Protest gegen aggressive Politik in Los Angeles

Protest in Los Angeles gegen die aggressive Politik Präsident Putins. © hannatv/Depositphotos

Die Erzählung vom russischen Imperialismus

Urs P. Gasche /  Russland will in den benachbarten Ländern Ukraine und Georgien keine Nato. Putin will und kann aber keinen Nato-Staat erobern.

Red. Militärs, Politiker und manche Medien hämmern der Bevölkerung fast täglich ein, wie bedrohlich die Lage sei. Russland wolle nicht nur die Krim behalten und die Donbas-Republiken Donezk und Luhansk militärisch vollständig einnehmen. Vielmehr bedrohe ein imperialistischer Putin auch benachbarte Nato-Staaten. Deshalb müsse Europa massiv aufrüsten – auch die Schweiz. Infosperber stellt eine andere Einschätzung zur Diskussion. 


Die Erzählung des «russischen Imperialismus», mit der man das enorme Aufrüsten Europas rechtfertigt, wird nur selten hinterfragt. Als Tamedia-Zeitungen am 13. November 2025 die als Rüstungslobbyistin bekannte deutsche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann interviewten, waren die Fragen reine Bettvorleger: 

«Welche Angriffe Russlands halten Sie für möglich?».
Antwort Strack-Zimmermann: 

«Man braucht Putin nur zuzuhören, um zu wissen, was er vorhat: Um das grosse russische Reich wiederherzustellen, gehören seiner Ansicht nach die Ukraine, Belarus, Moldau und Georgien dazu – aber ebenso die baltischen EU-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen. Diese Länder sind schwerst bedroht.» 

Nachfrage Tamedia: «Welche Szenarien halten Sie für realistisch?»
Antwort Strack-Zimmermann:

«Putin könnte beispielsweise versuchen, die lettische Hauptstadt Riga einzunehmen. Und dann erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen, sollten wir versuchen, Riga zurückzuholen.»

Um für das Aufrüsten zu trommeln, hätte es die Rüstungslobby nicht besser formulieren können. 

Was ist Imperialismus?

Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert, als europäische Länder ihre Herrschaft mit Kolonien in andere Kontinente ausdehnten. Andere Länder und Völker werden militärisch und wirtschaftlich kontrolliert und abhängig gemacht. Meistens geht es um Rohstoffe und Märkte. Im Kalten Krieg strebten die USA und die Sowjetunion nach globalem Einfluss. Heute streiten sich insbesondere die USA und China darum. 
Der Begriff wird auch polemisch benutzt, um das gegnerische Lager zu diskreditieren.


Als «Beweis» für den russischen Imperialismus und für die grosse Bedrohung Westeuropas dienen die russischen Interventionen auf der Krim und im Donbas. 

Diese «Beweise» für Russlands Imperialismus würden sich in Luft auflösen, falls Putin mit seinem Krieg verhindern wollte, 

  • dass sich die Nato in der Ukraine festsetzt;
  • dass eine aufgerüstete Ukraine den von Russland kontrollierten Teil des Donbas und allenfalls sogar die Krim militärisch einnehmen kann. 

Die «Beweise» einer drohenden Gefahr klammern auch das reale Kräfteverhältnis zwischen Russland und der heutigen Nato geflissentlich aus.

Vielmehr pflückt man Zitate aus der russischen Kriegspropaganda einseitig heraus, um als Tatsache darzustellen, dass Putin die Absicht hege, die Gebiete der früheren Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle zu bringen. 

Ähnlich könnten Zitate US-Präsident Trumps und von dessen Entourage als «Beweis» dienen, dass er Grönland, Kanada, Panama und Venezuela militärisch angreifen wolle. 


Medien stimmen in den Chor der Angstmacher ein

Die schlecht begründete Angstmacherei der Nato, der Rüstungslobby und der angehängten Think-Tanks schlägt ein. Tamedia-Auslandredaktor Christof Münger verbreitete im Juli: «Europa hat keine andere Wahl als aufzurüsten.» Nur «Schlafwandler» würden dies nicht einsehen. Denn die «imperialistischen Fantasien des Kremlführers sind gut dokumentiert». Als Beleg diente Münger ein Zitat von Christian Dussey, Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes: «Russland will seinen Status als imperiale Grossmacht zurückerlangen.»

Münger konfrontierte Dussey nicht mit der Frage, weshalb ein imperialistischer Putin nicht schon längst Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan oder Turkmenistan erobert hat. Dort hätte er eine freiere Hand gehabt als in Nato-Staaten.

Auch fragte er nicht, warum Putin nach dem Staatsstreich von 2014 mit einem Einmarsch in die Ukraine zuwartete, bis die Ukraine im Jahr 2022 massiv aufgerüstet war.

Das ständige Wiederholen der imperialistischen Gefahr erhöht die Angst. Die Bevölkerung soll bereit sein und akzeptieren, dass ihre Regierungen und Parlamente Milliarden für die Rüstung ausgeben statt für das Sichern unserer Lebensgrundlagen.

Einige Beispiele aus der «NZZ» und Tamedia-Zeitungen:

«Siegt Putin in der Ukraine, sind die baltischen Staaten, Polen und die Republik Moldau als Nächstes bedroht», warnte Redaktor Markus Bernath am 3. März 2024 in der «NZZ am Sonntag». Was er mit einem «Sieg in der Ukraine» meint, blieb offen.

Am 8. Juni 2024 wiederholte «NZZ»-Auslandredaktor Andreas Rüesch: Der «gewalttätige Imperialismus» und die «genozidalen Absichten» Putins würden «an der Grenze der Ukraine nicht haltmachen». Seine Propagandisten würden bereits diskutieren, «wer als Nächstes die Gnade der russischen Peitsche spüren soll – Polen, Litauen, Finnen, Moldauer, Kasachen». Mit dem «Virus des russischen Imperialismus» gebe es «nichts zu verhandeln».

«NZZ»-Redaktor Georg Häsler verbreitete am 27. November 2024 als gesicherte Tatsache: «Längerfristig verfolgt Russland die Absicht, Deutschland aus der Nato herauszulösen.» 

Markus Mäder, Chef der Schweizer Sicherheitspolitik, konnte am 8. Juni 2025 in der «Sonntags-Zeitung» verbreiten: «Putins Absicht und sein Potenzial führen zum Schluss, dass es gegen Ende dieses Jahrzehnts sehr gefährlich werden könnte.» Die «Sonntags-Zeitung» fragte ihn nicht nach Quellen und Argumenten für diese Behauptung.

Das Mantra des russischen Imperialismus setzte «NZZ»-Bundeshausredaktorin Andrea Fopp am 2. September 2025 fort: «Putins Unterwerfungssehnsüchte enden nicht an der territorialen Grenze der Ukraine, Polens oder Litauens.»


Die Sicherheitszone Russlands verletzt

Eine diametral entgegengesetzte Analyse vertritt der linke US-Journalist Chris Hedges: «Die Nato ist das gefährlichste Militärbündnis der Welt». Es sei nachvollziehbar, dass Russland seine Sicherheit von der Einkreisung der Nato gefährdet sehe.

Nato und Ukraine
Blau = Nato-Mitglieder am 1.1.2025. Rot = Ukraine (ohne Krim). Gelb = Russland.

Herfried Münkler, langjähriger Professor für Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, pflichtete Hedges bei: 

«Man kann feststellen, dass die Russen so etwas wie Einkreisungsängste haben. Solche Ängste haben bei der Entstehung von Kriegen schon immer eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Mittel dagegen sind Pufferzonen. Sie dienen einer gewissen Stabilität und schaffen Flexibilität bei Verhandlungen zwischen Grossmächten.»

An diese und ähnliche Stimmen erinnern Politiker und grosse Medien nur selten. Es gab sie schon lange:

George F. Kennan, US-Diplomat mit Stationen in Moskau, Riga, Tallinn und Berlin und nachher Geschichtsprofessor an der Princeton University, warnte bereits 1997 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn in die Nato aufgenommen wurden:

«Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizt. […] Die Russen sind wenig beeindruckt von den amerikanischen Versicherungen, eine Erweiterung der Nato finde ohne feindselige Absichten statt. Die Russen würden ihr Prestige (das in der russischen Meinung immer an erster Stelle steht) und ihre Sicherheitsinteressen als beeinträchtigt ansehen.»

Im Jahr 2008, als die Nato der Ukraine und Georgien eine Mitgliedschaft grundsätzlich in Aussicht stellte, warnte aus Moskau US-Botschafter William Burns seine Aussenministerin Condolezza Rice im vertraulichen Memo «Nyet means Nyet: Russia’s Nato Enlargement Redlines»: Die gesamte politische Klasse Russlands, nicht nur Putin, lehne eine Nato-Erweiterung strikt ab. Dieses Memo wurde nur bekannt, weil es Julian Assange geleakt hatte.

Peter Beinart, Associate Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City University of New York, erklärte Anfang 2022: Nur wenn die USA auch die Einflusssphäre Russlands respektierten, sei garantiert, «dass der russische Einfluss die Ukraine nicht zerstört und Europa nicht in einen Krieg hineingezogen wird». Denn Einflusssphären von Grossmächten seien «rund um den Globus eine Realität» (siehe Infosperber vom 28.1.2022). 

Unterdessen ist es geschehen: Russland zerstört die Ukraine, und Europa beteiligt sich an dem Krieg.


Nato-Generalsekretär: «Es war Putins Bedingung»

Der frühere Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg räumte im September 2023 in einer Rede vor EU-Ausschüssen ein, dass das unnachgiebige Drängen der USA, die Nato auf die Ukraine zu erweitern, die eigentliche Ursache des Krieges sei – und der Grund dafür, dass dieser Krieg bis heute andauert. 

Die aufschlussreichen Aussagen Stoltenbergs

«Präsident Putin erklärte im Herbst 2021, die Nato solle versprechen, sich nicht mehr zu erweitern. Er schickte dazu einen Vertragsentwurf. Es war seine Bedingung, um in die Ukraine nicht einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.
Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Bündnisstaaten entfernen, die der NATO seit 1997 beigetreten sind. Die Hälfte der NATO, also ganz Mittel- und Osteuropa, sollten militärisch eine Art B-Mitgliedschaft zweiter Klasse erhalten. Das haben wir abgelehnt. Also zog er in den Krieg, um die NATO an seinen Grenzen zu verhindern. Doch er hat genau das Gegenteil erreicht.»

Rede Stoltenberg
Ausschnitt aus der Rede von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.


Präsident Donald Trump erklärte am 7. Januar 2025 in Mar-a-Lago: 

«Wissen Sie, ein grosser Teil des Problems war, dass Russland über viele, viele Jahre hinweg – lange vor Putin – sagte, dass die Nato niemals in die Ukraine involviert sein dürfe. Das war quasi in Stein gemeisselt. Und irgendwann meinte Biden: Nein, sie sollten der Nato beitreten können. Dann hat eben Russland jemanden direkt vor der Haustür. Ich konnte ihre Gefühle darüber verstehen. […] Das hätte niemals passieren dürfen.» 

Henry Kissinger, langjähriger US-Aussenminister, hatte schon lange vor einer verhängnisvollen Politik des Westens gewarnt. Um die Sicherheitsinteressen Russlands zu respektieren, schlug Kissinger am 5. März 2014, wenige Tage vor der völkerrechtswidrigen Sezession der Krim, in der Washington Post vor (wörtliche Übersetzung):

«Die Ukraine sollte nicht der Nato beitreten, eine Position, die ich 2007 vertrat, als dieses Thema das letzte Mal zur Sprache kam. […] Es sollte der Ukraine freistehen, eine Regierung zu bilden, die mit dem ausdrücklichen Willen ihres Volkes vereinbar ist. Auf internationaler Ebene sollten sie eine Haltung einnehmen, die mit der Finnlands vergleichbar ist. Dieses Land lässt keinen Zweifel an seiner starken Unabhängigkeit aufkommen und arbeitet in den meisten Bereichen mit dem Westen zusammen, vermeidet aber sorgfältig eine institutionelle Feindschaft gegenüber Russland.»

Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder formulierte es im Oktober 2023 wie folgt:

«Mir ist klar, dass Russland sich bedroht fühlt. Schauen Sie: Die Türkei ist Nato-Mitglied. Es gibt Raketen, die direkt Moskau erreichen können. Die USA wollten die Nato an die russische Westgrenze bringen, mit der Ukraine als Neumitglied etwa. All das fühlte sich für die Russen als Bedrohung an […] Egal, wer in Russland an der Macht ist, dort existiert die Überzeugung, dass der Westen sich mit der Nato weiter ausbreiten will, und zwar in den postsowjetischen Raum. Stichwort: Georgien und Ukraine. 
Das wird niemand, der an der Spitze Russlands steht, zulassen. Diese Gefahrenanalyse mag emotional sein, aber sie ist in Russland real. […] Trotzdem erachte ich Russlands Krieg als einen Fehler.» 

Ohne die Ausdehnung der Nato an die Grenzen Russlands wäre es wahrscheinlich nicht zum völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine gekommen. Der fürchterliche Krieg hätte nicht stattgefunden.

Bisher:

Die Machtpoliitk der Sowjetunion und der USA

Demnächst:

«Russland muss eine eindeutige Niederlage erleiden.»


Für Putins Krieg gegen die Ukraine gibt es keine Entschuldigung

upg. Es kann durchaus sein, dass es ohne Osterweiterung der Nato und ohne Absicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen zu keinem Krieg gekommen wäre. Doch auch wenn sich Russland von der Nato eingeschnürt fühlte, war Russland existenziell nicht bedroht. Angegriffen wurde Russland schon gar nicht. Deshalb gibt es nichts, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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