Kommentar

Sonderfall Wallis: Einheit durch Spaltung

Kurt Marti © Christian Schnur

Kurt Marti /  Die CVP hat die absolute Mehrheit verloren und die SVP peilt den ersten Regierungssitz an. Der Sonderfall Wallis lebt.

Im Pfynwald ragt seit 1899 unwidersprochen ein zehn Meter hoher Obelisk in den blauen Walliser Himmel und lästert frech gegen die Errungenschaften der Aufklärung, gegen Freiheit und Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Ein vierkantiger, steinerner Phallus, errichtet von katholisch-konservativen Patriziern und Klerikern aus dem Oberwallis. Zum Gedenken an die schmachvolle Niederlage, welche die Oberwalliser im Jahr 1799 gegen die Truppen der Unterwalliser und Franzosen erlitten und welche die 300-jährige Herrschaft des Oberwallis über das Unterwallis endgültig beendete.

Das Fundament des Mehrheitssytems

Der Obelisk ist das perfekte Wahrzeichen für den Sonderfall Wallis. Er steht für die innere Zerrissenheit des Kantons und gleichzeitig für die erzwungene Einheit unter dem Diktat der CVP. Über 150 Jahre lang befruchteten sich die kantonale Einheit und die CVP gegenseitig und schufen damit das Fundament für das unheilvolle Walliser Mehrheitssystem. Zur Stärkung der inneren Einheit liessen sich bei Bedarf die äusseren Feinde aktivieren: Anfänglich richteten sich die gemeinsamen Kräfte im Sonderbundskrieg gegen die Gründung der Eidgenossenschaft und die liberalen, kirchenkritischen und aufklärerischen Strömungen, heute gegen all jene Regelungen aus Bern, welche dem Wallis nicht in den Kram passen: Den Wolf, die Raumplanung, die Restwassermengen, die Zweitwohnungsinitiative. Je brüchiger die kantonale Einheit, desto wilder und ungestümer der katharsische Protest gegen die Einmischungen der Eidgenossenschaft.

Mit wenig Eifer und eingezogenen Segeln

Der Schlüssel zum Verständnis des Walliser Sonderfalls liegt in seiner Geschichte. In der Schlacht auf der Planta bei Sitten (1475) jagten die Oberwalliser mithilfe der Eidgenossen die Savoyer aus dem Unterwallis hinaus und unterjochten das Unterwallis. Erst 1798/99 wurde das Unterwallis durch den Einmarsch der Franzosen befreit. Nach der Revolution schwelte der Konflikt zwischen den beiden Kantonsteilen weiter. In den 1840er-Jahren tobte ein blutiger Bürgerkrieg. Doch die drohende Gründung des schweizerischen Bundesstaates vereinigte die Katholisch-Konservativen beider Kantonsteile. In einem feurigen Rundschreiben rief Bischof Pierre-Joseph de Preux die Bevölkerung zum Sonderbundskrieg gegen die reformierten Kantone auf. Der heilige Krieg ging verloren. Der Kanton Wallis kapitulierte als letzter Sonderbundskanton am 29. November 1847.

Mit der Gründung der Eidgenossenschaft 1848 übernahmen im Wallis die Liberalen und Radikalen die Macht. Doch bereits 1857 war die politische Mehrheit wieder fest im Griff der Katholisch-Konservativen. Das Feindbild der liberalen Schweiz einigte fortan das Ober- und das Unterwallis. Unter dem Druck der katholischen Kirche lehnte das Wallis die Bundesverfassung mehrmals haushoch ab. Alles was aus Bern kam, befolgte man mit wenig Eifer und eingezogenen Segeln.

Das Ende des Mehrheitssystem der CVP

Das Mehrheitsregime der CVP überdauerte 156 Jahre und endete am vergangenen Wochenende. «Tyrannei der Mehrheit» hat der liberale Staatsphilosoph Alexis de Tocqueville solche Systeme genannt, die bekanntlich sehr anfällig für Vetternwirtschaft und Misswirtschaft sind, weil eine wirksame, gegenseitige Kritik und Kontrolle fehlt. Kein Wunder, wenn heute 71 Prozent der Walliser Uni-Absolventen nicht ins Wallis zurückkehren und dafür die Vetternwirtschaft und Kirchturmpolitik sowie die mangelnde Transparenz und Offenheit auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich machen.

Das Mehrheitssystem hat sich tief in die Walliser Volksseele hineingefressen und es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Abstimmung zum Raumplanungsgesetz mitgeholfen hat, dass die CVP am letzten Wochenende die absolute Mehrheit im Kantonsparlament verloren hat. Ein Raumplanungsgesetz, auf das man die grosse Mehrheit der Walliser Bevölkerung problemlos gegen Bern einschwören konnte. Wenn da nicht die leidige Zustimmung der CVP Schweiz gewesen wäre, welche Wasser auf die Mühlen der SVP Wallis leitete, deren Spitzenkandidat Oskar Freysinger alle drei amtierenden CVP-Staatsräte überflügelte.

Der C-Hydra wächst ein SVP-Kopf

Was das Wallis jetzt am nötigsten hätte, ist eine wirksame Opposition verbunden mit einer kritischen Öffentlichkeit. Die Briten nennen es «checks and balances». Doch ausgerechnet hier ist von der SVP wenig zu erwarten. Freysinger glänzte im Wahlkampf mit Anzug und Kravatte, weit weniger mit Dossierkenntnis und Kritik. Die Walliser Geschichte wiederholt sich: Bereits Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich die CSP von der CVP abgespalten. Mit diesem Schachzug konnte die C-Familie ihre absolute Mehrheit über die Jahrtausendwende retten.

Jetzt wächst der C-Hydra noch ein SVP-Kopf. Das heisst konkret: Mehr Provokationen gegen die «Ausserschweiz», mehr Ausländerfeindlichkeit, mehr katholisch-konservative Werte, mehr Kruzifixe in den Schulzimmern, mehr rechts-konservative Richter und Beamten. Freysinger hat genau registriert, dass die Walliser Bevölkerung in den letzten fünfzehn Jahren nach rechts gerutscht ist. Am nächsten Wochenende wird höchstwahrscheinlich die SVP erstmals in die Walliser Regierung einziehen und sich zu den drei CVP-Staatsräten gesellen. Damit werden vier von fünf Sitzen in konservativer Hand sein. Und wenn sich der FDP-Kandidat gegen die bisherige SP-Staatsrätin durchsetzt, wird der Staatsrat wieder rein bürgerlich. Der Sonderfall Wallis lebt.

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Dieser Beitrag ist in leicht veränderter Fassung in der SonntagsZeitung erschienen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Redaktor der Roten Anneliese 2000 – 2010 und Autor des Buches «Tal des Schweigens»

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