Kommentar

Die Herausforderung des Islam (4): Der Umbruch

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Die Unterstützung von Volksbewegungen schafft neue Voraussetzungen für die Beziehungen – die vielleicht komplizierter werden.

Spielte die Religion, spielte der Islam auch eine Rolle im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern? Gewiss. Erstens beriefen sich die Palästinenser (und da trafen sie sich mit der Überzeugung aller islamischer Araber in der gesamten nah- und mittelöstlichen Welt) darauf, dass Jerusalem die drittheiligste Stätte der Muslime sei – und zweitens profilierte sich die palästinensische Hamas-Partei als Kraft, die religiöse Werte in den Mittelpunkt ihres Programms stellte und im Gazastreifen – den Hamas beherrschte – islamische Gesetze durchsetzte. Längst nicht so rigoros wie die Taliban in Afghanistan allerdings, aber doch auf eine Weise, welche fortschrittlich eingestellte Frauen und Männer als Zwang oder zumindest als Nötigung empfanden. Noch konnten sich Frauen in der Stadt Gaza zwar ohne Kopftuch in die Öffentlichkeit wagen, aber dafür braucht es viel Mut und Selbstbewusstsein. Die überwiegende Mehrheit der Frauen verhüllt die Haare, auch wenn eine weitergehende Verschleierung nicht üblich ist und nicht erwartet wird.

Diagnose des Problems

Zurück zum eigentlichen Thema, der Frage nämlich, weshalb in Westeuropa der Islam immer mehr als Pro-blem erkannt wurde:
1. wurden Muslime und Musliminnen, wurde der Islam allgemein, in fast allen Ländern Europas immer sichtbarer. Prozentual wuchs ihr Bevölkerungsanteil an – nicht dramatisch, aber doch konsequent. Das hing von Land zu Land von unterschiedlichen Faktoren ab. So, wie die Gründe für die Zuwanderung aus muslimischen Ländern verschiedenartig waren. Frankreich trug die Konsequenzen aus der Kolonisierung des Maghreb und dem Algerien-Krieg; Grossbritannien musste eine Grosszahl von Muslimen aus der Region des Indischen Subkontinents als Folge der Commonwealth-Regeln und, ebenfalls, der früheren Kolonialherrschaft akzeptieren; Deutschland holte, freiwillig, in den 60er und 70er Jahren zehntausende türkische Arbeiter ins Land, weil die Deutschen selbst nicht mehr gewillt waren, die Müllabfuhr und die einfachen Arbeiten in der Industrie und den Spitä-lern zu leisten; die Schweiz «importierte» in den siebziger Jahren tausende Kosovo-Albaner, weil diese als tüchtige Facharbeiter ein Renommée hatten – nicht damit rechnend, dass eines Tages deren Familienangehörige nachziehen wollten. Damals nämlich, als im Balkan, vor allem im Kosovo, die Kriege der 90er Jahre entbrannten und hunderttausende Menschen flüchten wollten. Wohin? In erster Linie dort hin, wo schon Angehörige der Familie waren, also u.a. in die Schweiz. Sie nahmen die ländlichen und die religiösen Traditionen mit, mit dem Resultat, dass die Schweiz (ein Land mit knapp 7,8 Millionen Einwohnern) im Jahr 2010 etwa 400 000 Muslime zählte, die meisten von ihnen aus dem Balkan stammend. In den skandinavischen Ländern und den Niederlanden stieg die Zahl von Muslimen aufgrund einer viele Jahre praktizierten liberalen Einwanderungspolitik, die, u.a., beinhaltete, dass Menschen aus Konfliktregionen in Nahost und Mittelost relativ leicht Aufenthaltsbewilligungen erhielten. Italien und Spanien anderseits waren / sind aus geografischen Gründen exponiert: die illegale Zuwanderung aus Nordafrika trifft zunächst einmal vorwiegend diese beiden Länder.
2. konstituierten sich in praktisch allen westlichen Ländern, neben den Institutionen der gemässigten Muslime (welche im Durchschnitt zwischen 95 und 99 Prozent repräsentierten) einige streng religiöse Gemeinschaften – der islamische Zentralrat in Deutschland oder sein Pendant in der Schweiz zum Beispiel. Ging von ihnen eine Gefahr für die Allgemeinheit aus? Sicher nicht. Aber offen blieb die Frage, ob die führenden Persönlichkeiten in solchen Institutionen nicht intern Diskriminierung auslösten, vor allem gegen Frauen.
3. Kleine Zellen von gewaltbereiten Islamisten wurden immer wieder entdeckt. Es gab wohl einige Deutsche, die sich in Afghanistan für Terrorakte ausbilden liessen. Die Zahl dieser Extremisten war äusserst gering – nur fanden Berichte über solche Einzelfälle regelmässig den Weg in die Medien und beeinflussten so die Meinung der Öffentlichkeit.

Aus Missverständnissen entsteht Misstrauen

Das Fazit: In Westeuropa breitete sich generell Miss-trauen gegen den Islam aus. Dabei wurden verschiedene Ebenen miteinander vermischt:
– Islam ist nicht gleichzusetzen mit Islamismus und mit Gewaltbereitschaft;
– Was in den Konfliktländern in Nah- und Mittelost geschieht, steht nicht im Zusammenhang mit der Präsenz von Muslimen in Europa;
– Wo verläuft die Trennlinie zwischen Widerstandsrecht und Terror? Die Palästinenser in den besetzten Gebieten beriefen sich bei Gewalt gegen die israelische Besatzungsmacht auf ein Recht zum Widerstand – Israel aber bezeichnete jeglichen Widerstand als Terror, und die US-Regierung schloss sich der israelischen Interpretation an;
– Die steigende Zahl von Muslimen in Europa ist nicht zurückzuführen auf eine «Strategie» innerhalb des Islams, Europa zu bekehren, sondern hat historisch unterschiedliche Gründe;
– Rechtspopulistische Parteien in verschiedenen europäischen Ländern simplifizieren die Komplexität des Themas zu ihren Gunsten.
Als Anfang 2011 die Volksaufstände gegen die Regime in Tunesien, Ägypten, Jemen, Bahrain, Syrien und Libyen ausbrachen, mussten sich die westlichen Regierungen erneut – und klarer als zuvor – mit der Frage auseinandersetzen: kann man von aussen demokrati-schen Bewegungen innerhalb der islamischen Welt gegen Autokraten helfen? Wo liegt die Grenze zwischen Engagement zugunsten der Menschenrechte und Einmi-schung in die inneren Angelegenheiten?

Engagement oder Einmischung

Bei der Umsetzung der UNO-Resolution Nummer 1973 – zur Intervention in Libyen – wurde das Dilemma be-sonders deutlich. Eine vorwiegend westliche Staaten-gruppe, ergänzt durch einige arabische Regierungen, überschritt Ende März die Grenze zwischen Schutz der Zivilbevölkerung und Positionsbezug zugunsten einer inner-libyschen Gruppierung, der Opposition gegen Ghaddafi. Wird das längerfristig konstruktiv bleiben – oder gibt es im Rückblick Kritik an westlichen Regierungen, sie mischten sich in innere Angelegenheiten eines arabischen, eines vom Islam stark geprägten Landes ein? Oder wird man rückblickend dankbar zur Kenntnis nehmen, dass der Westen sich mit den Volksmassen eines islamischen Landes solidarisiert und den Sturz eines Diktators ermöglicht hat?

Alle vier Tele dieser Serie sind abrufbar im Suchfeld mit dem Stichwort «Gysling»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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