Timothy_Snyder_Rede_Europa_Wien_2019

Professor Timothy Snyder spricht in Wien zu Europa (2019) © Common

Dolchstosslegende à l’américaine

Jürg Müller-Muralt /  Wenige haben schon zu Beginn der Trump-Ära so klar gezeigt, in welche Turbulenzen diese führt, wie der Historiker Timothy Snyder.

Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat einmal sinngemäss geschrieben, dass alle grossen, weltgeschichtlichen Vorgänge sich zweimal ereigneten. Karl Marx ergänzte ihn so: «Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.» Wir erleben heute mit der Behauptung Donald Trumps, der Wahlsieg Joe Bidens beruhe auf Wahlfäschung, eine derartige Farce. Die vorgängige Tragödie geschah vor rund hundert Jahren in Form der Dolchstosslegende. Sie gehört zu den wirkmächtigsten und verheerendsten Verschwörungsmythen des 20. Jahrhunderts. Nicht das Geschehen selbst, doch das Muster ist in Trumps Verhalten gut zu erkennen.

Gift für die junge deutsche Demokratie

Die Dolchstosslegende ist eine von der deutschen Obersten Heeresleitung nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg erfundene Geschichte. Das Heer sei «im Felde unbesiegt» geblieben, habe aber von «vaterlandslosen» Zivilisten aus der Heimat einen «Dolchstoss von hinten» erhalten. Damit versuchte die Armee, die militärische Niederlage des Deutschen Reiches insbesondere auf die Sozialdemokratie, weitere demokratische Politiker und das «bolschewistische Judentum» abzuwälzen. Deutschland verlor den Krieg allerdings wegen der massiven Übermacht seiner Feinde an der Westfront. Doch die einmal in die Welt gesetzte Dolchstosslegende war Gift für die junge deutsche Demokratie. Es war ein wichtiges Mittel in der Propaganda der Nazis, und es wurde zu einem zentralen Element ihrer Geschichtsauffassung.

NZZ: «Anschlag auf die Demokratie»

Dass Trump ein gefährliches Spiel mit der Demokratie betreibt, indem er seine Niederlage nicht akzeptiert, bestreitet heute kaum mehr ein vernünftiger Mensch. Selbst die NZZ, die bisher mit Chefredaktor Eric Gujer manchmal etwas gar viel Empathie für Trump aufbrachte, hat die Zeichen der Zeit erkannt: «Der Präsident und seine Mitstreiter verüben einen Anschlag auf die Demokratie», schreibt NZZ-Korrespondentin Meret Baumann und hält zudem fest, «dass ein solch staatsstreichartiges Vorgehen tatsächlich zur Strategie Trumps gehört.»

Einer, der das «Potenzial» Trumps in dieser Beziehung schon sehr lange scharf beobachtet, ist Timothy Snyder, Geschichtsprofessor an der amerikanischen Yale University, eine der renommiertesten Universitäten der Welt. Er veröffentlichte am 11.11.2020 im Boston Globe eine bemerkenswerte Analyse dazu – und eine Warnung: «Unterschätzen Sie nicht, wohin das führen kann.» Denn «wenn die Menschen glauben, dass eine Wahl gestohlen wurde, macht das den neuen Präsidenten zu einem Usurpator.» Auch in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen vom 21.11.2020 vergleicht Snyder das Verhalten Trumps ausdrücklich mit der Dolchstosslegende am Ende des Ersten Weltkriegs: «Eine grosse Lüge über eine Niederlage kann die Art verändern, wie eine Gesellschaft denkt.»

«Der Mythos des Opferdaseins»

Die Demokratie kann also mit einer grossen Lüge zu Grabe getragen werden. Natürlich würde das Ende der Demokratie in den USA eine «amerikanische Form» annehmen und nicht vergleichbar sein mit anderen Vorgängen, schreibt Snyder im Boston Globe. Doch Trumps Mantra, die Wahl Bidens sei «gestohlen», Biden sei ihm also in den Rücken gefallen, erlaubt in Zukunft fast alles. Eine deutliche Warnung richtet Snyder auch an die Republikanische Partei, die Trump bis zum heutigen Tag stützt: «Die Geschichte zeigt die Gefahr am bekannten Beispiel von Hitler. Wenn Politiker die Demokratie brechen, wie es die Konservativen im Deutschland der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre taten, irren sie sich, wenn sie glauben, dass sie das weitere Vorgehen kontrollieren werden. Es wird sich jemand anderes herauskristallisieren, der besser an das Chaos angepasst ist und es auf eine Weise handhaben wird, die sie weder wollen noch erwarten. Der Mythos des Opferdaseins kommt nach Hause und fordert seine Opfer.»

20. Jahrhundert bietet Anschauungsmaterial

Timothy Snyder gehört zu den schärfsten Kritikern Donald Trumps. Schon im Februar 2017, also kurz nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten, veröffentlichte er mit dem Buch Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand (siehe Infosperber) eine für einen Historiker ungewöhnlich scharfe Intervention. Die aktuelle Situation in den USA bestätigt die Befürchtungen Snyders, die er vor knapp vier Jahren schon geäussert hat.

Nun ist es Snyder auch klar, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Aber er ist überzeugt, dass man aus ihr lernen kann, eine Überzeugung, die nicht alle Historiker in dieser offensiven Art teilen, wie sie der Autor in seiner Schrift vertritt. Um seine 20 Lektionen zu untermauern, greift Snyder auf Beispiele aus der Zeit der Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts zurück (Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus). Dort findet er genügend Anschauungsmaterial, um zu zeigen, wie Gesellschaften zerfallen, Demokratien untergehen, moralische Werte zusammenbrechen und «ganz gewöhnliche Menschen plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Es wäre für uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war.» Snyder behauptet in seinem Buch nicht, wir stünden unmittelbar vor der politischen Apokalypse. Er vergleicht lediglich Strukturmerkmale, zeigt auf, wie demokratische Minimalstandards mehr oder weniger subtil unterspült werden.

Fakten preisgeben, heisst Freiheit preisgeben

Besonders interessant im aktuellen Zusammenhang ist ein Kapitel in seinem Buch von 2017, das sich mit dem Verhältnis zur Wahrheit beschäftigt. «Die Fakten preiszugeben heisst, die Freiheit preiszugeben», schreibt Snyder. «Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren, denn es gibt keine Grundlage, von der aus man Kritik üben könnte.» Der Autor stützt sich in diesem Kapitel stark auf die Beobachtungen zum Totalitarismus, wie sie Victor Klemperer gemacht hat. Der Literaturwissenschaftler und Romanist hat als protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft das Dritte Reich überlebt und während der ganzen Zeit subtile Beobachtungen über die Alltagserfahrungen im Zeichen der Ausgrenzung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus aufgezeichnet. Berühmt wurde seine Abhandlung LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches).

Der vierfache Tod der Wahrheit

Gemäss Klemperer stirbt die Wahrheit auf vierfache Weise, und diese Entwicklung kann man laut Snyder bei Trump geradezu beispielhaft mitverfolgen. Die erste Art und Weise ist die offene Feindseligkeit gegenüber der verifizierbaren Wirklichkeit. Sie äusserst sich so, «dass man Erfindungen und Lügen präsentiert, als ob es sich um Fakten handelte», schreibt Snyder in seinem Buch Über Tyrannei von 2017. Das zweite Verfahren bezeichnet Snyder als «schamanistische Beschwörung»: «Wie Klemperer gezeigt hat, beruht der faschistische Stil auf millionenfachen Wiederholungen, die das Fiktive plausibel und das Verbrecherische erstrebenswert machen sollen.» Durch stupide Wiederholung via Twitter gelang es schon dem Kandidaten Trump, Individuen in Stereotype zu verwandeln. Etwa, in dem er Hillary Clinton ständig als «betrügerische Hillary» titulierte. Worauf der tobende Trump-Mob seinem Caudillo frenetisch mit dem Ruf zujubelte: «Lock her up» («Sperr sie ein»).

Eine dritte Methode bezeichnet Synyder als «magisches Denken». Der Präsident kann das Blaue vom Himmel versprechen, selbst in sich Widersprüchliches und schier Unmögliches – für seine Fans kein Problem. «Um eine derart radikale Unwahrheit zu akzeptieren, bedarf es einer eklatanten Ausschaltung der Vernunft.» Und das führt zur vierten Variante der sterbenden Wahrheit, nämlich ein «unangebrachter Glaube». «Dazu gehören all die selbstvergötternden Behauptungen des Präsidenten, wenn er davon spricht, er alleine könne etwas lösen oder ‘ich bin eure Stimme’. Wenn der Glaube auf diese Weise vom Himmel auf die Erde herabsteigt, bleibt kein Platz für die kleinen Wahrheiten unserer individuellen Wahrnehmung und Erfahrung.»

Immer toxischer und radikaler

Damit schliesst sich der Kreis: Trump ist es gelungen, Millionen von Menschen zu seinen bedingungslosen Anhängern zu machen, die mit rationalen Argumenten nicht mehr erreicht werden können, und die gar nicht mehr in der Lage sind, einen auch nur halbwegs kritischen Blick auf ihr schier überirdisches Idol zu werfen. Diese Nibelungentreue kann Folgen haben. Schliesslich haben 71 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner am 3. November 2020 Donald Trump gewählt. «Ein grosser Teil dieser Leute ist nun davon überzeugt – auch wenn es nicht stimmt –, dass man ihnen die Wahl gestohlen hat. Und das wird diese Leute einen. Sie werden toxischer, radikaler, faschistischer», sagte Yanis Varoufakis, griechischer Ökonom und 2015 für kurze Zeit Finanzminister in der linken griechischen Regierung von Alexis Tsipras, in einem Interview mit der Republik. Oder in den Worten von Timothy Snyder im Boston Globe: Trumps «Dolchstosslegende könnte zu einem permanenten Bestandteil amerikanischer Politik werden.» Damit wäre dann auch der Boden bereitet für eine erneute Kandidatur von Donald Trump oder seinem Sohn Donald Jr. in vier Jahren.


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7 Meinungen

  • am 22.11.2020 um 12:56 Uhr
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    Ich halte Trump nicht für volksverbunden oder auf dessen Wohl orientiert. Das ist Show für das Wahlvolk. Allerdings macht er nicht ansatzweise alles falsch.
    Wenn man sich schon an Trump abarbeiten will (*gähn*), dann wäre vielleicht tatsächlich relevant, daß Trump lediglich Entwicklungen vorausnimmt, die global zu beobachten sein werden.
    Ich denke da an die Repatriierung von Investitionen gepaart mit Protektionismus, der nicht per sé schlecht ist.
    Wir Mitteleuropäer leben vom Export, denn Bodenschätze haben wir nicht. Unsere wichtigste Einnahmequelle wird also wegbrechen. Was dann hier los ist, können wir uns noch gar nicht vorstellen. Dankenswerter Weise haben grün-bunte Naivlinge das Rückgrat unseres Wirtschaftens (Industrie und Energieerzeugung) fast komplett zerschlagen.
    Gute Nacht. Darüber sollte ein mit Geist gesegneter Autor besorgt sein. Das hier ist einfach nur furchtbar.

  • am 22.11.2020 um 13:15 Uhr
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    Ein hervorragender beitrag!
    Danke Jürg Müller-Muralt .
    lothar höfler, lindau/d

  • am 22.11.2020 um 14:42 Uhr
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    Tut mir Leid liebe Redaktion. Dieser Artikel gehört vielleicht in die NZZ. Infosperber scheint die Seite gewechselt zu haben.

  • am 22.11.2020 um 15:36 Uhr
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    Die Nibelungensage (Lied) endet mit dem Tod der (führenden) Nibelungen. Der starke Hagen wollte auch das Reich der Nibelungen wieder gross machen. Der Mord am ‹fremden› Siegfried beschwor die Rache von Kriemhild.
    Zukünftige Historiker werden wohl zu dem Schluss kommen, dass der Trumpismus der Anfang vom Ende der Supermacht USA war, wenn nicht sogar der sinngemässen Demokratie.

  • am 22.11.2020 um 20:05 Uhr
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    Wenn Snyder den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Kommunismus in einem Atemzug als totalitär bezeichnet, disqualifiziert er sich in jeder Hinsicht selbst. So eine Aussage macht jeden Historiker, jeden Journalisten unglaubwürdig.

  • am 23.11.2020 um 12:11 Uhr
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    @Paul Jud: Sehr geehrter Herr Jud, bei der Kategorisierung von Faschismus, NS und Kommunismus als totalitär liegt Herr Snyder nun mal richtig.
    Wenn Sie (wie ich) die «Diktatur des Proletariats» miterlebt hätten, würden Sie sicher mit mehr Abstand und Gelassenheit auf die Tatsache blicken, daß Machtausübung in menschlichen Gesellschaften mit Allmachtsanspruch (z.B. auch Kommunismus) immer gleich funktionieren MUSS, da die Menschen, ihre Gesellschaften, ihre Produktionsweise /-technologie, ihre Bildung – also alle wichtigen Faktoren grob gesagt identisch sind.
    Da ist die Farbe des politischen System vollständig egal. Die Behauptung der kommunistischen Bonzen-Diktatur, sie sei für das Lumpenproletariat da, hielt die Kommunisten nicht davon ab, mit fast 200 völlig unschuldigen Opfern die schlimmsten Schlächter der Menschheitsgeschichte zu sein.
    Der Spruch der SED «die Partei hat immer Recht» war ernst gemeint. Wer das in Frage stellte, hatte definitiv größere bis katastrophale Probleme.
    Es ist also das Gegenteil Ihrer Aussage … schlicht die Realität.

  • am 1.12.2020 um 16:09 Uhr
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    Die großen Auseinandersetzungen der zwanziger, dreißiger Jahre haben zu unterschiedlichen Reaktionen geführt.

    Feld-, Wald- und Wiesenantifaschisten wie Klemperer oder Snyder versetz(t)en sich in die Überzeugung, sie hätten die Wahrheit gepachtet und die Gegenseite müsse lügen. Das hat Klemperer in die Kommunistische Partei geführt – nun, Snyder hat sich ja plakativ gegen die historischen Kommunisten ausgesprochen; seine Variante von Intransigenz und Fanatismus wird also wohl einen neuen Namen wählen müssen.

    Genuine Liberale wie Karl Popper kamen hingegen zu der Einsicht, dass unser Wissen immer ein Gewebe von Vermutungen ist, dass beide Seiten sich irren können, dass der Irrtum aber keine Sünde ist und man im geduldigen Gespäch dem Ideal der Wahrheit zumindest näher kommen kann.

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