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Wirtschaftlich eng verknüpft bei institutioneller Abstinenz - ist das noch souverän? © Die Volkswirtschaft

Schweiz – EU: Souverän wäre anders

Markus Mugglin /  Was als Selbstbestimmung zelebriert wird, erweist sich oft als fremdbestimmt – auch im Verhältnis zur EU.

Geradezu Historisches ereigne sich in der Schweiz. Das vermuteten der Europarechtler Thomas Cottier und der Historiker André Holenstein noch bevor der Bundesrat die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU einseitig abgebrochen hatte. Ihre Vermutung gründet tiefer. Cottier zieht in seinem Beitrag im soeben erschienenen Buch «Die Souveränität der Schweiz in Europa» einen Vergleich zu den Ereignissen vor 200 Jahren, als sich die konservativen Kantone «im frühen 19. Jahrhundert inmitten der Schweiz dem aufstrebenden Bundesstaat unter Rekurs auf Eigensinn, Eigenständigkeit und alte Werte und Mythen zu entziehen suchten, aber gleichwohl von dessen Entwicklung in vitalen Bereichen betroffen waren». Die Folgen waren bekanntlich einschneidend. Die Kantone «büssten in wesentlichen Bereichen an Selbstbestimmung ein, auch wenn sie formell bis 1848 unabhängig und souverän blieben».

Die hochgelobte angebliche Eigenständigkeit könnte für die Schweiz noch dramatisch enden, warnen Cottier und Holenstein und werfen dabei einen Blick weit zurück in die Geschichte des Landes und analysieren die Fragen: Was heisst in Wirklichkeit Souveränität, woran misst sie sich, wie hat sie sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt und verändert.

Die Frage der Souveränität hat in der Schlussphase der Verhandlungen über das Institutionelle Rahmenabkommen mit der EU plötzlich das politische Spektrum des Landes von rechts bis links aufgewühlt. Es hat die beiden Wissenschaftler erst recht bewogen, die Wirklichkeit hinter dem Schlagwort zu ergründen. Denn sie sind besorgt. Die Schweiz riskiere ihre Zukunft zu verspielen, wenn sie im alten nationalstaatlichen Verständnis von Souveränität gefangen bleibe, statt anzuerkennen, dass Souveränität heute mehr als Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Selbstzweck bedeute.

Souveränität ist mehr als Selbstbestimmung

Die Souveränität alter Schule spiegle längst nicht mehr die Wirklichkeit, in der sich die Schweiz befinde. «Das wussten schon die Verfassungsväter und die Mehrheit der Kantone, als sie 1848 die moderne Schweiz gründeten», stellt der Historiker Holenstein fest. Sie hätten die Souveränität nicht als «absolute, eine für alle Mal festgeschriebene Grösse» konzipiert, sondern – basierend auf über Jahrhunderte gemachte Erfahrungen – als geteilte und kooperative Souveränität verstanden. Der 700 Jahre alte «Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit» sei nur deshalb erfolgreich gewesen, weil sich die Schweiz seit je auf die bestimmenden Kräfte und Verhältnisse in ihrem geopolitischen Umfeld einliess», gibt der Historiker Holenstein zu bedenken. 

Souveränität setze Entscheidungsmacht voraus, welche die Schweiz oft nicht mehr habe. Manche Beispiele aus jüngerer Zeit lassen sich dafür als Belege anführen: das Ende des Bankgeheimnisses für ausländische Anleger, die Geldwäscherei Regulierungen, die letzte Unternehmenssteuerreform, die nach der Finanzkrise 2008 umgesetzten Bankenregulierungen, die neuen Datenschutzvorgaben usw. usf. Und nun will die Justizministerin Keller-Sutter als sogenanntes Alternativprogramm zum Rahmenabkommen die schon seit den 1990er Jahre wie geschmiert laufende Mechanik der Übernahme von EU-Recht sogar noch weiter perfektionieren. Die Schweiz soll offenbar noch mehr zum zugewandten Ort der EU ohne Mitsprachemöglichkeit werden, und somit zum Passivmitglied ohne Stimmrecht.  

Der Kern heutiger Souveränität läge im Anspruch auf Teilhabe und der Gewährleistung von Mitbestimmung und damit von Einflussmöglichkeiten, halten Cottier und Holenstein entgegen. Und salopp umgekehrt formuliert, meinen sie mit dem früheren Aussenminister Joseph Deiss: «Les absents ont toujours tort». Wer nicht dabei ist, der beraubt sich seines Einflusses.

Die Schweiz habe im Verhältnis zu den Bretton Woods-Institutionen Internationaler Währungsfonds und Weltbank im Jahre 1992 und zehn Jahre später mit dem Beitritt zur UNO Schritte zur Kooperation und Mitbestimmung getan. Auch bei der Welthandelsorganisation WTO ist sie dabei und unterstellt sich dort einer Schiedsgerichtsbarkeit. Ausgerechnet im Verhältnis zum wirtschaftlich und politisch wichtigsten Partner, der EU, will sie aber keine klar geregelte Kooperation eingehen. Das Verhältnis ist geprägt durch hohe wirtschaftliche Integration bei gleichzeitig institutioneller Abstinenz. Die Schweiz hat keine Mitsprachemöglichkeiten und auch keine Handhabe, um die EU von allfälligen Massnahmen abzuhalten.

Fatale Verdrängung und Lebenslüge

Warum die Schweiz sich damit zufrieden gibt, vermag der Autor Cottier nicht zu enträtseln. «Unverständlich und kaum nachvollziehbar ist, dass dieses Grundproblem der fehlenden Mitsprache und damit des schleichenden Demokratieverlustes in der Schweiz heute weitgehend tabuisiert und ausgeblendet wird», wundert er sich und bezeichnet die Tabuisierung als «fatale Verdrängung und eigentliche Lebenslüge der selbstbewussten Schweiz». Mit dem institutionellen Rahmenabkommen mit der EU wären immerhin erste Schritte der Mitwirkung und der Mitsprache realisiert worden, meint Cottier.      

Doch die Politik kümmert das nicht. Die Gegner jeglicher Annäherung an die EU sowieso nicht. Die Geschichtsklitterung ist bekanntlich Teil ihrer Erfolge. Und die «Souveränitätskeule» zählt neuerdings auch nicht mehr nur zu ihrem politischen Kampfarsenal.  

Die Lehre aus der Schweizer Geschichte ist für Holenstein eine andere. Sie sollte helfen zu verstehen, dass die Schweiz in einem Prozess zwischen Eigenständigkeit und Einbindung, Autonomie und Abhängigkeit, Souveränität und Verflechtung zu dem wurde, was sie ist.

Für den Bundesrat kam das soeben gemeinsam vom Europarechtler Cottier und Historiker Holenstein publizierte Buch über Mythen, Realitäten und Wandel der Souveränität zu spät. Die beiden Autoren konnten ihn nicht mehr zur selbstkritischen Debatte bewegen. Doch für die Zeit danach und die Erfahrungen, die dem Lande nicht erspart bleiben dürften, finden die politischen Akteure des Landes vielleicht die Zeit fürs Nachdenken darüber, wie es die Schweiz geschafft hat, zu dem zu werden, was sie heute ist. Politische Offenheit statt Eigensinn war ein guter Ratgeber in der Geschichte der Schweiz. Warum soll das nicht auch in Zukunft gelten?  

Thomas Cottier und André Holenstein, Die Souveränität der Schweiz in Europa – Mythen, Realitäten und Wandel, Bern 2021, Stämpfli Verlag, 250 Seiten, Preis: Fr. 30.00


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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7 Meinungen

  • am 1.06.2021 um 11:27 Uhr
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    Die Befürworter des autoritären, elitären, kolonialistischen, neoliberalen, rückwärtsgewandten (reaktionären) Machtprojektes EU, zu denen heute auch SP und Grüne zählen, verhalten sich auf den Abbruch der Verhandlungen über des Rahmenabkommens so kopflos wie Hühner mit dem Bundesrat als Fuchs im Hühnerstall. Mit einer mehr als nur peinlichen, einseitigen Weltunterganginszenierung durch das SRF (einem demokratisch nicht kontrollierten Staat im Staate). Ein Verhalten, hinter dem alles andere als Allgemeinwohl steckt.

    Da es einzelnen europäischen Staaten nicht mehr möglich ist, über die Bevölkerungen nichteuropäische Länder im Alleingang zu bestimmen, sie zu unterdrücken, auszubeuten. Durch Korruption, Drohungen, Erpressung, Sanktionen und wenn nötig auch mit Krieg, wollen sie dies, wieder jeglicher Vernunft und Einsicht, gemeinsam mit der EU bewerkstelligen. Dies unter der (dafür notwendigen) autoritären Führung Deutschlands welches in der EU ein Werkzeug ihrer Supermachtbestrebungen sieht.

    Selbstbestimmung, ob von Staaten oder Bevölkerungen, echte Demokratie und Neutralität sind dazu ein Hindernis und werden weiterhin verhindert.

  • am 1.06.2021 um 13:49 Uhr
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    Muss man Professor oder Historiker sein, um Recht zu behalten und vielleicht zu bekommen? Die Geschichte der Schweiz geht bis 1291 zurück, diese DNA ist kein Mythos! Zumindest ist Niklaus von der Flüe im 15. Jahrhundert nicht ganz zu vergessen: «Machet den Zun nicht zuwiit» und «mischt euch nicht in fremde Händel.»
    Hat da Bruder Klaus beteits an das Rahmenabkommen gedacht?…
    Wo sind denn die Habsburger und die Burgunder heute geblieben? Ja den Burgunderwein schätzen wir noch heute!…

  • am 1.06.2021 um 14:08 Uhr
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    Besten Dank Herr Mugglin fürs Wiedergeben der Gedanken der Herren Cottier und Holenstein. Ich vermute mal, dass die beiden Herren bereits vor der EWR-Abstimmung von knapp 30 Jahren vergleichbare Positionen vertreten haben. Ich nehme an, dass Sie – im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung – als nächstes die Überlegungen eines weiteren Schweizer Historikers, Oliver Zimmer von der Universität Oxford, in dieser Sache darlegen werden. Er hat diese jüngst in einem Buch festgehalten: Oliver Zimmer (2020). Wer hat Angst vor Tell?, Unzeitgemässes zur Demokratie. Andernfalls verstärkt sich der Eindruck weiter, dass Ihre Kernkompetenz weniger in der ausgewogenen Berichterstattung als viele mehr in der Mainstreamkommentierung besteht.

  • am 1.06.2021 um 16:13 Uhr
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    Man könnte vielleicht das Buch «Thomas Cottier und André Holenstein, Die Souveränität der Schweiz in Europa – Mythen, Realitäten und Wandel, Bern 2021, Stämpfli Verlag, 250 Seiten,» an unsere Bundesräte schicken, vielleicht hilft’s!

  • am 1.06.2021 um 17:16 Uhr
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    «…dass die Schweiz zu dem wurde, was sie ist», schreiben sie. Sie ist seit 1815 zu dem geworden, was «fremde Mächte» ihr am Wienerkongress zugedacht haben. Neutraler Wächter im Alpenraum zwischen West und Ost. Selbst beschlossen haben wir das nicht. Diese Rolle, das Réduit, ein Auslaufmodell?
    Welche Rolle würde die EU der Schweiz zuweisen, wenn der Wienerkongress heute stattfinden würde? Eine EU ohne GB mit 27 Nationalstaaten, alle mit unvereinbaren Eigeninteressen. Nein, die Rolle von 1815 würde es wohl nicht mehr sein. Vielleicht eine EU in der die Bürger die über Rechte eines Schweizerbürgers verfügen? Dann könnten wir ja sogar über einen Beitritt verhandeln. Times to come?
    Die weiterführende Vision fehlt mir beim Bundesrat, aber bei der EU auch!

  • am 1.06.2021 um 19:37 Uhr
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    Ein exzellenter Artikel, mit exzellenter Rhetorik. Ein exzellenter Überflug über viele kleine Realitäten, die das Wesen der Schweiz ausmachen. Es wäre müssig, hier ein Kleinkrieg über Details vom Zaun zu brechen. Wer die Feinheiten des Nationalstaates Schweiz nicht in seiner Gesamtheit erfasst hat, wird tief beeindruckt sein von diesem Artikel. Internationalismus im Dschungel politischer Institutionen kann aber niemals das Rezept für Freiheit und Sicherheit sein. Friede und Freiheit basiert auf einem gesunden Selbstbewusstsein und Abgrenzung sowie auf der Achtung anderer Individuen und Systeme. Überfliegern droht das Schicksals des Ikarus.

  • am 24.06.2021 um 19:00 Uhr
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    Ein Mitmachen in der EU ermöglicht Mitsprache als eines von 28 Ländern, wobei die Schwergewichte vieles vorspuren. Wieviel Gestaltungsmacht kann man sich in dieser Position erhoffen? Gleichzeitig verplichtet dieser Weg, die gesamte Gesetzgebung der EU zu übernehmen.

    Ein Abseitsstehen mit dem Ziel, eigene Spielräume zu maximieren, sollte eigentlich mehr Freiraum schaffen, die inneren Verhältnisse sowie den Bezug zum Rest der Welt zu gestalten. Im extremsten Fall übernimmt man die EU-Regelung, mehr kann die EU ja nicht erwarten. Die Autonomie ist im schlimmsten Fall gleich und in der Regel höher. Besonders wenn man diese Chance auch packt.

    Der Bundesrat hingegen befremdet mit seinem Auftrag, die Schweiz solle sich auch ohne InstA autonom angleichen. Doch lieber die Chancen eigenere, liberalerer Regeln oder besser noch Nicht-Regulierung ausloten!

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