Palaestina-Protest-Wash

Schlagzeile der «Times of Israel»: Palästinenser demonstrieren in Washington gegen das Verbot von sechs NGOs auf der West Bank © The Times of Israel

Israel würgt Kritik ab und verbietet sechs palästinensische NGO

Helmut Scheben /  Die NGOs deckten Menschenrechtsverletzungen und Korruption in besetzten Gebieten auf. Anlass für einen Rückblick.

Werden NGOs der Zivilgesellschaft in Israel eingeschränkt oder sogar verboten, nehmen westliche Medien wenig Notiz davon. Am 19. Oktober stufte Israels Verteidigungsministerium sechs prominente palästinensische Menschenrechts- und andere zivile Organisationen als «Terrororganisationen» ein und verbot sie. Just einen Tag darauf bewilligte die israelische Regierung den Bau von über 1300 neuen Häusern in der besetzten West Bank. 

Bei den sechs verbotenen NGOs handelt es sich um Al-Haq, Defense for Children International Palestine (D.C.I.P.), die Union of Agricultural Work Committees, Addameer, das Bisan Center for Research and Development und die Union of Palestinian Women’s Committees. D.C.I.P. berichtete über die Inhaftierung und den Missbrauch von Kindern im Militärgerichtssystem. Al-Haq legte dem Internationalen Strafgerichtshof für seine Ermittlungen zu mutmasslichen Kriegsverbrechen im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen wichtige Beweise vor. Alle genannten NGOs vertraten die über fünf Millionen Palästinenser, die unter israelischer Militärbesatzung leben. Sie boten ihnen auch Dienstleistungen an. Schon seit Jahren bedrängte Israels Regierung diese Organisationen mit Hausdurchsuchungen und Verhören von Angestellten.

Gegen die neuste Unterdrückung von NGOs protestierten Human Rights Watch and Amnesty International bisher vergeblich. Die Ausschaltung als «Terrororganisationen» ist das jüngste Puzzle eines eskalierenden Konflikts, der schon vor hundert Jahren begann.


Die lange Geschichte der israelischen Repression in den Palästinensergebieten


Es war in den Neunzigerjahren. Der Tour-Guide liess den Bus anhalten und wies auf die andere Uferseite: «Von dort hat Josua mit seinen Leuten den Jordan überquert, um Jericho einzunehmen, und hier haben die israelischen Streitkräfte dann auch im Sechstagekrieg einen Brückenkopf errichtet.» 

Die Touristen, mehrheitlich aus den USA, stiessen Laute des Erstaunens und der Bewunderung aus und fotografierten. Die Szene ist mir im Gedächtnis geblieben wegen der verblüffenden Logik, mit der hier zwei Dinge in einen direkten Zusammenhang gestellt wurden.  

Das Vorrücken der israelischen Armee im Jahr 1967 ergibt sich in diesem Geschichtsbild quasi als logische Handlungsanweisung aus den biblischen Texten. Das drei Jahrtausende alte Buch Josua des Alten Testamentes beschreibt die Landnahme der israelitischen Stämme in Kanaan. Die unausgesprochene Vorstellung des israelischen Touristenführers lautete: Seit 1967 ist endlich alles wieder in Ordnung.  

Die Inbesitznahme des biblischen «gelobten Landes» und der Versuch, diese politisch und militärisch sicherzustellen, sind ideologische Basis und Lebensnerv des Staates Israel, und gleichzeitig der Ursprung des sogenannten Nahostkonfliktes und all seiner Folgen.

Man kann das Problem in drei Sätze fassen: Es wohnten viele Leute in diesem «gelobten Land», und man hätte sie 1948 auf demokratische Weise fragen müssen, ob sie einverstanden seien, dass mitten in ihrer Heimat ein Staat gegründet würde, der sich als «nationale Heimstätte des jüdischen Volkes» definiert. Eine entsprechende Abstimmung hätte eine überwältigende Ablehnung ergeben.

Der israelische Historiker Shlomo Sand zeigt in seiner Studie «Die Erfindung des jüdischen Volkes», wie stark der Begriff «Volk» seit dem 19. Jahrhundert auf Mythenbildung der neu entstandenen Nationalstaaten beruhte. Da wurde eine gemeinsame Herkunft auf Grund von Religion und anderen ethnischen Merkmalen imaginiert, die dann wieder für die Konstruktion eines einigermassen homogenen «Volkes» herhalten mussten. Eine Religionszugehörigkeit reicht aber nicht aus, um aus französischen, russischen und äthiopischen Juden ein Volk zu machen. Oder was zum Beispiel soll das sein: ein «Buddhistisches Volk», ein «Christliches Volk», ein «Muslimisches Volk»? Und wo wäre die «Heimat» derartiger Völker? Und weiter: Würde es Sinn machen, wenn jede bedrängte ethnische Minderheit – sei es in Indien, Myanmar, China, Spanien, in der Türkei oder in Syrien – für sich das Recht in Anspruch nähme, irgendwo auf der Welt ein Territorium in Besitz zu nehmen, um dort einen eigenen Staat zu gründen?

Ariel Scharon: «Recht über das Land»

Ariel Scharon publizierte 2001 die zweite Ausgabe seiner Memoiren mit dem bezeichnenden Titel «Warrior», Krieger: Ein Sohn russischer Einwanderer, der über eine militärische Karriere in den arabisch-israelischen Kriegen zum Nationalheld wird und bis zum Verteidigungsminister und Regierungschef aufsteigt. Scharon erinnert sich:

«Eine Konstante waren die Spannungen mit den Arabern, deren Dörfer zwischen den jüdischen Siedlungen lagen. Kfar Malal war 1921 bei einem arabischen Angriff zerstört worden (…)1929, ein Jahr nach meiner Geburt, war die Siedlung erneut bedroht durch die arabischen Unruhen (…) Mein Vater trug eine kleine Pistole und auch meine Mutter wusste damit umzugehen (…) Als ich dreizehn war, half ich, die Felder zu bewachen. Ich sass in der Dunkelheit, bewaffnet mit einem Knüppel und dem kaukasischen Dolch, den mein Vater mir zu meinem Bar Mitzwa geschenkt hatte.» (1)

Die Eltern Vera und Samuel waren russische Juden mit hoher intellektueller Bildung. Vera, Tochter eines weissrussischen Holzhändlers, hatte ihr Medizinstudium in Tiflis abgebrochen, um mit Samuel nach Palästina zu ziehen. Samuel stammte ursprünglich aus der grossen jüdischen Gemeinde von Brest-Litowsk. Seine Familie war vor den Wirren des Ersten Weltkriegs nach Tiflis geflohen. Der studierte Agronom war ein überzeugter Anhänger der zionistischen Bewegung. Für ihn war Eretz Israel sein Land. Er hatte nie den geringsten Zweifel daran, dass Juden einen Besitzanspruch auf das Territorium des britischen Mandatsgebietes hatten, das in der Bibel als Heimat der zwölf Stämme Israels dargestellt wird. Die Eltern Scharons stehen idealtypisch für die Pioniere des Zionismus in Palästina. 

Die Autobiographie des «Kriegers» Scharon ist lesenswert, weil er beschreibt, wie der Konflikt zwischen der ansässigen arabischen Bevölkerung und den jüdischen Einwanderern stetig eskalierte. Die Kriege von 1948, 1967 und 1973 sind am Ende nichts anderes als die Internationalisierung eines seit Jahrzehnten schwelenden Bürgerkrieges um den Besitz von Land und Wasser. Die von der UNO 1948 gebilligte Gründung des Staates Israel wirkte als Brandbeschleuniger des Konfliktes, der bis heute unverändert andauert.

Scharon schildert die Härte des frühen Siedlerlebens, die Anstrengungen seiner Eltern, ein Stück Land im genossenschaftlich organisierten «Moschaw» für den Anbau von Zitrusfrüchten urbar zu machen. Ein Stück Land, auf dem es kein Wasser gab, man musste es mit dem Esel vom Fluss herschaffen. Sie bauten armselige Hütten, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Scharon erinnert sich, wie nachts der Wind durch die Ritzen pfiff und wie er von seinem Bett aus die Ratten sehen konnte, die umherliefen. Die Siedler hatten mit ihrer Hände Arbeit, so Scharon, «aus dem Nichts ein Dorf gebaut (…) ein Malaria verseuchtes Ödland produktiv gemacht.» 

Trotz sporadischer Zusammenstösse blieb die Routine des täglichen Zusammenlebens bestehen. Juden und Araber seien miteinander ausgekommen, schreibt Scharon: «Jews and Arabs still managed to live with each other, meeting daily in the fields and markets and maintaining relationships that grew normaly from their interaction.»

Am erstaunlichsten ist in dieser Hinsicht die Bemerkung:

«Weder meine Eltern noch ihre Kollegen hatten irgendein Problem mit der Vorstellung, sie könnten mit den Arabern auf einer gleichberechtigten Basis zusammenleben. Die Moschawniks waren zwar leidenschaftliche Nationalisten, aber keine Chauvinisten, sie kamen nie auf die Idee, besser zu sein als andere. Meine Eltern glaubten fest daran, dass die Araber volle Rechte im Land hätten (…) Juden und Araber könnten Citoyens Seite an Seite sein.»  (S.24,25)

Genau an dieser Stelle fügt Scharon aber eine entscheidende sprachliche Präzisierung an: Die Araber, so glaubten seine Eltern, hätten Rechte «im Land» (ba’aretz), die Juden aber ohne jeden Zweifel Rechte «über das Land» (al ha’aretz) (S.24/25)

Von Anhängern der zionistischen Bewegung wurde bisweilen argumentiert, es habe nie ein palästinensisches Volk oder einen palästinensischen Staat gegeben, und die jüdischen Einwanderer hätten Regionen besiedelt und fruchtbar gemacht, welche weitgehend unbewohnt oder nur von umherziehenden Beduinenstämmen bewohnt gewesen seien. 

Die Memoiren des Ariel Scharon beweisen – wenn es denn noch eines Beweises bedürfte – dass diese Behauptung falsch ist. Es ist im Übrigen unerheblich, ob man die nicht-jüdische Bevölkerung des britischen Mandatsgebietes als Palästinenser, Araber, Einheimische, Ansässige, oder wie auch immer bezeichnet. Kein ernstzunehmender Historiker wird in Abrede stellen, dass das Territorium relativ dicht bewohnt war, zumindest in den fruchtbaren, bewässerten Gebieten. Es gab jahrhundertealte Ortschaften, die eine mehrheitlich arabische Bevölkerung hatten, es gab – neben Jerusalem – Städte wie Haifa und Jaffa, in denen arabische Muslime, Juden, orthodoxe Griechen und Leute aller Religionen und Farben zusammenlebten, die das zerfallene osmanische Vielvölkerreich einst umfasst hatte.

Die Archive der britischen Mandatsverwaltung zeigen eine eindeutige Faktenlage.

Zum Zeitpunkt der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 gab es im britischen Mandatsgebiet etwa zwei Millionen Einwohner, davon rund 650’000 Menschen, die sich der jüdischen Religion zugehörig fühlten und mehrheitlich aus zahlreichen Ländern eingewandert waren, und mehr als doppelt so viele Nicht-Juden, die in grosser Mehrheit dem arabisch-muslimischen Kulturkreis angehörten. Die Juden argumentierten, sie hätten dort Eigentumsrechte, weil Judäa und Samaria die «biblische Heimat des jüdischen Volkes» sei. Sie nannten es «Alija», was verstanden wird als Heimkehr der Juden in ihr gelobtes Land. Die Alliierten einschliesslich der UdSSR unterstützen die jüdische Forderung nach einem Zufluchtsort mit Verweis auf das unermessliche Leid, dass jüdische Menschen durch den Holocaust erfahren hatten. Die Araber antworteten mit blutigen Aufständen, die ebenso blutig niedergeschlagen wurden. Die Situation eskalierte zu einem Guerrilla-Krieg zwischen arabischen und jüdischen Milizen.  

Es ist nur mit dem Holocaust der Nazis zu verstehen, wie unter diesen Umständen die Gründung eines jüdischen Staates auf palästinensischem Gebiet beschlossen werden konnte. Der Beschluss war ein Programm für Krieg, Tod und Teufel. Unter dem Druck von Grossbritannien und USA nahm die UNO-Vollversammlung am 29. November 1947 die Resolution 181 an, dank welcher Palästina in einen jüdischen Staat und einen arabischen Staat aufgeteilt wurde. Die arabischen Länder hatten die Resolution aufs heftigste bekämpft. 

Am 15. Mai 1948, wenige Stunden nach der offiziellen Gründung des Staates Israel, greifen Ägypten Jordanien, Syrien, der Libanon, der Irak und Saudi-Arabien Israel an. Sie werden zurückgeschlagen. Die israelischen Streitkräfte erobern unter anderem rund 40 Prozent des Landes, das im Teilungsplan für einen arabisch-palästinensischen Staat vorgesehen war. 750’000 Araber und damit die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung verlieren ihre Heimat. Sie werden gewaltsam vertrieben oder fliehen aus Angst vor einem Leben unter israelischer Herrschaft.

Im nächsten Krieg, dem Sechstage-Krieg von 1967, erobert Israel unter anderem das Westjordanland, welches es bis heute völkerrechtswidrig militärisch kontrolliert. 

«Das Schweigen brechen»

Die international üblichen Bezeichnungen «Palästinensische Autonomiegebiete» oder «Palestinian Authority» sind Wörter, die eine Unwahrheit kaschieren. Denn weder sind diese Gebiete autonom, noch haben die palästinensischen Behörden eine wirkliche Souveränität auf dem Flickenteppich ihrer Staats-Attrappe.  Es handelt sich um Zonen, die ähnlich wie einst die Indianerreservate in den USA ohne demokratische Mitsprache und gegen den Willen der Betroffenen von Israel definiert wurden. Das Patchwork ist in unterschiedliche Stufen der «Autonomie» unterteilt. Aber was auch immer diese Abstufungen und die administrativen Erfindungen der israelischen Bürokratie sein mögen, zwei Dinge sind für jeden Ort in Palästina immer gleich und allgegenwärtig: die ununterbrochene militärische Überwachung und der ununterbrochene Landraub durch den Bau der jüdischen Siedlungen. Weit mehr als dreihundert Siedlungen sind es inzwischen, bewohnt von mehr als einer halben Million jüdischer Siedler.  

Die Landkarte des Westjordanlandes ist aus Sicht der Palästinenser eine Geographie der Schande und der Würdelosigkeit. Im Süden ist der offiziell unabhängige, in Wirklichkeit aber von Israel und Ägypten abhängige Gazastreifen ein Käfig, in dem zwei Millionen Menschen zwischen den Ruinen hausen, die die israelische Luftwaffe bei ihren jeweiligen Angriffen hinterlässt. Sie leben unter Bedingungen, welche der aus jüdischer Familie stammende Schriftsteller Ralph Giordano einmal „den untersten Kreis der Lebenshölle“ genannt hat. Der Westen unterstützt den ägyptischen Diktator, der die früher durchlässige Grenze zum Gazastreifen so dicht wie möglich macht. Westliche Medien scheinen sich mit der Situation abgefunden zu haben, nachdem das Oslo-Abkommen gescheitert war. Palästina ist kein Thema mehr.

Umso wichtiger sind Augenzeugenberichte. 2018 entsandte die Nichtregierungs-Organisation «Peace Watch Switzerland», die mit dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche (HEKS) zusammenarbeitet, eine Gruppe von Beobachterinnen und Beobachtern für drei Monate nach Israel und Palästina, um die Menschenrechtslage zu prüfen. Sie waren oft von den frühen Morgenstunden bis zum Abend an verschiedenen israelischen Checkpoints im Westjordanland und an den Grenzübergängen der «Separation Barrier» präsent und dokumentierten, mit welchen Methoden die israelische Besatzungsmacht das tägliche Leben der Palästinenser unter Kontrolle hält. Die Historikerin Henriette Hanke Güttinger war Mitglied der Delegation und hat die Bestandsaufnahme der Erkundung jetzt in einem Buch vorgelegt (2). 

Erschütternd in diesem Bericht sind nicht nur die Beobachtungen der Schikanen und der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, sondern auch Zeugenaussagen ehemaliger israelischer Soldaten der Gruppe «Breaking the Silence» (3). Die Organisation besteht aus Mitgliedern der Armee, die in den besetzten Gebieten im Einsatz waren, und danach mit Schuldgefühlen und traumatischen seelischen Folgen zu kämpfen haben. Siehe Kasten. 

Aussagen eines ehemaligen Offiziers der israelischen Streitkräfte:

«Ziel ist die Kontrolle der Palästinenser mit verschiedenen militärischen Mitteln. Wir errichten mobile Checkpoints (flying checkpoints) innerhalb der Westbank mit dem Ziel, mit diesen Strassensperren die Bevölkerung einzuschüchtern. Wenn ein Palästinenser z.B. eine Reise plant, weiss er nie, wo er an einen Checkpoint kommt, wo ihm 18-jährige schwerbewaffnete Soldaten zeigen, wer die Macht hat. (…)

Wir führen auch sogenannte Mapping Missions durch. Schwerbewaffnete Soldaten gehen mitten in der Nacht zum Haus einer Familie, von der der Geheimdienst weiss, sie sind unverdächtig (…) Die Soldaten umstellen das Haus. Alle werden aufgeweckt, von den Säuglingen bis zu den alten Leuten. Alle und alles wird fotografiert. Es werden Fragen gestellt: Wo geht ihr zur Schule? Wo arbeitet ihr? (…) Jeder Palästinenser weiss jetzt, was ihm blüht. Die Botschaft ist: Auch wenn ihr nie etwas macht, man kann jederzeit in euer Haus kommen und euch so behandeln. Das ist psychologische Kriegsführung (…)

Oder wir fahren in ein Dorf, holen einen Unschuldigen aus seinem Haus, damit alle Leute das sehen und wütend werden, weil sie wissen, er ist unschuldig. Kinder werfen dann Steine, und dann kommt unsere militärische Nachhut angerückt und kann Verhaftungen vornehmen. Seit Jahren ist dieses Vorgehen des Militärs im besetzten Palästinensergebiet systematisch. Aus anderen Ländern kommen Leute, um bei uns zu lernen, wie man die Bevölkerung einschüchtert und kontrolliert (…)

Bei einem ersten solchen Einsatz ist man noch anständig. Nach 20,40 Einsätzen verroht man. Man will kurzen Prozess machen.» (4)

Der israelische Historiker Zeev Sternhell sagte einmal, das grösste Versagen seiner Generation sei die Unfähigkeit gewesen, die Katastrophe zu verhindern, die man kommen sah: «Die Kolonisierung des Westjordanlandes ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Siedler sind so zahlreich und so mächtig, dass der Versuch, gegen sie vorzugehen, in einen Bürgerkrieg führen würde. Es ist einfacher, Krieg gegen die Araber als gegen die Siedler zu führen.» (Der Spiegel 28, 2014

Und Uri Avnery, der 2018 verstorbene israelische Journalist und Friedensaktivist, nannte den Sieg im Sechstagekrieg von 1967 das grösste Übel für Israel. Israel wurde Besatzungsmacht, und das Regime der militärischen Besatzung infiziere die Herzen und Hirne der israelischen Gesellschaft, mache die israelische Demokratie langsam kaputt. Denn derselbe israelische Soldat oder Polizist könne nicht in der Westbank Diktator sein und fünf Kilometer weiter in Israel ein Demokrat. 

Israel hat, wie viele Länder auf dieser Welt, nicht nur Licht sondern auch Schatten in seiner Vergangenheit. Kein Mensch von realpolitischer Vernunft würde heute das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Aber man stelle sich vor, ein israelischer Premierminister würde die Palästinenser öffentlich für erlittenes Unrecht um Verzeihung bitten. Es wäre vielleicht nicht mehr als ein erster winziger Schritt auf der Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse.

__________
FUSSNOTEN
(1) Ariel Sharon: A Warrior, S. 23
(2) Henriette Hanke Güttinger. This is Palestine…is this Palestine? Bericht aus dem Besetzten Palästinensischen Gebiet.
(3) Vgl. Our Harsh Logic : Israeli Soldiers’ Testimonies from the Occupied Territories: New York: Metropolitan Books, 2012
(4) Hanke Güttinger, S. 158


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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7 Meinungen

  • am 12.11.2021 um 17:56 Uhr
    Permalink

    Danke. Ich finde jede Bemühung gut, irreführende Geschichtsschreibung zu korrigieren.
    Nur etwas möchte ich präzisieren. Als die arabischen Nachbarstaaten Palästinas intervenierten, standen bereits zigtausende Flüchtlinge an ihren Landesgrenzen und dutzende Dörfer Palästinas waren bereits zerstört. Die ethnischen Säuberungen haben also unmittelbar nach Verabschiedung des Teilungsvorschlags der damaligen Mini-UNO im November 1947 begonnen und nicht erst nach der Ausrufung des israelischen Staates im Mai 1948. Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang auch, dass diese arabischen Staaten, wenige Jahre zuvor noch unter Kolonialherrschaft standen und in ihrer Mehrheit, von Potentaten von Grossbritanniens Gnaden regiert wurden, die zudem unter sich in einem Kampf um Machtansprüche standen. Auch der Zustand dieser „Armeen“ zu dieser Zeit müsste man sich vor Augen führen. Ebenso, die Tatsache, dass die einzige wirklich kombative Truppe die noch immer von britischen Offizieren kommandierte Leibgarde des jordanischen Königs war. Alles nachzulesen bei Illan Pappe oder Simcha Flapan.

    • am 13.11.2021 um 18:10 Uhr
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      Wohltuend, hier einmal die Fakten klar und deutlich lesen zu können: die jüdischen Siedler hatten auf breiter Front die Feindseligkeiten eröffnet – dank ihrer militärischen Überlegenheit. Erst dann haben die Araber die arabischen Staaten händeringend um Schutz gebeten. Den diese allerdings kaum gewähren konnten. Doch die Halbwahrheiten werden bis auf den heutigen Tag mit Inbrunst erzählt. Ging uns auch so bei einem Besuch in Israel.
      Kismet?

  • am 12.11.2021 um 18:08 Uhr
    Permalink

    Was Du nicht willst, was man dir tut (oder tat), das füg auch keinen anderen zu.

  • am 13.11.2021 um 11:24 Uhr
    Permalink

    Danke Helmut Scheben für diesen informativen Beitrag.

    Es erstaunt mich immer wieder, was sich Israel gegenüber den Palästinensern leistet und leisten kann.
    Es gibt wohl etwas Widerstand im Land und ein paar wenige Kritiker, welche kein Gehör finden, wie Amnesty International und Human Rights Watch.

    Wann nimmt das alles ein Ende?

  • am 13.11.2021 um 15:43 Uhr
    Permalink

    Historisch alles richtig und gut, Herr Scheben, erlauben Sie mir aber, psychologisch weiter auszuholen. Der Zionismus, fälschlicherweise dem „Nationalismus“ gleichgestellt, entstand, als der österreichische Journalist Theodor Herzl dem Prozess gegen den französischen und jüdischen Offizier Richard Dreyfuss wegen angeblichen Landesverrats beiwohnte. Herzl kannte die anti-jüdischen Mordprogromme in der Ukraine, Polen und Russland. Ihm war klar, dass nur ein Leben in einem eigenen Staat allen Juden eine Sicherheit bieten würde. Er rief nach dem „Judenstaat“ (Titel seines Buches), und Tausende aus Osteuropa folgten seiner Aufforderung. Der Holocaust hat ihm ja auch recht gegeben, doch sein Spruch „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ war falsch, und die europäische Juden, die in die Heimat der Palästinenser einwanderten, hatten auch kein Interesse, die Einwohner näher kennenzulernen. Die Gegenreaktion blieb nicht aus, und so eskalierte der Konflikt, der bis heute bei den Israelis ständig durch die Furcht vor einem erneuten Holocaust Nahrung erhält, bei den Palästinensern durch den Verlust der Heimat und der ständigen Unterdrückung. Nur ein garantierter, gerechten Frieden kann den Konflikt lösen, oder wenn die jüngeren Generationen auf beiden Seiten endlich „Stop“ sagen und sich demokratisch einigen. Leider hat unsere auf Streit und Konkurrenz ausgerichtete, undemokratische westliche Kultur keine Augen für diese Tragik, sonst wäre der Konflikt schon längst gelöst.

  • am 14.11.2021 um 12:54 Uhr
    Permalink

    Es begann -und setzte sich fort … alles so – so übel und menschlich-
    wie man vorausahnen konnte, wenn aus «un-menschlicher» Geschichte gelernt.

    Fürchterlich, was «früher» den Juden geschah –
    und grausam, was seither den Arabern «im Zusammenhang mit Israel» geschieht.

    Erst einmal müsste der Expansions-Drang Israels enden. Die Expansions-Not müsste eigentlich Vergangenheit sein.

    Anschliessend wäre es gut, wenn arabischer-seits -wenn auch mit blutendem Herzen, aber in Erwartung allmählicher friedlicher Ko-Existenz-
    akzeptiert würde, dass Israel die bis zu einem Stichtag «vereinnahmten» Territorien nicht kampflos räumen (allenfalls tauschen) wird.

    UND es müsste BEIDERseits —-aus Überzeugung, dass einzig zukunftsfähig—
    Frieden gepredigt und gelehrt werden.

    Ein Weg, bestehend aus groben, spitzigen, scharfkantigen Steinen für die Araber —
    aber meiner Meinung nach der einzig zukunftsfähige Weg. Leider ! ! !

    Wolf Gerlach
    scheinbar.org

    • am 16.11.2021 um 17:45 Uhr
      Permalink

      Es wird keine friedliche Ko-Existenz in Palästina/Israel geben: die, die die Macht haben, erinnern sich zu deutlich an 1000 Jahre der Qual, der Unterdrückung, der Ausrottung durch «die» Christen; christlicher Antisemitismus, bürgerlicher (das war der Futterneid der wohlgenährten Bürgerlichen Kreise, die nichts abgeben wollten), dann der rassistische der Nazis, die schrecklichste Stufe der Entwicklung. Nach den 1000 Jahren der Naziherrschaft und des Aufbaues großer Macht, gerade auch militärischer, kam das chauvinistische «Wir sind wieder Wer», die Selbstherrlichkeit, die grenzenlose. Und die kam nicht aus dem Nichts: bei den deutschen Zuwanderern in Palästina in den 1920-ern entbrannten schon große Kämpfe dieser Juden untereinander. Die große Frage war, da das Land entgegen den vorsätzlichen Lügen eben nicht menschenleer war, «was machen wir mit den vorhandenen Arabern?» Die Humanisten wollten friedlich mit den einheimischen Arabern leben, eine neue Gemeinschaft, eine friedlich Gesellschaft aufbauen, sie waren sich dessen bewußt, daß sie selbst eigentlich die Gäste waren. Die schon damals mehr auf Herrschaft ausgerichtete Gruppe wollte die Einheimischen als Sklaven, rechtlos, keine Staatsbürgerschaft, dulden – aber für die ganz Radikalen gab es nur eines: vertreibt die Araber, das ist unser Land, wir sind wieder da. Was man dann 1948 konsequent gemacht hat – bis auf den heutigen Tag. Arnold Zweig hat das sehr anschaulich geschildert – und ist vor seinen ihn hassenden Landsleu

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