China USA Supermächte

Wird China zu einer Supermacht wie die USA? Der chinesische Professor Li Daokui glaubt es nicht. © Cooper Academy

China als Weltmacht: Kissinger hatte recht

Prof. Li Daokui /  Wirtschaftlich holt das Land mit 1,4 Milliarden Menschen in grossem Tempo auf. Doch für eine Weltherrschaft fehlen Voraussetzungen.

upg. Li Daokui ist Wirtschaftsprofessor an der Tsinghua-Universität in Beijing. Beim Weltwirtschaftsforum Davos ist er Mitglied des «Global Agenda Council». In Kürze erscheint sein neuestes Buch «China’s World View: Demystifying China to Prevent Global Conflict».

Li Daokui
Professor Li Daokui am Weltwirtschaftsforum


An einem kalten Wintertag des Jahres 1972 fragte ein Lehrer in einem kleinen chinesischen Dorf seine Klasse: «US-Präsident Nixon und sein Berater Dr. Kissinger werden nach China kommen. Was sollen wir tun?»

Damals war ich acht Jahre alt und ein ziemlich guter Schüler. Kurz zuvor hatte ich meine Hausaufgaben erledigt und fünfzigmal in chinesischen Schriftzeichen den allgegenwärtigen politischen Slogan abgeschrieben: «Nieder mit den amerikanischen Imperialisten! Nieder mit den sowjetischen Revisionisten! Lang lebe der grosse Vorsitzende Mao!»

Deshalb platzte ich sofort mit der Antwort heraus: «Nixon und Kissinger müssen verhaftet werden, denn sie sind unsere Feinde.»

Einige Jahre später merkte ich, wie falsch ich damit gelegen hatte. Die von Henry Kissinger gestartete amerikanische Initiative war ein wichtiger Beitrag für die Jahrzehnte des komplexen politischen Wandels in China. Sie gipfelten in einer Ära der Reform und Öffnung, die schliesslich 800 Millionen Menschen aus der Armut befreite und einer noch grösseren Zahl die Augen und den Geist öffnete.

Doktortitel an der gleichen Universität wie Kissinger

All das hat mein Leben sowie dasjenige von Millionen anderen jungen Studenten stark beeinflusst. Fünf Jahre nach Kissingers Besuch öffnete China wieder die Hochschulen, nachdem sie faktisch ein Jahrzehnt lang geschlossen waren. Durch harte Arbeit und viel Glück war ich in der Lage, ein College zu besuchen. Später ging ich in die USA, wo ich meinen Doktortitel an derselben Universität wie Henry Kissinger erwarb. Welch magische Verwandlung für einen Schuljungen, der gerade eben noch Parteipropaganda abgeschrieben hatte! Welche Lektion habe ich an jenem Tag gelernt? Lass dich nicht von politischen Parolen täuschen.

Keine andere politische oder intellektuelle Persönlichkeit hatte in der jüngeren Geschichte einen so bedeutenden positiven Einfluss auf eine fremde Nation wie Henry Kissinger. Während sein Tod im Alter von 100 Jahren am 29. November die Amerikaner polarisiert hat, waren die Reaktionen auf chinesischen Internetseiten, wo üblicherweise ein rauer Ton herrscht, überwältigend warmherzig. Dankbare Texte von Privatpersonen zu seinem Gedenken gingen viral. 

Die Debatte über sein Vermächtnis tobt weiter, aber eines ist meiner Ansicht nach unbestreitbar: Kissinger hatte recht, was China angeht.

Gehört das 21. Jahrhundert China?

Vierzig Jahre nachdem ich Kissingers Verhaftung gefordert hatte, stand ich nervös neben ihm auf einer Bühne vor 2700 Zuhörern. Wir waren in Toronto bei der Munk Debate [halbjährlich stattfindende öffentliche Debatte über weltpolitische Fragen, initiiert von dem Geschäftsmann und Philanthropen Peter Munk], zusammen mit Niall Ferguson und Fareed Zakaria. Das Thema der Diskussion lautete: «Wird das 21. Jahrhundert China gehören?» 

Kissinger übernahm die Kontra-Seite der Debatte, und ich vertrat die Pro-Seite. Ich wünschte, ich wäre auf seiner Seite gewesen. Nicht nur, weil ich mich immer noch schuldig fühlte wegen meiner alten Forderung, ihn in ein chinesisches Gefängnis zu werfen, sondern auch, weil ich mit der These, die ich vertreten sollte, nicht einverstanden war. Ich habe nie geglaubt, dass die Welt irgendwann einmal China gehören würde.

Wir haben die Debatte verloren, zur Enttäuschung meines Teamgefährten Niall Ferguson, aber zu meiner heimlichen Zufriedenheit. Kissingers souveräne Beherrschung der Thematik kombiniert mit Zakarias eloquenter Präsentation gaben ihrem Team einen entscheidenden Vorteil. Die meisten Zuhörer waren nach der Debatte überzeugt, dass das 21. Jahrhundert wohl eher nicht China gehören würde.

Zeit seines Lebens studierte Kissinger die Weltgeschichte und -politik, und dies prägte seine Sicht auf China. Er hatte ein tiefes Verständnis für das Zusammenspiel der Grossmächte, und er konnte sich vollkommen in Chinas Weltsicht hineinversetzen. Hinter alldem stand eine unerschütterliche Loyalität zu den Interessen Amerikas. 

Drei wichtige Lehren aus der Sichtweise Kissingers

Erstens ist China keine grosse Bedrohung für die USA. Offensichtlich hat China einfach nicht die globalen Ambitionen, die institutionellen Kapazitäten, die historische Tradition und den ideologischen Ansatz, um sich wie die USA zu verhalten oder deren Position einnehmen zu wollen. 

Auch Chinas geografische Lage trägt dazu bei. Während der Debatte in Toronto sagte Kissinger: «Werfen Sie einen Blick auf die Landkarte. China grenzt an vierzehn andere Staaten. Wie viele davon kann es zu seinen treuen Freunden rechnen? Wie viel Energie bleibt China noch für die Beschäftigung mit globalen Angelegenheiten, neben der Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn? Im Gegensatz dazu haben die USA nur zwei Nachbarn.»

Zweitens kann niemand China von aussen verändern. Seine Grösse und Geschichte machen dies unmöglich. Man kann mit China zusammenarbeiten und seinen Politikern helfen, innenpolitische Veränderungen einzuleiten, aber man kann es nie von aussen ändern. Wie Kissinger immer wieder darlegte, auch in seinem Buch «China: Tradition und Herausforderung», haben die komplexen politischen Institutionen in China eine jahrtausendealte Geschichte, die bis heute andauert. 

Es ist unmöglich und kontraproduktiv, China zu Veränderungen drängen zu wollen, solange der Wunsch nach Veränderungen nicht von innen kommt. Tatsächlich hatte Mao Tse-Tung schon in den 1960er-Jahren über eine Zusammenarbeit mit den USA nachgedacht, um den wachsenden Machtansprüchen der Sowjetunion besser widerstehen zu können. Ohne diese Einsicht Maos hätte Kissinger seine historische Reise nach China 1971 nie antreten können.

Drittens müssen die USA China als einen gleichrangigen Partner behandeln, um sich den globalen Herausforderungen stellen zu können. Es geht um die Kontrolle von Atomwaffen, den Klimawandel, den Umgang mit Künstlicher Intelligenz und mit einer nachhaltigen Entwicklung. 

Dieser Punkt ist heute wichtiger denn je: China ist gegenwärtig der weltweit grösste Produzent von Solarzellen und Windturbinen, besetzt eine Führungsposition in der KI-Forschung und ist die einzige Nation, die ihre eigene bemannte Raumstation betreibt.

China ist an keinem militärischen Konflikt beteiligt und bildet keine Ausländer zu Kommunisten aus

In den letzten Jahren sind viele US-Politiker von Kissingers Sichtweise abgerückt, insbesondere von dem erstgenannten Punkt. Als Folge davon wurde die US-Aussenpolitik zunehmend restriktiv gegenüber China. Dies ist sehr bedauerlich. 

Ja, in der Tat ist China mächtiger geworden und hat international an Einfluss gewonnen. Aber Peking ist an keinem einzigen militärischen Konflikt beteiligt. Meines Wissens hat China an der Hochschule der Kommunistischen Partei keine ausländischen Eliten ausgebildet. China plant auch nicht, dies zu tun. Es ist, gelinde gesagt, für die USA eine grosse Verschwendung politischer Energie, China weiterhin als wachsende Bedrohung zu behandeln. 

Kissinger war ein Flüchtling aus Nazi-Deutschland, und seine Loyalität zu den USA stand immer ausser Frage. Seine Strategien dienten den amerikanischen Interessen: Die USA haben den Kalten Krieg gewonnen und konnten die Friedensdividende mit mehreren Jahren des Wirtschaftswachstums geniessen. Natürlich erlebte auch China einen rasanten Aufschwung, aber nur weil es China gut geht, müssen ja die USA nichts verlieren. Man sollte für die heutigen innenpolitischen Probleme der USA nicht Kissingers Chinapolitik verantwortlich machen. Man sollte einfach versuchen, die Probleme zu lösen.

Die Betrachtung der Vergangenheit hilft einem, die Gegenwart zu verstehen, sagte Konfuzius. Amerikanische Politiker könnten viel lernen, wenn sie Kissingers Ansichten über China jetzt nach seinem Tod noch einmal nachlesen würden.

Kissinger hatte recht, was China betrifft, und er wird recht behalten.

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Dieser Artikel erschien als Gastbeitrag in der «New York Times». Übersetzung von Klaus Mendler für Infosperber mit Genehmigung des Autors.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Flagge_China

Chinas Aussenpolitik

Sicherung von Rohstoffen und Energie auf der halben Erde; Territoriale Konflikte im südchinesischen Meer; Taiwan

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3 Meinungen

  • am 18.12.2023 um 10:55 Uhr
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    Die VR China nimmt wieder den Platz ein, den das historische China für viele Jahrhunderte innehatte: mächtig, reich, sich selbst genug, voller neuer Ideen. Die Schwäche Chinas vom Anfang des 19. Jhdt. bis 1945 ist nichts als eine Fußnote in der jahrtausendealten Geschichte dieses Großreiches. Die USA, die den Kalten Krieg nicht gewonnen haben, sondern einfach übriggeblieben sind, werden zu dem zurückgestutzt, was sie vor 1945 waren, das ist mit vielen Phantomschmerzen verbunden ist. Russland hat sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR, einem der schlimmsten Desaster des 20. Jhdts., die letzten 20 Jahre mühevoll stabilisiert und steckt seine Einflusszonen neu ab; auch hier gibt es eine Großmachtnostalgie. Entscheidend ist, dass realistische und friedliebende Politiker in allen drei Ländern ihre Machtbereiche jeweils vernünftig abstecken und erkennen dass gewaltsame Änderungen unmöglich geworden sind.

  • am 18.12.2023 um 14:27 Uhr
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    China wird genauso in eine Sackgasse hineinlaufen, wie es der Westen tat. Zur Erinnerung: Unser und der chinesische Wohlstand basiert auf (ungezügeltem) Konsum – je mehr, desto besser. Leider braucht man zum Konsumieren aber Geld und Einkommen. Das hatte der Westen bisher reichlich, also konsumierte er China an die Spitze. Nun wird der Westen weitaus weniger konsumieren können, weil er unproduktiv und überschuldet ist, also muss der Konsum innerhalb Chinas angekurbelt werden. Das geht aber nur mit Zugang zu günstigen Ressourcen – also mittels Ausbeutung. Einige werden sich bereichern, andere verarmen – dasselbe Spiel wie im Westen die letzten 200 Jahre. Auch die Chinesen werden noch merken, dass die Regeln des Kapitalismus halt eben doch dem des Monopoly ähneln und für alle gelten.

  • am 18.12.2023 um 19:11 Uhr
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    Lieber Herr Prof. Li Daokui,
    das ist wirklich großartig, dass Sie hier über China informieren und dabei Henry Kissinger zitieren. Ich bin auch überzeugt davon, dass China militärisch immer absolut defensiv bleiben wird. Atomwaffen dienen ja nur der Abschreckung, damit sie nicht eingesetzt werden und auch sonst alles friedlich bleibt.
    Uwe Mannke

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