Russian tricolor flag waving in the wind against a blue sky. Russian flag on blue cloudy sky background

Weht die russische Flagge bald in Warschau, in Vilnius oder sogar in Berlin und Bern? © borjami88/Depositphotos

Die Russen können nicht einmal den ganzen Donbas einnehmen

Urs P. Gasche /  Nach diesem Krieg ist Russland am Boden. Putin hat weder ein Interesse daran noch die Möglichkeit, einen Nato-Staat anzugreifen.

upg. Militärs und Politiker hämmern der Bevölkerung fast täglich ein, wie bedrohlich die Lage sei. Ein imperialistischer Putin bedrohe auch Nato-Staaten. Deshalb müsse Europa massiv aufrüsten.
Infosperber möchte eine andere Einschätzung zur Diskussion stellen. – Nach einer Einordnung des russischen Imperialismus, der Rolle der Nato-Osterweiterung und eines Angstszenarios jetzt zur Frage, wie real die Bedrohungslage ist.


Weder Polen noch das Baltikum sind bedroht

Mit dem ständigen Wiederholen erscheint die Bedrohungslage als real. Russland habe schon immer imperialistische Absichten gehabt. Diese Einschätzung freut die Rüstungskonzerne, deren Aktienkurse in die Höhe schnellen. 

Doch viele namhafte Stimmen sprechen Russland sowohl die Absicht als auch die Fähigkeit ab, in absehbarer Zukunft einen baltischen Staat oder Polen anzugreifen und zu besetzen.

Jakub Janovsky, dessen Militärplattform Oryx die Verluste im Ukraine-Krieg akribisch dokumentiert, erklärte am 16. November 2024 in der NZZ: «Unsere Daten zeigen klar auf, wie veraltet die Ausrüstung insbesondere auf der russischen Seite ist. Sie könnte teilweise direkt aus dem Museum stammen. Weit über die Hälfte des Materials, das Russland in der Ukraine verliert, stammt noch aus sowjetischen Zeiten.» Zur verbreiteten Angst, Russland werde in einen der baltischen Staaten einmarschieren, erklärte Stephen Wertheim von der Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace: «Russland war nicht in der Lage, die Ukraine zu erobern. Wieso sollte der Kreml dann einen Nato-Staat überrennen wollen?» («NZZ» 9.11.2024)

Bereits ein halbes Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatte «NZZ»-Chefredaktor Erich Gujer festgestellt, die russische Armee entpuppe sich als «Scheinriese». In einem konventionellen Schlagabtausch sei Russland «keine Bedrohung für die Nato»

NZZ Putin hat verloren
«NZZ»-Titelseite vom 27. August 2022

Westliche Beobachter seien davon ausgegangen, dass die Armee nach postsowjetischem Zerfall umfassend modernisiert worden sei: «Welch ein Irrtum.» Es fehle «an vielem, was den zeitgenössischen High-Tech-Krieg ausmacht», darunter «Präzisionswaffen, multisensorische Aufklärung und genaue Zielerfassung». Die meisten Panzerfahrzeuge würden «auf Entwicklungen aus den siebziger Jahren» basieren und seien «gegen Projektile der ukrainischen Infanterie unzureichend geschützt». Flugzeuge der fünften Generation – wie der amerikanische F-35 – hätten in Russland «die Serienproduktion noch nicht erreicht».

Die Nato verfügt über doppelt so viele aktive Soldaten wie Russland und gibt – kaufkraftbereinigt – fast fünfzig Prozent mehr Geld fürs Militär aus als Russland.


Russland kann nicht einmal den ganzen Donbas unter seine Kontrolle bringen

Fast vier lange Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine konnte das russische Militär nicht einmal den ganzen Donbas unter seine Kontrolle bringen. Der Krieg hat einen grossen Teil der russischen Armee zerstört. Sie verlor weit über tausend Kampfjets und Panzer sowie einen grossen Teil ihrer besten Soldaten. 

Die Kriegswirtschaft ist für Russland ruinös. Nato-Generalsekretär Mark Rutte sprach bereits im Oktober 2024 von 600’000 Toten und Verletzten, während Kiew die Zahl im November 2024 auf über 716’000 schätzte. Das hinterlässt in der russischen Gesellschaft tiefe Wunden. Unterdessen dürften eine Million russischer Soldaten umgekommen oder schwer verletzt sein.

Die Russland-Spezialisten Thomas Lattanzio und Harry Stevens schrieben am 5. August 2024 in einem «NZZ»-Gastkommentar: «Insgesamt zeigen die verfügbaren Zahlen die enorme Belastung, die der Krieg in der Ukraine für Russland bedeuten wird, wenn die Waffen ruhen. Die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen, das Versorgen körperlich verwundeter Soldaten und die Unterstützung ihrer Familien werden in den kommenden Jahrzehnten einen wichtigen Haushaltsposten darstellen und könnten zu einer politischen Schwachstelle für den Kreml werden, wenn er die Erwartungen der Veteranen und ihrer Familien nicht zu befriedigen vermag.»

Der ungarische Politikwissenschaftler Janos I. Szirtes bestätigte am 12. August 2025 die Einschätzung der «NZZ» vom Vorjahr: 

«Militärisch kommen die Russen in der Ukraine trotz Vorteilen und Übergewichten nicht erwartungsgemäss voran. Die Ideologie und Propaganda von der bärenstarken, unbesiegbaren russischen Armee ist widerlegt. Putin vermag seit über drei Jahren die nach allen Kriterien kleinere Ukraine nicht zu bezwingen. Wie soll er es dann mit dem Nordatlantikpakt aufnehmen, der 32 Länder umfasst? 
Die unablässigen Sorgen und Bedenken, Europa sei auf einen möglichen russischen Angriff nicht vorbereitet und deshalb unterlegen, gehen an den wirtschaftlichen und militärischen Wirklichkeiten vorbei. Das EU-BIP ist 2024 achtmal so gross wie jenes von Russland. Die Länder der EU geben doppelt so viel für die Verteidigung aus wie Russland. […] Die mobilisierbaren Kräfte sind dreieinhalb Mal so gross wie jene Russlands. Mit Ausnahme von Atomwaffen hat die EU gegenwärtig ein Übergewicht an Militärgerät: zweifach bei den Flugzeugen, dreifach bei Panzern. […] Für einen erfolgreichen konventionellen Angriff wird geschätzt, dass der Angreifer mindestens ein dreifaches Übergewicht haben muss, über das Russland nicht verfügt. Ein militärischer Überfall auf die Nato wäre für Russland schon jetzt Selbstmord.»

Fest steht: Nach diesem Krieg wird es viele Jahre dauern, bis die russische Armee und die massiv sanktionierte russische Wirtschaft auch nur das Level erreichen können wie vor dem Krieg. Und dann wäre Russland noch längst nicht in der Lage, die Nato anzugreifen.

Auch die behauptete Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung hat ihre Grenzen. Um einen konventionellen Krieg zu führen, braucht es nicht nur militärische Kampfkraft, sondern auch eine genügend starke Wirtschaft und die Unterstützung der Bevölkerung. 

Selbst mit allen Propaganda-Tricks würden es der Putin-Clan, Patriarch Kyrill und die Staatsmedien nicht schaffen, den Russinnen und Russen weiszumachen, dass auch Polen, die baltischen Staaten oder Finnland zur russischen Identität gehören.

Der britische Historiker Richard Evans, der eine Trilogie über das «Dritte Reich» publizierte, zieht Bilanz: «Ich glaube nicht, dass Putin plant, Europa anzugreifen. Bisher hat er nicht einmal die Ukraine erobert. Er ist ja nicht komplett wahnsinnig und sich bewusst, dass ein Angriff auf die Nato sehr schlecht für ihn wäre.» («NZZ am Sonntag», 19.10.2025)


Kein Interesse, ein Nato-Land zu besetzen

Fazit: Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Polen, Finnen und Balten aus historischer Erfahrung vor Russland Angst haben – wie Russland Angst vor Deutschland hat. Aber die Fakten sprechen dagegen, dass Russland für diese heutigen Nato-Staaten eine Gefahr darstellt. Russland ist auf lange Zeit geschwächt und hat weder die Fähigkeit noch ein Interesse, einen Staat gegen den Widerstand der ganzen Bevölkerung militärisch zu besetzen. 

Auf der Krim und im Donbas waren die Voraussetzungen anders: Dort wollte sich die Mehrheit der Bevölkerung lieber der Russischen Föderation anschliessen, als ohne Autonomie-Rechte bei der Ukraine zu bleiben. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...