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Viel Schweiz und viel Ticino: Ignazio Cassis in Sessa zwei Tage vor Amtsantritt © cm

Jetzt ein «Bundesrat mit Migrationshintergrund»

Christian Müller /  Sind Schweizer mit Migrationshintergrund weniger gute Schweizer? Bemerkungen zum neuen Consigliere federale con passato migratorio.

Am 15. September 1787, also vor 230 Jahren, wurde die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika verabschiedet, zwei Jahre später in Kraft gesetzt. Schon im zweiten Artikel steht dort geschrieben, dass der zu wählende Präsident seit seiner Geburt amerikanischer Staatsbürger sein muss. Die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt und erhält man noch immer durch die Geburt auf amerikanischem Boden oder durch spätere Einbürgerung. Man erinnert sich: Obamas politische Gegner versuchten nachzuweisen, dass Obama bei seiner Geburt das US-amerikanische Staatsbürgerrecht nicht hatte. Vergeblich.

In der Verfassung der Schweiz von 1848, also rund 60 Jahre später, steht nichts Vergleichbares, schon weil gemäss dieser Verfassung die Schweiz kein Präsidialsystem hat. Die Bundesräte müssen natürlich das schweizerische Bürgerrecht haben, um gewählt werden zu können, aber mehr ist da, vernünftigerweise, nicht geregelt. Umgekehrt vergibt die Schweiz das Bürgerrecht aber auch nicht automatisch an die im Land Geborenen, im Unterschied nicht nur zu den USA, auch zu England oder Frankreich und vielen anderen Staaten.

Jetzt hat die Schweiz tatsächlich einen Bundesrat, der bei seiner Geburt zwar in der Schweiz – in Sessa im Tessin – lebte, aber italienischer Staatsbürger war und sich später einbürgern liess. Dass er sich mit 15 Jahren einbürgern liess, seine Eltern diesen Schritt aber nicht machen wollten, lässt vermuten, dass es dem jungen Mann vor allem darum ging, den einjährigen Militärdienst in Italien nicht absolvieren zu müssen.

Eine doppelte Staatsbürgerschaft war damals, im Jahr 1976, nach italienischem Gesetz nicht möglich. Sie wurde aber 1992 möglich, worauf Ignazio Cassis schweizerisch-italienischer Doppelbürger wurde. Im Hinblick auf die Wahl in den Bundesrat allerdings gab Cassis seine italienische Staatsbürgerschaft formell wieder zurück. Ignazio Cassis› Informationsverhalten in dieser Geschichte war, das darf wohl festgehalten werden, nicht wirklich souverän. Man darf davon ausgehen, dass er seine italienische Staatsbürgerschaft formell abgelegt hat, um auch von der Schweizerischen Volkspartei SVP die Unterstützung bei der Wahl zum Bundesrat zu erhalten. So wie Cassis ja auch noch wenige Tage vor seiner Wahl der Schützen-Lobby-Organisation proTELL beigetreten ist, um nach der Wahl bei auftretender Kritik gleich wieder seinen Austritt bekanntzugeben. Der Kommentar dazu von Anna Wanner in der «az Nordwestschweiz», die wenige Tage zuvor Ignazio Cassis noch ausdrücklich zur Wahl empfohlen hatte, dürfte zutreffen: «Unschöner Opportunismus: ( ) An Standhaftigkeit ist das kaum zu unterbieten. Bleibt zu hoffen, dass er seine Eitelkeit bald abstreifen kann. ( ) Wenn es heiss wird, kann er nicht jedes Mal gleich umkippen.»

Eine verpasste Chance

Statt seinen «Migrationshintergrund», wie die SVP das bei Verkehrssündern und erst recht bei Gewalttätigen und Kriminellen immer erwähnt haben will, herunterzuspielen, wäre es sympathischer gewesen, Ignazio Cassis hätte die Politik über die Geschichte seiner Region aufgeklärt. Bis zum Ersten Weltkrieg hat es die Grenzen zwischen der Schweiz und Italien hier im Malcantone zwar bereits auf dem Papier, aber nicht unbedingt in den Köpfen und schon gar nicht in den Herzen gegeben. Daran erinnern nicht zuletzt die hier ansässigen Familiennamen Ballinari, Passera, Gandini, Barozzi, Dellea, Spaini und andere, die es sowohl in den italienischen (angrenzenden) Gemeinden Dumenza, Agra und Luino gibt wie auch auf der Schweizer Seite in Sessa, Monteggio oder Astano. Man liebte einander und heiratete und lebte zusammen in der Region, man war hier daheim und hatte hier die Heimat – nicht getrennt durch Grenzen des Staates. Genau in diesem Staatsbürgerschaft-unabhängigen Leben lebte auch die Familie Cassis, damals in Sessa in der Schweiz, vorher in Longhirolo, einer zwei Kilometer entfernten Località von Luino.

Warum darf man dies nicht sagen und erklären? Wäre das ein Nachteil für unseren neuen Bundesrat mit Migrationshintergrund gewesen? Am 29. Oktober, zwei Tage vor Amtsantritt des neuen Bundesrates, wurde er auch in Sessa mit vielen Fahnen, mit Musik und Reden empfangen und gefeiert (siehe dazu das Bild oben). Wäre es da eine Sünde gewesen, man hätte nicht nur die Sindaci, die Gemeindepräsidenten, des schweizerischen Malcantone (Caslano, Astano, Novaggio, u.a.), sondern auch die Sindaci von Dumenza, Agra und Luino, den unmittelbaren Nachbargemeinden auf der italienischen Seite der Grenze, eingeladen? Schliesslich gibt es auch jetzt einen «kleinen Grenzverkehr»: Die Schweizer gehen gerne in Dumenza einkaufen, da sind Fleisch (in bester Qualität!) und Käse (sogar der Emmentaler, die Subventionen lassen grüssen) deutlich billiger, die Italiener ihrerseits kommen in Monteggio tanken, da Benzin und Diesel trotz des hohen Frankenkurses hier immer noch preisgünstiger sind, und viele von ihnen kommen natürlich in die Schweiz zur täglichen Arbeit. Und Guido Oehen, der Sohn des um die 1970er und -80er Jahre herum schweizweit aktiven und bekannten Politikers Valentin Oehen, bewirtschaftet landwirtschaftlichen Boden nicht nur in Sessa, wo sein bio-zertifizierter Bauernhof auf Schweizer Boden steht, sondern auch in Dumenza und Luino auf der italienischen Seite der Grenze. Die Bio-Eier, die man bei ihm aus dem frei zugänglichen Kühlschrank holen kann, zahlt man unbewacht in ein bereitstehendes offenes Kässeli, in Franken oder auch in Euros. Das ist die Realität des täglichen Lebens in dieser Region – eines sympathischen menschlichen Zusammenlebens mit, vor allem aber auch über die Grenzen.

Die politische Absicht hinter Ignazio Cassis› Wahl

Die Abkehr von Italien des nun zu höchsten politischen Ehren gelangten Tessiner Politikers Ignazio Cassis kann nur bedauert werden, aber sie hat eben ihre konkreten Gründe. Der ehemalige Nationalrat und FDP-Parteipräsident Fulvio Pelli, der alles eingefädelt hat, wollte mit dem «Simpatico» Ignazio Cassis vor allem Laura Sadis verhindern, die als Frau und erfahrene Exekutiv-Politikerin zwar besser ins gegenwärtige und baldige Bundesratsteam gepasst hätte, aber weniger rechts zu politisieren versprach. Es musste ein Rechtsfreisinniger her – man denke etwa an künftige Reformen der Unternehmenssteuern! Und da musste man eben die SVP im Boot haben, die sich zwar «Volkspartei» nennt, aber in der konkreten Politik in Bern regelmässig der Arbeitgeberseite und den Interessen der Habenden den Vorrang gibt. SVP-Präsident Albert Rösti in der «Schweiz am Wochenende» vom 28. Oktober: «Ich erwarte, dass mit Ignazio Cassis wesentliche Entscheide in der Regierung bürgerlicher ausfallen.» Was hier «bürgerlicher» bedeutet, weiss man: Es muss mehr Geld nach oben!

In den deutschsprachigen Printmedien der Schweiz wurde in den letzten zwölf Monaten (gemäss Medienarchiv smd) 1260 mal die Formulierung «mit Migrationshintergrund» gebraucht. Mal sehen, ob nach der Wahl eines «Consigliere federale con passato migratorio» – eines «Bundesrates mit Migrationshintergrund» – die verbale Vorverurteilung neuer Schweizer Bürger endlich wieder etwas zurückhaltender gehandhabt wird.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor ist Schweizer Bürger mit Migrationshintergrund. (Die Vorfahren mütterlicherseits waren französische Hugenotten und flüchteten im 17. Jahrhundert in die Schweiz.)

Zum Infosperber-Dossier:

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Parteien und Politiker

Parteien und Politiker drängen in die Öffentlichkeit. Aber sie tun nicht immer, was sie sagen und versprechen.

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2 Meinungen

  • am 3.11.2017 um 15:17 Uhr
    Permalink

    Danke Christian Müller, für den sehr informativen, ausgewogenen Beitrag, der es wert wäre in einer Tessiner Zeitung zu erscheinen. Erstens weil er die hintergründigen politischen Mauscheleien aufdeckt, und zweitens weil im Tessin abertausende glückliche Mischehen und –familien leben und arbeiten, die also mit dem nun so trendigen Ausdruck „Migrationshintergrund“ zu bezeichnen wären. Ein Ausdruck der nun zum Schimpfwort gemacht wird.

  • am 4.11.2017 um 12:40 Uhr
    Permalink

    Sehr guter Artikel, denn er zeigt deutlich, dass wir mit Cassis einen Opportunisten bzw. eine Windfahne im Bundesrat haben. Als Aussenminister völlig ungeeignet in Anbetracht der schwierigen Verhandlungen mit der EU, die auf die Schweiz zukommen.

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