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Ein patriarchal-autoritäres System ermöglichte Zwangseinweisungen © Lorenz Meier

Gefühle, Rituale, Einzelschicksale statt Analysen

Wolfgang Hafner /  Bei Wiedergutmachung ohne Reflexion sozialer Kontexte und strukturelle Veränderungen droht die Wiederholung von Heimgeschichten.

Red. Wolfgang Hafner ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er ist Autor von mehreren Büchern u.a. der Publikation «Pädagogik, Heime, Macht eine historische Analyse».

Am Anfang stand ein vielversprechendes, symbolbeladenes Ritual, das einem Repräsentanten der benachteiligten Heimkinder das Recht auf Entgegennahme der Entschuldigung von Bundesrätin Sommaruga zugestand. Nach diesem Ritual wurden wiederum verschiedene «Einzelfälle» veröffentlicht, welche eine unglückliche Kindheit oder Missbräuche etc. von Verding- oder in Heimkindern illustrierten. Und nach dem nationalrätlichen Entscheid vorletzte Woche scheint es, als ob den Betroffenen eine Entschuldigung in materieller Form zugestanden wird. Auch bei diesen Diskussionen in der grossen Kammer dominierten vor allem Einzelschicksale und das Gefühl der Betroffenheit. Von einer Analyse der Strukturen, welche die Grundlage für all das, was unter dem Begriff «düsteres Kapitel der Sozialgeschichte» subsummiert wird, war nie die Rede. Letztlich war der schweizerische Lokalismus, der sich laut dem Historiker Erich Gruner «wie ein gesellschaftliches Zwangssystem auswirkte», nie ein Thema.

Im Namen der Nächstenliebe

«Sich schuldig fühlen», ist ein Gefühl. Es war Teil der Kampagne zur Wiedergutmachungsinitiative, dieses Gefühl der moralischen Verantwortung bei den Menschen, die auf der «schönen» Seite lebten und leben, hervorzurufen. Guido Fluri, Initiant der Wiedergutmachungsinitiative, meinte kürzlich in einem Tages-Anzeiger-Interview: Er sei im Heim gewesen, könne aber nicht sagen wie lange, «aber doch lang genug, dass es eine prägende Zeit für mich war». Flankiert wird diese Aussage des dank Immobilienspekulationen zum mehrfachen Millionär gewordenen Fluris mit dessen Bekenntnis zur Nächstenliebe: «Ich lebe nach den Evangelien und glaube an christliche Werte wie die Nächstenliebe.»
Dabei wurden genau diese christlichen Werte wie «Nächstenliebe» zur Zeit der Heim- und Verdingkinder als Rechtfertigung für Züchtigungen und Schläge missbraucht. Im Rahmen des damaligen patriarchal-autoritären Regimes wurde vor allem im Namen der Nächstenliebe geprügelt. Es waren die Gefühle und Impulse der in der dörflichen Gesellschaft Herrschenden, welche für Versorgungen den Ausschlag gaben. Sie waren dafür verantwortlich, dass entsprechende Strukturen aufgebaut wurden. Dabei war das gefühlte «sittlich richtige» Verhalten immer viel wichtiger als die politische Positionierung einer Person und deren Ansichten: Bürgerlich-anständig war das Programm, und wer den ökonomischen Aufstieg dank politischer Karriere, Spekulation etc. geschafft hatte, war als Gesprächspartner akzeptiert und wurde ernst genommen.

Keine Infragestellung des gesellschaftlichen Hintergrundes der «düsteren Zeiten»

Die Gültigkeit bestimmter gesellschaftlich definierter und ausschliessender Normen wird auch heute nicht hinterfragt. Eine Kritik der gesellschaftlichen Strukturen, welche diese Normen hervorbrachte und hervorbringt, gibt es nicht. Es sind diese Normen, welche die Strukturen und das Verhalten der Verantwortlichen bestimmen. Fragen, wie etwa ein gesellschaftlich-politisches System oder nur schon das Leben in einem Heim ausgestaltet werden muss, damit sich diese «düsteren» Zeiten nicht mehr wiederholen, werden kaum gestellt. Dabei gibt es durchaus Ansätze, welche, von einer historischen Perspektive ausgehend, Diskussionen um eine demokratische Pädagogik eröffnen könnten. Autoritär-patriarchale Verhältnisse sind Ausdruck eines spezifischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das auch überwunden werden kann. Losgelöst von den starren Regeln war (und ist) vieles auch unter misslichen Umständen möglich.

So hat etwa der Arzt Janusz Korczak einen pädagogischen Ansatz in der schwierigen Umgebung des Warschauer Ghettos entwickelt, der sich durch die starke Betonung der Rechte des Kindes sowie die ständig präsente Selbstkritik des Erziehers von anderen Systemen grundsätzlich unterscheidet. Im Zentrum seines Ansatzes steht der Verzicht des Erziehers auf die Ausübung von Macht sowie die Forderung nach Transparenz. Korczak trat für den Schutz der Kinder ein, der unabhängig von den Gefühlslagen der Leitungspersonen erfolgen sollte. So solle den Kindern kein Unrecht geschehen, «nicht weil er (der Heimleiter) sie gern hat oder liebt, sondern weil eine Institution vorhanden ist, die sie gegen Rechtlosigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt».

Da es diese Diskussionen um strukturelle Faktoren im Zusammenhang mit der Wiedergutmachung nie gab und immer Einzelschicksale im Vordergrund standen, besteht die grosse Gefahr, dass weder bei den Verantwortlichen noch in den Institutionen ein Lernprozess einsetzt noch die Gesellschaft strukturelle Vorkehren trifft, um eine Wiederholung von «düsteren Kapiteln» zu verhindern. Es besteht bloss Ratlosigkeit. Und ob ein wissenschaftliches Programm, dessen allfälligen Resultate lange nach der praktisch ausschliesslich gefühlsbetonten Diskussion publiziert werden, überhaupt noch öffentliche Relevanz hat, ist mehr als fraglich.

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2 Meinungen

  • am 10.05.2016 um 09:57 Uhr
    Permalink

    Als Betroffene kann ich Ihre Analyse bestätigen. Wir weisen immer wieder darauf hin; vergeblich. Wie über die Aufarbeitung 13 mit Berner Casino geschrieben wurde, zeigt aus meiner Sicht, dass man es so genau nicht wissen will, sonst müsste man Strukturen ändern. Als hätten sie es auswendig gelernt, liest man bspw.: Die Betroffenen seien alle hoch betagt; es hat viele Betroffene, die betagt sind, es hat aber auch Betroffene die unter 50 Jahre alt sind. Selbstverständlich gibt es Verantwortliche (die gegen damaliges Recht verstiessen), die noch leben. Immer wieder liest man, bis in die 70-er, 80-er Jahre seien diese Massnahmen verfügt worden. Nein: «Diese zivilrechtlichen Anstaltseinweisungen brachen entgegen der Erwartung des zuständigen Departements (..) im Jahr 1981 nicht ab. Obwohl sich Regierung und Anstaltsleitung der nicht gesetzeskonformen Praxis der gleichzeitigen Unterbringung von vormundschaftlich versorgten mit strafrechtlich verurteilten Menschen in der Arbeitsanstalt Bitzi bewusst waren, wurde diese Praxis bis 1987 weitergeführt.» Zwangsversorgungen, S. Knecht, 2015, s. 119. Seit Jahrzehnten kämpfen Betroffene mit wenigen Verbündeten (neue Studien zeigen dies auch, doch wird kaum darauf hingewiesen). Es wird über mittellose Menschen verfügt, selbst in der Aufarbeitung 13. Diese Verhaltenskultur hat sich fest gebissen, wird sich nicht lösen. Wir müssen weiterhin darum kämpfen, dass hin geschaut wird. Doch kritische Betroffene haben es schwer, werden isoliert.

  • am 10.05.2016 um 10:12 Uhr
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    Und: Diese Aufarbeitung 13 ist ein grosser Schritt (v.a. für das aktuelle Parlament): das ist das Traurige. Es wäre sehr wichtig, dass dieses Kapitel danach nicht vom Tisch gefegt wird, als wäre es eine lästige Aufgabe gewesen. Dazu bräuchten jedoch die Betroffenen Raum und Stimme; auch die jüngeren, die, nicht selten, in der IV- oder gar SH-Mühle zerrieben werden. Ich wünschte mir sehr, das Bewusstsein dieser Zwangsstrukturen, von denen wir fast alle betroffen sind, wünschte mir, dass die Kinder und künftige Generationen mehr Luft und Licht erfahren dürften, damit sie leben können. In der Aufarbeitung wurde mir noch deutlicher bewusst, wie Menschen im selben Land derart in unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten geraten können, dass eine Verständigung kaum möglich ist. Nur schon das ist einer Demokratie unwürdig.

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