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Der IWF als übermächtiges Ungeheuer © El Polako

Ecuador: Die Gewalt, über die niemand spricht

Andrea Sempértegui /  Über Gewalt während des Landesstreiks wurde viel diskutiert, aber kaum über die strukturelle Gewalt, die Ecuadors Wirtschaft prägt.

Red. Die Autorin Andrea Sempértegui ist in Quito geboren und aufgewachsen. Sie lebt derzeit ausserhalb von New York, wo sie ihre Doktorarbeit in Soziologie schreibt. 

Wir schreiben Donnerstag, den 10. Oktober und im Haus der Kultur im Zentrum Quitos, kommt es im Rahmen des landesweiten Streiks zu einer Volksversammlung, einer sogenannten asamblea popular. Während die Regierung ihren Sitz aus der Hauptstadt nach Guayaquil an die Küste verlegt hat, ruft Leonidas Iza, einer der Führer des movimiento indigenas, der Menge zu: «Der Staat funktioniert nur dank unserer Arbeit.»
Tatsächlich liegt die Produktion in diesen Tagen flach. Die Hände, die unser Essen produzieren, sind auf dem Weg nach Quito oder blockierten die Strassen. Die Forderung von Leonidas Iza und den Anwesenden in der Halle: «Der Internationale Währungsfonds muss weg! Das Wirtschaftsprogramm ist ein Akt der Gewalt und erzeugt daher wiederum Gewalt!»
Tags zuvor hat eine Gruppe Frauen namens Ecuayork Women’s Committee den Eingangsbereich des IWF in New York besetzt. Auf einem ihrer Banner stand: «Weder Moreno noch Correa, der Kampf gehört dem Volk!» Sie stimmen mit Leonidas Iza überein, dass die von Präsident Lenin Moreno diktierten Massnahmen neoliberaler Wirtschaftspolitik Gewalt implizieren. Ihre Körper, ihre Lebensgeschichten erinnern sich an diese Gewalt. «Viele von uns sind auf Grund der Wirtschaftskrise dazu gezwungen worden, auszuwandern», heisst es in ihrer Erklärung. «Und das Dekret 883 (zur Streichung der Subventionen auf Benzin und Diesel; Anm. Red.) betrifft sowohl ArbeitnehmerInnen und Frauen, die unentgeltlich zu Hause arbeiten als auch GelegenheitsarbeiterInnen mit oder ohne Vertrag, deren Mindestlohn gesenkt würde. Es handelt sich um die Wiederholung von Wirtschaftsmassnahmen, die der IWF bereits in der Vergangenheit verhängt hatte.»  
«Freiheit» im neoliberalen Sinne
Die vom IWF über Strukturanpassungsprogramme diktierte Gewalt hat eine Vielzahl von Spuren hinterlassen. Das dürfte all jenen klar sein, die sich an die Absetzungen der ecuadorianischen Präsidenten in den 1990er Jahren erinnern, und die uns Jungen geprägt haben. Denn viele von uns haben vor zwei Jahrzehnten Grosseltern, Tanten und Onkel sowie Cousins verabschiedet, die damals nach Spanien auswanderten. 
Allerdings kanalisiert diese Erinnerungen jeder auf seine Art. Entsprechend gross sind diesbezüglich unsere schwarzen Löcher. Oder wir legen uns unsere Erinnerungen so zurecht, dass sie in unser Weltbild passen – wie im Falle von Otto Sonnenholzner. Der 36-jährige Vizepräsident Ecuadors meinte in Hinblick auf die Sparmassnahmen, dass man «das Richtige über das Populäre» stelle, und sagte eine Woche vor Streikausbruch, dass sich die Bevölkerung in Bezug auf die Sparmassnahmen keine Sorgen machen müsse.
Es klang so, als ob das Volk nichts von Politik verstehe –sich also nicht selber regieren solle.
Selbstverständlich fehlte es auch nicht an den ranzig gewordenen Erinnerungen vieler JournalistInnen und KommentatorInnen, etwa der Zeitungen «El Comercio» oder «El Universo». Sie bekräftigten nicht nur den offiziellen Diskurs, wonach die BürgerInnen doch bitte verstehen sollen, warum die Regierung diese Massnahmen verabschiede. Die etablierten Medien zeigten auch keine anderen Wege auf. Dadurch stimmten sie gewollt oder ungewollt in das Mantra von Margaret Thatcher ein, das da lautet: There is no alternative – Es gibt keine Alternative. Die britische Premierministerin (1979–1990) begründete damals zusammen mit Regierungen wie jener unter Ronald Reagan (1981–1989) aus den Vereinigten Staaten eine neue Ethik, einen neuen «gesunden Menschenverstand», um die Mechanismen der Enteignung zu legitimieren, will heissen: Um in einer «freien Welt» zu leben, gibt es keine Alternative zum Neoliberalismus. 
Sind wir tatsächlich derart kolonialisiert? Oder haben wir uns einfach schon an die Gewalt gewöhnt?
Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es genügend Beispiele, um zu erkennen, dass die «Freiheit» von ein paar Wenigen historisch auf der gewaltsamen Enteignung Anderer gründet. Hinzu kommt, dass die neoliberale Gewalt auf dem Kontinent heute derart oft und explizit mit patriarchalischer, rassistischer und kolonialer Gewalt verflochten ist, dass wir sie gemeinsam analysieren müssen.
Dazu reicht bereits ein Blick auf Argentinien, wo die neoliberale Politik von Präsident Mauricio Macri während den vergangenen vier Jahren nicht nur die Bevölkerung verarmen liess, sondern auch mit einem beispiellosen Anstieg an Feminiziden (Frauenmorde) einhergeht. Oder Brasilien, wo Jair Bolsonaro die Wahlen gewann, indem er einen Investorenfreundlichen Diskurs pflegte und diesen mit einem extremen Konservatismus verwob, der die Verschärfung der Gewalt in jeder Hinsicht provoziert hat. Oder die Vereinigten Staaten, wo Donald Trump Rassismus und Gewalt gegen MigrantInnen predigt und gleichzeitig die neoliberale Agenda vorantreibt, etwa indem er die Steuern für Millionäre senkt und den Staat als Kontrollinstanz am liebsten ganz auflösen würde.
Polizei bombt Bevölkerung weg vom Parlament 
Während dieser Text entsteht, berichten FreundInnen in Ecuador, dass die Regierung einen Helikopter mit Munitionsnachschub einfliegen liess – und dies, obwohl sie vor dem nationalen Parlament nicht nur friedlich, sondern sogar mit erhobenen Händen demonstrierten. Das Bild der DemonstrantInnen, die sich von den von Polizei und Militär abgefeuerten Tränengas- und Schrotbomben in Sicherheit bringen, wird uns in Erinnerung bleiben. Wie selten zuvor handelte der ecuadorianische Staat erschreckend aggressiv.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass das, was die BewohnerInnen Quitos zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der Stadt gesehen haben, nämlich diesen unerwarteten Gewaltausbruch, anderswo schon immer seine Zeugen hatte.
Die indigenen compañeros aus dem Amazonasbecken, die ebenfalls für die Proteste nach Quito gekommen waren, sind eine lebendige Erinnerung an die ermordeten Brüder der Shuar. Sie sind sich bewusst, dass nicht nur ihre Territorien im Fokus der Bergbau-Industrie stehen, sondern ihr ganzes Leben für den auf Rohstoffausbeutung organisierten Staat auf dem Spiel steht.
Sie erinnern sich an den Lehrer Bosco Wisum, der vor zehn Jahren bei einer Konfrontation mit der Polizei ermordet wurde. Es geschah während einer Demonstration der Shuar in der Stadt Macas. Diese richtete sich gegen das Wassergesetz, und sprach sich aus für eine Provinz (Morona Santiago) frei von Bergbau- und Erdöl-Aktivitäten.
Sie erinnern sich ebenfalls an den jungen Shuar  Freddy Taish, der im Jahr 2013 innerhalb einer «Operation gegen den illegalen Bergbau» durch ecuadorianische Armeeoffiziere getötet wurde. Und sie werden den Shuar-Führer José Tendetza nie vergessen, der sich im Widerstand gegen das riesige Bergbau-Projekt Mirador des chinesischen Staatsbetriebs ECSA in Tundayme befand, und Ende 2014 stranguliert am Ufer des Flusses Chuchumbletza gefunden wurde. Sie werden ihre ermordeten Führer genauso wenig vergessen wie die Bagger, die etwa in Tundayme ihre kleinen Häuser abrissen, oder wie ihre Kinder und die Shuar-Frau schrien, als diese während der gewaltsamen Räumung bei Nankintz im Süden des Landes (ebenfalls wegen eines Bergbauprojekts) ihr Baby zur Welt bringen musste.
Der Austritt aus der OPEC und seine Konsequenzen 
Die Indigenen protestierten jedenfalls nicht nur gegen die Anfang Oktober erlassenen Sparmassnahmen (die inzwischen teilweise wieder aufgehoben wurden). Sie kamen, um ihre Stimme zu erheben und so der Ausbreitung von Erdöl- und Bergbauprojekten in ihren Gebieten Einhalt zu leisten. Sie wissen, dass die vom IWF diktierten Strukturanpassungen einhergehen mit zusätzlicher Gewalt in ihren Territorien. Für den ecuadorianischen Staat sind die Konzessionen für neue Erdölbohrungen oder Bergbauprojekte entscheidend, um jene Einnahmen zu generieren, die dem vom IWF auferlegten Mantra zur «Reduzierung des Haushaltdefizits» gerecht werden.
Aus diesem Grund entschied sich das Land auch dafür, aus der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) auszutreten, um sich nicht an die von der OPEC definierte Limite zur Erdölförderung halten zu müssen. Das Signal ist klar: Ecuador nähert sich nach zehn Jahren «Correismus» mehr und mehr der USA an. Der Vorsteher des Ministeriums für Nicht-Erneuerbare Energien, Carlos Pérez, erklärte noch in derselben Woche, in der die Sparmassnahmen präsentiert wurden, dass es im November zu einem neuen Ausschreibungsverfahren zur Erdöl-Produktion kommen werde. Im Visier der Industrie: die Vorkommnisse im Nationalpark Yasuni.
Aber scheinheilige Leute lassen sich bekanntlich schnell empören. Und so wird der materielle Schaden im Zentrum der Hauptstadt, potenziert durch übertriebene Moralvorstellungen, pauschalisierend der «Gewalt der Indigenen» zugeschrieben. Die Gutmenschen des digitalen Magazins «4 Pelagatos», wollten uns gar weissmachen, dass «Gewalt nicht der Weg ist, um zu protestieren». 
Wenn die nur wüssten, was die Augen von Macas, Nankintz und Tundayme gesehen haben …
Morenos neuer Horizont: Bergbauprojekte 
Schnell dürfte es dann heissen, dass Nankintz und Tundayme nur unter der Regierung des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007–2017) möglich waren. Umso wichtiger ist es deshalb, daran zu erinnern, wenn wir die Schuld einer Regierung zuschieben, die Grossteile der wirtschaftlichen Oligarchie unantastbar gemacht hat, wir damit vergessen, dass die Rohstoffausbeutung (Extraktivismus) nicht erst mit Correa begann. Der Extraktivismus hat seinen Ursprung im «weiss machen» (blanqueamiento) unserer Geschichte: die Suche nach Gold und Zimt vor über 500 Jahren, das Kautschuk-Fieber in den Jahrzehnten nach der Republiks-Gründung (1830), das erste Fass Erdöl 1972 unter der Militärdiktatur von Guillermo Rodríguez Lara. Auf dem Entwicklungsmodell, das den Neo-Extraktivismus als Fundament hat, baute Correa dann die Bürgerrevolution («Revolution ciudadano») auf. Eine Regierung, die sich als links bezeichnete, obwohl sie die Rohstoff-Ausbeutung weiter vorantrieb, mit aller Brutalität jegliche soziale Bewegungen unterdrückte und der «Geschlechterideologie» den Krieg erklärte.
Als die Preise des Erdöls fielen, sprach Correa weiterhin von der «langen neoliberalen Nacht» und ersetzte die IWF-Kredite der 1990er Jahre durch Erdölkredite und Privilegien für die chinesische Regierung. Mit Lenin Moreno, dem ehemaligen Vizepräsidenten von Correa (2007–2013) kehren wir nun zum IWF zurück. Der Zyklus der Enteignung geht weiter und die strukturelle Gewalt wird sogar noch einmal verschärft. Morenos neuer Horizont fürs Vaterland: Bergbauprojekte. 
Deshalb ist die Aufhebung des Dekrets 883 durch die Regierung – und zwar nach einem im Fernsehen live übertragenen Dialog zwischen ihr und dem movimiento indigena rund um Leonidas Iza und Jaime Vargas – als Erfolg zu werten. Es ist ein Erfolg, weil es mit Nachdruck dem Zyklus der Enteignung gegenübertritt und jene Kräfte in die Knie gezwungen hat, die die strukturelle Gewalt im Namen des «gesunden Menschenverstands» rechtfertigen. Auch ist es ein Erfolg, weil der Streik die BewohnerInnen der Städte über ihre eigenen Grenzen hat hinausgehen lassen, und im Widerstand mit dem movimiento indigena enorme Solidarität zeigte und die Demonstrierenden von Beginn weg mit Essen und Pflege versorgten – trotz des brutalen Eingreifens des staatlichen Sicherheitsapparats, der zu allem fähig ist, um das Diktat der Welteliten durchzusetzen.
Die Kraft der Vorstellung
Wir kennen den Umfang dieses Erfolges noch nicht, aber es war ein seltsam politischer Moment in einem eigentlich schlafenden Land.  
Die Politik, die sich während den vergangenen Wochen herauskristallisiert hat, ist zweifellos eine Politik, die wir noch nicht wirklich kennen und die uns in unseren Grundfesten erschüttert, und deshalb Angst macht. Es ist eine Politik, die sich in jenen Gegenden ausgebreitet hatte, die man gar nicht auf der Agenda hatte – weder auf dem Land, noch in der Stadt. Es ist die Politik des Sich-Behaupten-Könnens, weil sie gelernt hat, das Leben trotz kolonialer, patriarchaler und extraaktivistischer Besetzung reproduzieren zu können.
Es ist die Politik, die uns die rebellische Vorstellungskraft zurückgibt und lehrt, dass Herrscher, die dem Volk nicht gehorchen, nicht regieren sollten. Es ist jene Vorstellungskraft, die die neoliberale Rationalität ausrotten will, es aber noch immer nicht geschafft hat. Für diesen Schub hinsichtlich dieser Vorstellungskraft, die plötzlich in unseren Alltag eingebrochen ist, und für alles, was sie uns seither beigebracht hat, sagen wir danke: Gracias compañeros indigenas! Wir bleiben wachsam. Wir werden weiterkämpfen.

Übersetzung aus dem Spanischen: Romano Paganini

Dieser Beitrag erschien zuerst bei mutantia.ch.
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