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Morgens um 07.11 Uhr gibt es im geräumigen Bahnhof Löwenstrasse viel Platz … © hpg

Der neue Durchgangsbahnhof – ein Geisterbahnhof

Hanspeter Guggenbühl /  Die Kapazität der neueröffneten Bahnlinie durch Zürich wird erst zu einem Bruchteil genutzt. Die meiste Zeit gähnt die Leere.

Morgens um 06.49 Uhr in Effretikon: Die S-Bahn 8, die vom Thurgau über Winterthur und durch Zürich ans linke Seeufer verkehrt, ist an diesem Donnerstagmorgen proppenvoll. Im mittleren Teil stehen die Fahrgäste. Sind die Leute aus Winterthur und Umgebung, die nach Zürich pendeln, bereits von den Intercity-Zügen oder der direkten S12 auf die S8 umgestiegen, seit diese durch den neuen Bahnhof «Löwenstrasse» und damit schneller ins Zentrum der Kantonshauptstadt fährt? Nur bedingt. Denn schon in Wallisellen und Oerlikon steigen viele Pendler aus.

Trotz Stosszeit ist diese S8 nur noch etwa halb voll, als sie um 07.06 in den neuen Durchgangsbahnhof einfährt. Im Unterschied zum Bahnhof Museumsstrasse gibt es hier kein Gedränge zwischen Ein- und Aussteigenden. Die Ankommenden streben den Rolltreppen zu. Zwei Minuten später ist der 400 Meter lange Perron schon fast wieder leer. Ein einsamer Rollstuhlfahrer bewegt sich auf dem blitzblanken Boden zum Lift. Die Leute, die sich im weiträumigen Bahnhof jetzt noch aufhalten und auf einen nächsten Zug warten, lassen sich an wenigen Fingern abzählen.

Viel Kapazität, wenig Züge

Das Prozedere wiederholt sich zehn Minuten später, als die S2 um 07.16 Uhr vom Flughafen her einfährt: Zwei Minuten Belebung. Dann fährt der Zug fährt weiter Richtung Ziegelbrücke, und in der hell erleuchteten Perronhalle kehrt wieder Stille ein wie in einer Kathedrale, wenn keine Messe stattfindet.

In der Spitzenstunde zwischen sieben und acht fahren heute – und bis Ende 2015 – insgesamt zwölf Züge in den viergleisigen Durchgangsbahnhof ein und aus, nämlich: Vier Züge der Linien S8 und S2 aus Winterthur und vom Flughafen, vier Züge der gleichen Linien in der Gegenrichtung. Zwei Züge der Linie 14 aus Hinwil sowie zwei Entlastungszüge aus Luzern. Ausserhalb der Spitzenzeiten bleiben nur die zehn S-Bahn-Züge.

Die theoretische Kapazität des neuen Durchgangsbahnhofs wird damit nur zu etwa einem Fünftel genutzt. Denn auf der neuen Durchmesserlinie (DML) könnte theoretisch alle zwei Minuten ein Regionalzug in jeder Richtung (total also 60 pro Stunde) verkehren. Ab Ende 2015, wenn die DML bis nach Altstetten fertig ist, kommen stündlich noch acht Fernverkehrszüge und die Verlängerung der S14 dazu. Die höhere Kapazität wird aber auch dann nicht ausgelastet. Grund: Neue Engpässe zwischen Aarau und Winterthur begrenzen bis mindestens 2030 die Zahl der in Zürich ein- und ausfahrenden Züge.

Kontrast zum alten Bahnhof

Kurz vor halb acht verlässt der Reporter den Geisterbahnhof unter der Gessnerallee, geht durch die stark frequentierte Passage Sihlquai und sticht hinunter in den alten, engeren Bahnhof Museumsstrasse. Hier verkehren die S-Bahnlinien 3, 5, 6, 7, 9, 12, 15 und 16 im Halbstundentakt, und in der Spitzenstunde kommen noch einige Entlastungszüge dazu. Morgens um halb acht drängeln sich die ein-, aus- und umsteigenden Pendler. Turnschuh-Anschlüsse werden verpasst, denn an Laufschritt ist hier nicht zu denken. An den Rolltreppen gerät der Fussverkehr ins Stocken. Der Kontrast zum Bahnhof Löwenstrasse ist nicht nur sicht-, sondern auch fühlbar: Die Luft ist hier wärmer, stickiger.

Auf dem Weg zurück wählt der Reporter den Weg durch die neue Passage Gessnerallee. Die Halle über dem neuen Bahnhof, um die sich die Läden des erweiterten Shopping-Centers gruppieren, bietet viel Freiraum. Ein einsamer Kunde kauft im Mövenpick-Imbiss ein Häppchen. Der Coop-Laden gegenüber wird primär von Verkaufspersonal bevölkert. Zahlen über die Frequenzen im neuen Durchgangs-Bahnhof und im erweiterten Shopping-Center, so sagen die Sprecher von SBB und Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) auf Anfrage, werden erst in einigen Monaten vorliegen. Solange muss sich die Öffentlichkeit mit subjektiven Eindrücken von Medienleuten oder eigenen Eindrücken begnügen.

Parkplatz für S14

Ein letzter Augenschein im neuen Bahnhof kurz vor acht Uhr: Die vornehme Perronhalle wirkt immer noch verlassen, aber sie ist nicht leer. Denn auf Gleis 34 steht einsam die S-14 Hinwil-Zürich. Sie steht dort jede halbe Stunde volle 25 Minuten lang, bevor sie nach Hinwil zurück fährt. Der ZVV, der auf seinen Zügen mit Slogans wirbt wie: «Ich bin auch ein Schiff» kann die Werbung jetzt für den Durchgangsbahnhof erweitern: «Ich bin auch ein Parkplatz.»

Lesen Sie hier weiter zum Thema: Durchmesserlinie verschiebt die Engpässe


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5 Meinungen

  • am 22.06.2014 um 12:50 Uhr
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    Ich kann diese Kritik und Ungeduld nicht verstehen: Da hat dieser Bahnhof gerade mal ein paar Tage in Betrieb gestanden, schon soll alles voll ausgelastet sein, sollen Zahlen vorliegen über Pendler, Nutzer, Einkäufer?
    Als Verantwortlicher bei den SBB würde ich einem neuen Bahnhof auch etwas Luft lassen: für Kinderkrankheiten, Betriebsoptimierungen, Weiterentwicklungen und die – gottgegebene – Zunahme der Pendlerströme Jahr für Jahr.
    Daher aus meiner Sicht: Alles in Ordnung. Und geniesst die Ruhe dort unten, sie wird schneller vorbei sein, als uns lieb ist.

  • am 22.06.2014 um 13:12 Uhr
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    Was für Luxus-Probleme! Und ein weinerlicher, ach so kritischer Reporter!!
    Grüsse aus Peking

  • am 22.06.2014 um 21:36 Uhr
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    Luxusprobleme? Ja, zweifellos, im Vergleich mit Verhältnissen ausserhalb unserer Nachbarstaaten, da gebe ich ihnen vollkommen recht. Allerdings habe ich den Eindruck, dass der Artikel auf einen doch relevanten Punkt hinweist: Mit vielen Millionen Steuergeldern wurde ein Bauwerk errichtet. Demokratisch legitimiert notabene. Dann wird es aber über Monate hinweg nur behelfsmässig genutzt. Schade.
    Für jeden Steuerfranken gilt meines Erachtens, dass wir uns überlegen müssen, wo er am meisten nützt: Im öV? Im Gesundheitswesen? In der Schule? Bei Polizei und Justiz? Wenn eine milliardenschwere Investition in den öV nicht unmittelbar adäquat genutzt wird, befürchte ich, dass andere Bereiche von diesem Geld mehr profitiert hätten.

  • am 22.06.2014 um 22:37 Uhr
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    Genau andere Bereiche könnten von diesen Milliarden wesentlich mehr Nutzen ziehen.
    Beispiel Landwirtschaft: Es gibt immer noch Bergbauern, die rechen das Bergheu von Hand zusammen. Dabei ist doch klar, das jeder Bauer, seine Frau und alle seine fähigen Kindern einen BLÄSER brauchen. Und den soll er natürlich nicht selbst bezahlen. Hier kann das Geld sinnvoll investiert werden: Anschaffung, Treibstoff CO2-Zertifikate.

  • am 23.06.2014 um 21:26 Uhr
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    Zum Informationsgehalt des Artikels möchte ich mit Erich Kästner sagen:
    Onkel Theobald berichtet, was er alles sieht und sichtet. Doch man sieht´s auch ohne ihn.
    Und Herr Magnin: Wieviele BLÄSER bekäme man für den Preis der DML oder vielleicht den eines Gripen? Damit könnten die Bären und Wölfe auch gleich noch vergrault werden. Und den Wanderern zuliebe Lärmschutzwände um die Alpweiden lägen auch noch drin. Die wegen Schneemangels ungenutzten Skilifte könnten zum Transport der Pendlerströme zwischen Hauptbahnhof und Oerlikon umgenutzt werden.

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