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Timothy Snyder warnt: die Demokratie muss auch in Kleinigkeiten hochgehalten werden! © TS

«Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam»

Jürg Müller-Muralt /  Wenn die Demokratie unter Druck gerät, ist Zivilcourage gefragt. Das Buch eines amerikanischen Historikers zeigt, wie das geht.

Demokratische Institutionen, Gewaltenteilung, Pressefreiheit: Sie gehören zu den ersten Opfern von Autokraten und Diktatoren. Anschauungsunterricht bieten derzeit verschiedene Länder, an vorderster Front die Türkei; aber auch die EU-Staaten Ungarn und Polen stehen auf der Kippe. Und doch ist unser Vertrauen in die Widerstandskraft von Institutionen immer noch erstaunlich gross. Man glaubt in westlichen Demokratien oft etwas allzu vertrauensselig, es werde schon nichts schiefgehen. Manchmal ist dieser Glaube selbst dann noch da, wenn es im Grunde schon zu spät ist. Es gibt historische Beispiele dafür.

Verhängnisvoller Glaube

Diesen verhängnisvollen Glauben haben viele beispielsweise auch nach Hitlers Machtantritt Ende Januar 1933 noch nicht aufgeben wollen. Eine führende Zeitschrift für die deutschen Juden («Der Israelit. Centralorgan für das orthodoxe Judentum») hat in einem Leitartikel vom 2. Februar 1933 geschrieben: «Zwar sind wir keineswegs der Meinung, dass Herr Hitler und seine Freunde, einmal in den Besitz der lange erstrebten Macht gelangt, nun etwa (…) kurzer Hand die deutschen Juden ihrer verfassungsmässigen Rechte entkleiden, sie in ein Rassen-Ghetto sperren oder den Raub- und Mord-Instinkten des Pöbels preisgeben werden. Das können sie nicht nur nicht, weil ihre Macht ja durch eine ganze Reihe anderer Machtfaktoren vom Reichspräsidenten bis zu den Nachbarparteien, beschränkt ist, sondern sie wollen es sicherlich auch gar nicht; denn die ganze Atmosphäre auf der Höhe einer europäischen Weltmacht, die ja mitten im Konzert der Kulturvölker stehn und bleiben will, (…) ist der ethischen Besinnung auf das bessere Selbst günstiger als die bisherige Oppositionsstellung.»

«Grundrechte sofort verteidigen»

Man liest das heute mit Beklemmung. Man sollte aber mittlerweile wissen, dass auch Machthaber, die im Rahmen demokratischer Institutionen ans Ruder gelangen, nicht automatisch Garanten dieser Institutionen sind. Deshalb müssen demokratische Parteien, die Zivilgesellschaft und die einzelnen Bürgerinnen und Bürger immer ein wachsames Auge auf die Unversehrtheit der Institutionen werfen. Man muss «die Unverletzlichkeit der Grundrechte sofort verteidigen», sollten sie auch nur ansatzweise in Gefahr geraten. Das hat Fritz Stern, der vor Jahresfrist verstorbene amerikanische Historiker deutscher Herkunft, schon 1999 geschrieben. In seinem Buch «Das feine Schweigen» heisst es: «Märtyrertum kann nicht erwartet oder verlangt werden, wohl aber vorbeugende Zivilcourage, die erlernt oder erprobt werden muss.» Denn: «Die Passivität, das Schweigen der Anständigen waren für den Erfolg des Nationalsozialismus mindestens ebenso wichtig wie das Brüllen der Begeisterten.»

Demokratieschutz in 20 Lektionen

Es ist nicht bekannt, ob Timothy Snyder diese Mahnung seines Historikerkollegen Fritz Stern im Ohr hatte, als er sein Buch «Über Tyrannei: Zwanzig Lektionen für den Widerstand» schrieb (Angaben zum Buch unten). Aber die «vorbeugende Zivilcourage, die erlernt oder erprobt werden muss», steht wie ein ungeschriebenes Motto über Snyders Buch. Denn eine seiner zwanzig Lektionen lautet: «Verteidige Institutionen». Institutionen, so schreibt Snyder, «helfen uns, den Anstand zu wahren. Sie brauchen aber auch unsere Hilfe. (…) Institutionen schützen sich nicht selbst. Sie stürzen eine nach der anderen, wenn nicht jede von ihnen von Anfang an verteidigt wird.»

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder, Professor für Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung an der Yale University, hat ein ungewöhnliches Buch geschrieben – ungewöhnlich in der Form, aber auch eine für einen Historiker ungewöhnliche scharfe politische Intervention. Entstanden ist das Buch nach der Wahl Donald Trumps, dessen Namen er allerdings nie erwähnt. Es ist ein Weckruf, verpackt in 20 konkrete Handlungsanweisungen (Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam; Verteidige Institutionen; Setze ein Zeichen; Frage nach und überprüfe; Achte auf gefährliche Wörter, etc.), gefolgt jeweils von einer kurzen Erläuterung und längeren historischen Rückblenden.

Beispiele aus der Zeit der Totalitarismen

Nun ist es Snyder auch klar, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Aber er ist überzeugt, dass man aus ihr lernen kann, eine Überzeugung, die nicht alle Historiker in dieser offensiven Art teilen, wie sie der Autor in seiner Schrift vertritt. Um seine 20 Lektionen zu untermauern, greift Snyder auf Beispiele aus der Zeit der Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts zurück (Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus). Dort findet er genügend Anschauungsmaterial, um zu zeigen, wie Gesellschaften zerfallen, Demokratien untergehen, moralische Werte zusammenbrechen und «ganz gewöhnliche Menschen plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Es wäre für uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war.»

Wie Minimalstandards unterspült werden

Ist das nicht etwas gar alarmistisch? Snyders Vergleiche sind phasenweise in der Tat happig. Doch er behauptet nicht, wir stünden unmittelbar vor der politischen Apokalypse. Er vergleicht lediglich Strukturmerkmale, zeigt auf, wie demokratische Minimalstandards mehr oder weniger subtil unterspült werden. So verweist er beispielsweise auf den eigenartigen Umstand, dass «ein Präsident, obwohl schon im Amt, eine persönliche Sicherheitstruppe behalten will, die während seines Wahlkampfs Gewalt gegen Andersdenkende ausübte. Als Kandidat bediente sich der Präsident eines privaten Sicherheitsdienstes, um Protestierer aus Wahlveranstaltungen zu entfernen, doch er ermunterte auch das Publikum selbst, Menschen, die anderer Meinung waren, hinauszuwerfen.» Es ist naheliegend, darauf hinzuweisen, dass das nicht viel mit einer Wahlveranstaltung in einer Demokratie zu tun hat. Auch die Nazi-Sturmabteilung (SA) begann als Ordnungsdienst, der bei Hitlers Wahlkampfveranstaltungen die Säle von Gegnern räumte.

«Denk an deine Berufsehre»

Snyder appelliert auch an die Verantwortung verschiedener Berufe. Es sei schwer, einen Rechtsstaat ohne Anwälte aus den Angeln zu heben oder Schauprozesse ohne Richter durchzuführen. «Denk an deine Berufsehre», lautet deshalb einer seiner Appelle. Die Erosion der Demokratie zeigt sich allerdings nicht nur in dramatischen Haupt- und Staatsaktionen. Zu den subtilen Methoden gehört der Einsatz der Sprache, etwa die Verwendung herabwürdigender Adjektive zur Verunglimpfung des politischen Gegners. Trump bezeichnete Hillary Clinton im Wahlkampf immer wieder als «Crooked Hillary» (betrügerische Hillary), womit es ihm gelang, die demokratische Kandidatin ihrer Individualität zu berauben und in ein negatives Stereotyp zu verwandeln. Das setzt sich in vielen Köpfen fest.

Die freiwillige Unterwerfung

Snyders Buch ist im Grunde ein sehr heftig geratenes «Wehret den Anfängen» mit einigen praktischen Handlungsanweisungen. Es ist eine nützliche Erinnerung daran, an was man sich halten sollte, um autoritären Bedrohungen zu begegnen. «Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam», lautet die erste Lektion. Denn Snyder weiss aus historischer Erfahrung, dass der Autoritarismus einen Grossteil seiner Macht aus freien Stücken erhält. Viele Menschen passen sich gerne an, heulen mit den Wölfen, wollen ihre Ruhe und keine Scherereien. «Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, lehrt die Macht, wie weit sie gehen kann.»

Der Autor ruft nicht zu Heldentaten auf, sondern lediglich zur Erhaltung der demokratischen Normalität. In einer funktionierenden Demokratie braucht es bloss Wachsamkeit. Aber auch fast Banales wie etwa Höflichkeit im Alltag, sich nicht in eine Kultur des Ressentiments und der Denunziation zwängen zu lassen. Wenn alle Stricke reissen, dann, so lautet die letzte Lektion, «sei so mutig wie möglich». Es ist das einzige Kapitel, das nur aus einem Satz besteht: «Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle in der Tyrannei umkommen.» Das tönt zwar melodramatisch, ist aber vor dem Hintergrund der 19 vorhergehenden Lektionen nur konsequent. Denn wer an einigen wenigen demokratischen Grundsätzen auch in gefährlichen Zeiten festhält, braucht plötzlich sehr rasch sehr viel Mut. Nicht weil er oder sie ein Desperado oder eine Revolutionärin ist, sondern aus beruflichem Pflichtgefühl. Zum Beispiel als Journalistin oder Journalist in der Türkei, in Russland oder anderswo auf der Welt.

Die Konservativen in der Schlüsselrolle

Snyders Appell ist richtig und wichtig. Man darf jedoch ob der Verantwortung jedes Einzelnen nicht die Verantwortung der Parteien vergessen, insbesondere der etablierten konservativen Eliten. Trump ist nicht von einer Volksbewegung nach Washington gespült worden, sondern weil er von der Republikanischen Partei gestützt wurde, wenn auch mit leichtem Murren. 90 Prozent der republikanischen Anhänger wählten Trump. Geert Wilders hat zwar jüngst in den Niederlanden weniger gut abgeschnitten als erwartet. Dies aber vor allem deshalb, weil der gemässigt rechte Ministerpräsident Mark Rutte sich die populistische Rhetorik Wilders zu eigen machte.

Selbst wenn die Populisten verlieren, «könnten sie letztlich dadurch gewinnen, dass die Konservativen einfach ihre Ideen kopieren», schreibt der Populismusforscher Jan-Werner Müller, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton, in einem Gastkommentar der NZZ. «Das Schicksal der Demokratie hängt nicht nur von rebellischen Aussenseitern ab, sondern von den Entscheidungen der etablierten Parteien. Diejenigen, die mit den Populisten gemeinsame Sache machen – oder ihre Ideen kopieren – müssen zur Rechenschaft gezogen werden.» Obschon die heutige Situation nicht mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu vergleichen sei, macht Müller darauf aufmerksam, dass in der Zwischenkriegszeit, «als die Konservativen mit autoritären und faschistischen Parteien gemeinsame Sache machten, die Demokratie unterging.»

Nochmals: Geschichte wiederholt sich nicht, aber ihr Studium erlaubt uns, Muster zu erkennen. Wir haben uns fatalerweise an das Gefühl gewöhnt, Geschichte könne sich nur in eine Richtung bewegen, in die Richtung liberaler Demokratie und offener Gesellschaften. «Damit schwächten wir unsere Abwehrkräfte, schränkten unsere Fantasie ein und ebneten genau den Regimen den Weg, die, wie wir uns einredeten, niemals zurückkehren würden», schreibt Timothy Snyder im Epilog zu seinem Buch. Und weil sich die ganze politische Kultur stetig nach rechts bewegt, sieht Snyder die Gefahr, dass sich die «mangelhafte Form von demokratischer Republik zu einer konfusen und zynischen Form von faschistischer Oligarchie» entwickeln könnte.

Der Twitterer im Weissen Haus führt uns täglich vor Augen: Die USA haben auf der obersten Ebene das Stadium des Konfusen und Zynischen bereits erreicht.

Timothy Snyder: «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand». Verlag C. H. Beck, München 2017, 127 Seiten, CHF 15.90

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4 Meinungen

  • am 1.07.2017 um 21:19 Uhr
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    Wenn man von Populismus spricht, muss ich mir als erstes über den Begriff im klaren werden.

    siehe u.a. Wikipedia
    "Dem Begriff Populismus (von lateinisch populus ‚Volk‘) werden von den Sozialwissenschaften mehrere Phänomene zugeordnet. Einerseits handelt es sich um ein unspezifisches Schlagwort, teils auch um einen spezifischen Politikstil, eine Form der politischen Rhetorik bzw. Strategie zum Machterwerb; andererseits wird Populismus in der Forschung auch als Teil verschiedener Ideologien eingestuft."

    Dann muss ich mir der Frage stellen wer die Populisten sind.
    In Deutschland bezeichnen sich, die großen etablierten Parteien als «Volksparteien».
    Bereits Hitler machte sich die Wirkung des Begriffs Volk zu nutzen.
    Es gab den «Volksempfänger».
    Wehrmachtsangehöriger die gefallen sind, sind gefallen für «Führer, Volk und Vaterland».

    Die Naziregierung machte sich die Erkenntnisse Edward Bernays zu nutze.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Bernays

    "Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.“"

  • am 1.07.2017 um 21:20 Uhr
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    weiterhin erkannte Bernays

    "„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist. Große Menschenzahlen müssen auf diese Weise kooperieren, wenn sie in einer ausgeglichen funktionierenden Gesellschaft zusammenleben sollen. In beinahe jeder Handlung unseres Lebens, ob in der Sphäre der Politik oder bei Geschäften, in unserem sozialen Verhalten und unserem ethischen Denken werden wir durch eine relativ geringe Zahl an Personen dominiert, welche die mentalen Prozesse und Verhaltensmuster der Massen verstehen. Sie sind es, die die Fäden ziehen, welche das öffentliche Denken kontrollieren.“"

  • am 1.07.2017 um 21:24 Uhr
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    Der Übergang von einer Demokratie ( dem Volk gewidmet ) zur Plutokratie ( dem Geld gewidmet ) verlief schleichend.
    Die Idee des neoliberalen Systems und damit die Beseitung der Demokratie, wurde Jahrzehnte unter Verschluß gehalten, bis man an die Öffentlichkeit trat.

    Die Manipulation der Massen ist vielfältig und nicht so einfach zu durchschauen.

    Die Manipulation erklärt in hervorragender Weise der Professor für Psychologie Reiner Mausfeld zum Beispiel im Gespräch mit Ken Markus.

    https://www.youtube.com/watch?v=OwRNpeWj5Cs

  • am 7.07.2017 um 17:18 Uhr
    Permalink

    Es wird ein Buch beschrieben das zur Wachsamkeit aufruft und gleichzeitig Trump schlecht gemacht und unterschwellig als Tyrann bezeichnet.Trump ist genau die Person,die dem Establishment zuwider ist deshalb wird alles und jedes kritisiert und bis nach Europa Papageiartig rezitiert.Sogar schon vor den Wahlen wurde Trump öffentlich im Fernsehen in seiner Person als Kandidat denuziert und völlig unbegründet und auf einem Level unter der Gürtellinie in den Dreck gezogen.In Amerkia verstehe ich das aber warum deutsche Medien nicht objektiv und vor Allem unparteiisch eine Persönlichkeit beschreiben können,Parteiprogramm und Ziele erläutern etc ist mir ein Rätsel.
    Was haben alle immer gegen Trump?
    Warum ist er immer der schwarze Peter und nicht die Trumpfkarte (um beim Kartenspiel zu bleiben) .
    Warum kann nicht unparteiisch über ein Präsident berichtet werden und seine Möglichkeiten,Stärken und Schwächen in korrekten Journalistischen Regeln erläutert werden?
    Ich zweifle an Ihrer Unabhängigkeit als freies Medium in der Art wie hier berichtet wird.
    Danke

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