bequemeren Alternative?

Aufbrüche, Durchbrüche: Widerstand

Hervorzuheben ist hier auch die Einführung des Herausgebers. Er würdigt da Crutzen als Wissenschaftler «in der Tradition Alexander von Humboldts». Der fast fünfzigseitige Essay spiegelt aber auch das halbe Jahrhundert globaler Umwelt- und Klimapolitik, das Michael Müller als SPD-Umweltpolitiker in diversen Funktionen erlebt hat. Mit traurigem, ziemlich verzweifeltem Fazit. Schon beim UN-«Erdgipfel» von 1992 in Rio de Janeiro, den er wie viele als Aufbruch in ein Zeitalter der Nachhaltigkeit verstand, vertraten die wichtigsten Industriestaaten ehrgeizige Ziele, die dann weitgehend folgenlos blieben. «Der offene und verdeckte Widerstand der Lobbygruppen und verantwortungslosen Ideologen gegen den Klimaschutz wurde stärker.» Wenigstens lief die Forschung weiter; von Bericht zu Bericht wurde die Kluft zwischen Wissen und Handeln offensichtlicher. 2015 kam mit dem Pariser Abkommen eher unerwartet ein Durchbruch der Klimadiplomatie. Nach dem Rückzug der USA und dem Unwillen anderer, das politisch Notwendige zu tun, schwand die Hoffnung erneut. Dass an den Konferenzen neuerdings in erster Linie über die Anpassung an den Klimawandel gesprochen wird, ist ein schlechtes Zeichen. In unseren Breiten werden zumeist erst kommende Generationen die Folgen zu tragen haben … Da passt die Vorbemerkung, mit der Crutzen seinen «Nobel-Vortrag» von 1995 versah: «Der Generation von Jamie Paul und unseren künftigen Enkeln gewidmet, die so viel mehr wissen werden und die das Verschwinden des Ozonlochs feiern werden. Ich hoffe, ihr werdet nicht von uns enttäuscht sein.» In der Tat könnte der kurzfristig realisierte Schutz der Ozonschicht als Exempel erfolgreicher Umweltpolitik ermutigen. Er wurde mit internationalen Abkommen und durchaus umstrittenen Verboten erreicht.

Brückenstücke zusammengesetzt

Auch die Sonderausgabe der «Politischen Ökologie», die «Denkpfade in eine lebenswerte Zukunft» aufzeigen will, geht von Rückblenden aus. Analysen und Ideen aus den letzten dreissig Jahren werden mit der heutigen Lage konfrontiert. Diese sei «sehr, sehr ernst – aber nicht hoffnungslos», stand in der Vorschau. Zwar möge heute, wer bei Themen wie Klimawandel, Technologieentwicklung oder gesellschaftlicher Zusammenhalt optimistisch bleibe, angesichts der realen Zustände und Entwicklungen verrückt erscheinen, aber auch «dunkler Pessimismus» sei unangebracht. Womöglich gelte ja tatsächlich: «Nur ein Wunder kann uns retten.» Doch es reicht nicht, darauf einfach zu warten. In den neuen Texten ist schon der Schwung der neuen, jüngeren Basisbewegung spürbar.

Ulrich Grober zum Beispiel, der auch zum Editionsteam der oben vorgestellten «Bibliothek» gehört und selbst eine weit zurückreichende «Geschichte der Nachhaltigkeit» verfasst hat, verknüpft den Auftritt von Greta Thunberg beim WEF in Davos mit den Protesten gegen die selbsternannten Weltverwalter zur Jahrtausendwende. Er erinnert an die dort und in Seattle gegen die WTO-Globalisierung gesetzte Parole: «Eine andere Welt ist möglich.» Arundhati Roy, die indische Schriftstellerin und Aktivistin, habe diese dann an einem der folgenden Weltsozialforen mit dem entscheidenden Zusatz ergänzt: «Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen. An einem stillen Tag, wenn ich achtsam lausche, höre ich sie atmen.» Die meisten «Morgenland»-Beiträge belegen, dass das kein billiger Trost ist. Auf dem Cover sind die Bretter der luftigen Brücke mit Stichworten beschriftet: Postwachstum, Genügsamkeit, Zeitwohlstand … Oder konkreter: Agrarwende, postfossile Mobilität, urbane Lebensqualität.

Das nächste Heft der vor über 30 Jahren gestarteten Zeitschrift fragt nach dem «Green New Deal». Was ist von den jetzt rundum präsentierten Varianten zu halten? «Fassadenbegrünung oder neuer Gesellschaftsvertrag?» Eine dringende Nachfrage. Auch wir bleiben dran!
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Dieser Beitrag erschien zuerst im P.S.
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Morgenland. Denkpfade in eine lebenswerte Zukunft. Politische Ökologie, Band 157/158. Oekom, München 2019, 272 Seiten, CHF 24.90


Ernst F. Schumacher: Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Mass. Einführung: Niko Paech. Oekom Verlag, München 2019, 320 Seiten, CHF 34.90
Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens. Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können. Einführungen: Jørgen Randers und Ugo Bardi. Oekom 2019, 288 Seiten, CHF 34.90
Paul J. Crutzen: Das Anthropozän. Schlüsseltexte für das neue Erdzeitalter. Hrsg. von Michael Müller. Oekom 2019, 224 Seiten, CHF 31.90

Weiterführende Informationen


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Keine.

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2 Meinungen

  • am 20.01.2020 um 12:16 Uhr
    Permalink

    Etwas mehr Konkretes wäre wünschenswert gewesen!

  • am 31.01.2020 um 08:45 Uhr
    Permalink

    nur eine kleine Ergänzung zu diesem Artike:
    es lohnt auch, bei futur2.org nachzulesen und sich ggf. deren Newsletter schicken zu lassen.

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