Meeting Gorbatschow

Michael Gorbatschow und Leo Ensel beim zweiten Besuch im August 2019 © zvg

«Michail Sergejewitsch, ich möchte mich bei Ihnen bedanken!»

Leo Ensel /  Michail Gorbatschow kämpfte unermüdlich für Frieden und Freiheit. Zweimal durfte der Autor ihn persönlich treffen.

Ich bin kein Kriegskind, aber ein Kind des Kalten Krieges. Geboren Mitte der fünfziger Jahre, aufgewachsen in einem katholisch-konservativen Milieu im Rheinland, bin ich gross geworden mit der Angst vor ‹den Russen›. Irgendwann würden sie kommen, uns überfallen und ihren Kommunismus hier einführen – jedenfalls dann, wenn die Amerikaner uns nicht beschützen würden!

Später, in den achtziger Jahren, löste die Angst vor einem alles vernichtenden Atomkrieg die Angst vor ‹den Russen› ab. Wie Hunderttausende andere Westdeutsche ging ich auf die Strasse, um gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu protestieren, die, das war unsere Überzeugung, die Gefahr eines Atomkrieges in Europa dramatisch verschärften. Die Lage schien aussichtslos: Beide Supermächte bis an die Zähne bewaffnet, in einer verhängnisvollen Aufrüstungsspirale verstrickt. Auf jede ‹Nachrüstung› folgte prompt eine ‹Nach-Nachrüstung›, die Vorwarnzeiten betrugen zum Schluss nur noch vier Minuten – und beide deutsche Staaten mittendrin! Das potenzielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Ernstfall wäre kein Stein auf dem anderen geblieben. Und das wussten wir alle.

«Einer muss anfangen aufzuhören!», so lautete eine etwas hilflose Parole.
Und dann geschah ein Wunder.

Eine Seite fing wirklich an aufzuhören. Und meinte es auch noch ernst. Und es waren ausgerechnet unsere ‹Feinde›! Das sklerotische kommunistische System begann – sämtlichen Erwartungen zum Trotz – tatsächlich, sich zu verändern. Auf einmal wurde es interessant, die Reden des Vorsitzenden der kommunistischen Partei zu verfolgen. Kein Phrasengedresche, keine Verkündigung letztgültiger Weisheiten mehr aus Moskau! Nun dominierten die Zauberworte Perestroika und Glasnost. Und die neuen Machthaber hatten Humor. Statt von Breschnew-Doktrin war jetzt von der ‹Sinatra-Doktrin› die Rede: «I did it my way!» Der neue Held auf der weltpolitischen Bühne: jung, energisch, womöglich sogar ehrlich, gut aussehend, offenes Gesicht, mit einer attraktiven klugen Frau an seiner Seite. Und lachen konnte er auch! Ein weiterer Zaubersatz machte die Runde: «Wir werden Euch etwas Schreckliches antun: Wir werden Euch des Feindes berauben!»

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Ein sowjetischer Abrüstungsvorschlag jagte den nächsten. Bis der zunächst misstrauisch widerstrebende Westen sich ‹geschlagen› geben musste. Alle landgestützten Mittelstreckenraketen in Ost und West wurden abgezogen und restlos verschrottet. Erstmals war eine gesamte Waffenkategorie eliminiert! Es folgten die friedlichen Revolutionen in den Ländern Mittel- und Osteuropas, der Fall der Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, die Beseitigung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit und die Charta von Paris, in der NATO und Warschauer Pakt das Ende des Kalten Krieges besiegelten. Die Vision vom «gemeinsamen europäischen Haus» schien greifbar nahe. Für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte schien selbst Kants Utopie vom «Ewigen Frieden» in den Bereich des Möglichen gerückt.

Der Weg zu Gorbatschow

Dass ich jemals im Leben – und auch noch gleich zweimal – die Gelegenheit haben würde, Michail Gorbatschow persönlich zu treffen und mit ihm zu sprechen, das wäre mir in den Jahren der ‹Gorbi-Manie› nicht im Traum eingefallen! Und dafür mussten sich – paradoxerweise! – die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen erst einmal wieder drastisch verschlechtern.

Anfang März 2014, die Krim war noch Teil der Ukraine, setzte ich mich an den Schreibtisch und machte mir Gedanken über Wege aus der neuen Eskalationsspirale. Als ich ein erstes Konzept fertiggestellt hatte, nahm ich Kontakt mit dem Deutsch-Russischen Forum (DRF) auf und wurde prompt nach Berlin zu dem Kongress «Europe: Lost in Translation?» eingeladen, den das DRF zusammen mit dem «World Public Forum – Dialogue of Civilizations» des Putin-Vertrauten und ehemaligen Präsidenten der russischen Eisenbahn, Wladimir Jakunin, veranstaltete. Ich hatte ein Thesenpapier dabei, trug in einer Arbeitsgruppe meine Gedanken vor – und staunte nicht schlecht, als in der Abschlusssitzung einen Tag später vom Arbeitsgruppenleiter, Professor Ruslan Grinberg (Chef der Sektion «Ökonomie» der Russischen Akademie der Wissenschaften), gleich zwei Absätze meines Papiers vollständig vorgelesen wurden! Ich sprach Ruslan Grinberg nach dem Kongress an, und er fragte mich, ob ich Lust hätte, einen ausführlichen Essay für seine Zeitschrift «Мир Перемен» (Welt in Veränderung) zu verfassen. Ich fragte ihn, was das für eine Zeitschrift sei, und erhielt die Antwort: «Die bringe ich zusammen mit Michail Gorbatschow heraus.»

Das liess ich mir nicht zweimal sagen! Ich schrieb den Essay, er erschien im Herbst 2014 – und es wurde der Beginn einer wunderbaren russisch-deutschen Freundschaft, in der sich alles um die Frage dreht, welchen Beitrag wir beide – er als Russe, ich als Deutscher – zur Deeskalation im Neuen Ost-West-Konflikt leisten können. Gemeinsam entwickelten wir das Konzept für eine internationale «Breite Koalition der Vernunft», die alle Menschen aus den direkt und mittelbar betroffenen Ländern, denen Deeskalation wichtiger ist als ihre jeweiligen nationalen Narrative, einlädt, sich zusammenzuschliessen. Unser «STOP!!!-Appell», dessen Ziel die Rettung der Politik des Neuen Denkens von Michail Gorbatschow ist, und das ihm zugrundeliegende Konzept wurden sowohl in Deutschland als auch in Russland veröffentlicht.

Dass bei Grinbergs, wie sich herausstellte, exzellenten Beziehungen zu Gorbatschow immer auch mal wieder von meiner Seite der Wunsch aufkam, den ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion persönlich kennenzulernen, versteht sich von selbst.

Am 18. April 2017 war es endlich so weit.

«Da bin ich ganz bei Ihnen!» – Besuch beim Friedensnobelpreisträger

Die Gorbatschow-Stiftung, ein schwungvoll ausladender dreigeschossiger Neubau aus den nuller Jahren, befindet sich am Leningradskij Prospekt, einer der grossen Moskauer Ausfallstrassen, vom Belarussischen Bahnhof Richtung Nordwesten, fast bis zum Flughafen Scheremetjewo. Dass dort – wie in jeder Metropole – der Verkehr Tag und Nacht in beide Richtungen brandet, es zu Stosszeiten ewiglange Staus gibt, ist längst Normalität. Ironischerweise wird das Gebäude durch zwei Neubauten flankiert, die es ohne den von Gorbatschow eingeleiteten historischen Umbruch da mit Sicherheit nicht gäbe: Zur Linken ein Hochhaus der Mercedes-Benz-Vertretung in Moskau und rechts ein Weiterbildungszentrum des russischen Internetproviders Yandex mit einem Starbucks-Café im Erdgeschoss.

Ich hatte mich auf das Treffen gut vorbereitet und unsere wichtigsten Texte zur «Breiten Koalition der Vernunft» auf Russisch dabei. Aber bereits im Auto auf dem Weg zum Leningradskij Prospekt schnürte es mir vor Aufregung fast die Kehle zu. Ich trottete Ruslan Grinberg, der sich souverän durch das Stiftungsgebäude bewegte, brav hinterher, wir fuhren im Aufzug zum dritten Stock, überall an den Flurwänden Fotos von Michail Sergejewitsch mit Politikern aus aller Welt oder zusammen mit seiner Frau, steuerten auf eine offene Türe zu, die in einen grossen Raum führte – und da sass er am anderen Ende an seinem Schreibtisch, ein bordeauxrotes Polohemd unterm Jackett, im Hintergrund das grosse Gemälde mit dem Portrait seiner geliebten Raissa. Wir gingen zu ihm, schüttelten ihm die Hand, Ruslan und ich setzten uns zu beiden Seiten eines angrenzenden Tisches ihm gegenüber – und die erste Viertelstunde sass ich vor ihm wie ein Erstklässler, der noch nicht mal wagte, an der Tasse Tee zu nippen, die mir seine Sekretärin gebracht hatte. Immerhin tröstlich, dass es selbst Ruslan Grinberg neben mir nicht viel anders zu gehen schien!

Das erste, was ich herausbrachte, war das, was ich ihm immer schon hatte sagen wollen: «Michail Sergejewitsch, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Kein Mensch hat im vorigen Jahrhundert so viel Gutes für die Menschheit getan wie Sie! Ich denke dabei vor allem an die atomare Abrüstung.» Worauf er mir über den Schreibtisch hinweg seine Hand entgegenstreckte, mich zu dieser weltbewegenden Erkenntnis beglückwünschte und jovial meinte: «Da bin ich ganz bei Ihnen!»

Arrogant? Eingebildet? – Nein.
Er hatte ja recht! Ebenso peinlich wie der Grössenwahn der Kleinen wäre ein ‹Kleinheitswahn› der wirklich Grossen.

Wie der Kalte Krieg beendet wurde

Es war, als hätte ich ihm mit meinem Dank das verabredete Stichwort geliefert. Er fing sofort an zu erzählen. Es war die Geschichte seines Kampfes um atomare Abrüstung und die Beendigung des Kalten Krieges. Gorbatschow begann mit der Warnung Eisenhowers vor dem militärisch-industriellen Komplex – und erst Wochen später ging es mir auf: Da nahm nicht jemand irgendeine Allerweltsphrase in den Mund, sondern da sprach ein Elder Statesman, der aus Erfahrung sehr genau wusste, mit welch machtvollem Gegner zu beiden Seiten des Eisernen Vorhanges er sich angelegt hatte: einem Gegner, dem, wie der antiken Hydra, für einen abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen und der noch lange nicht besiegt ist! Gorbatschow erklärte, ihm und Ronald Reagan sei die atomare Abrüstung gelungen, weil sowohl er als auch Reagan gewusst hätten, was ein Atomkrieg bedeuten würde. (Und ich gestehe: Bezogen auf Ronald Reagan war mir das in dieser Schärfe neu!)

Zum ersten Mal, so erzählte er, sei ihm die gewaltige Zerstörungskraft der Atombombe bewusst geworden, als in seiner Zeit als Gebietssekretär von Stawropol ein qualifizierter Mann aus Moskau anreiste und einem kleineren Kreis von lokalen Funktionären einen Film mit Originalaufnahmen der Folgen einer Atombombenexplosion vorführte: die mittlerweile bekannten Szenen vom Blitz, den von der Druckwelle förmlich fortgeblasenen Häusern und Bäumen. Anschliessend seien sie alle völlig erschlagen nach Hause gegangen.

Gorbatschow berichtete von den Gipfeltreffen zwischen ihm und Reagan. Zuerst im November 1985 in Genf, als ihm von Reagan als Erstes alle Verbrechen des Kommunismus um die Ohren gehauen wurden, bis er selbst mit der Frage: «Und wer hat die Atombomben in Japan eingesetzt?» konterte. Dennoch schafften beide mit ihrer gemeinsamen Erklärung, ein Atomkrieg könne niemals gewonnen und dürfe daher auch niemals begonnen werden und keine Seite dürfe Überlegenheit anstreben, eine erste bahnbrechende Übereinkunft. Dann die Krise und die Verhandlungsflaute danach, bis er, Gorbatschow, energisch auf ein schnelles weiteres Gipfeltreffen drängte, das im Oktober 1986 im isländischen Reykjavik stattfand. Und wie die von ihm vorgeschlagene weltweite Halbierung aller Atomsprengköpfe, ja die Abschaffung der Atomwaffe überhaupt, schliesslich an Reagans starrer Haltung zu SDI (Strategic Defensive Initiative) scheiterte. Und wie Gorbatschow – er spricht manchmal von sich in der dritten Person – durch seine öffentliche Uminterpretation des Scheiterns in einen Durchbruch die Situation rettete und damit den Boden für den Abschluss des INF-Vertrages im Dezember 1987 bereitete. Bis hin zum Spaziergang mit Ronald Reagan über den Roten Platz im Juni 1988, wo dieser auf Fragen von Journalisten seine frühere Bemerkung, die Sowjetunion sei das «Reich des Bösen», als nicht mehr zeitgemäss bezeichnete. Und er deutete seine Enttäuschung darüber an, dass die USA sich nach dem Ende des Kalten Krieges nicht an ihre Vereinbarungen gehalten hätten.

Gorbatschow doziert

Ich war beim Zuhören hin- und hergerissen. Als Journalist wäre ich glücklich gewesen über so viele Hintergrundinformationen zur Beendigung des Kalten Krieges aus allererster Hand. Aber ich wollte ja mehr. Ich wollte Gorbatschow gewinnen für unsere «Breite Koalition der Vernunft» zur Verhinderung eines neuen Kalten Krieges. Immer wieder, wenn Ruslan Grinberg gerade eine Passage Gorbatschows übersetzt hatte, holte ich Luft, wollte einhaken und sinngemäss sagen: «Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt –» Aber da machte er bereits weiter!

Gorbatschow dozierte.
Mit dem Habitus des Mannes, der es gewohnt ist, dass man ihm an den Lippen hängt.
Ich kam nicht dazwischen.
Irgendwann gab ich auf.
Ich hatte Angst, die Stimmung zu verderben.

Dabei machte es ihm sichtlich Spass, alles ausführlich zu erzählen. Das Treffen schien keine Pflichtübung für ihn zu sein. Er war nicht arrogant. Weder hatte er es eilig, noch vermittelte er mir, dass es eine grosse Gnade sei, gerade eine Privataudienz bei ihm zu erhalten. Er war freundlich, zugewandt, präsent, redete mich mit Vornamen an, fragte mich nach Alter und Beruf und blätterte aufmerksam mein Buch über Angst und atomare Aufrüstung durch, das ich Anfang der achtziger Jahre für die westdeutsche Friedensbewegung geschrieben hatte. Besonders lange blieb er an zwei Karten im Anhang hängen, auf denen die genauen Standorte der damals in der Bundesrepublik und der DDR gelagerten Atomsprengköpfe verzeichnet waren.

Und dann, gegen Ende unseres Treffens, kam es doch noch zu so etwas wie einem Gespräch. Ich berichtete Gorbatschow von unserer Initiative und reichte ihm meine Texte rüber. Er stürzte sich gleich auf unseren «STOP!!!-Appell», überflog den Text rasch mit dem Gestus, der sofort das Wesentliche erfasst, begann darin herumzukritzeln und strich spontan eine Stelle dick an. Später schaute ich genauer nach: Es war – kaum ein Zufall! – die Passage «25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wird weiter östlich eine neue ‹Berliner Mauer› errichtet.»

Zum Schluss verwies er auf sein Alter und seine Krankheiten, meinte aber, bald werde es Frühling und wärmer – und dann würde er sehr gerne wieder nach Deutschland kommen. Die russisch-deutschen Beziehungen seien ihm besonders wichtig. Der Abschied war sehr freundlich.

Insgesamt hatte ich 75 Minuten bei Gorbatschow verbracht. Und ich hatte, wie mir Ruslan Grinberg anschliessend versicherte, offenbar einen guten Tag bei ihm erwischt! Von der erträumten Unterstützung unserer «Breiten Koalition der Vernunft» durch Gorbatschow haben wir zwar nichts mehr gehört – aber trotzdem …

Inhaltlich hat er sich jedenfalls in seinen Essays und öffentlichen Erklärungen stets nahezu übereinstimmend geäussert.

Der zweite Besuch

Am 20. August 2019 hatte ich die Gelegenheit, Gorbatschow ein zweites Mal zu besuchen. Wieder zusammen mit Ruslan Grinberg, diesmal allerdings noch in Begleitung eines weiteren ungewöhnlichen Mannes. Karl Schumacher, erfolgreicher mittelständischer Unternehmer aus dem Ruhrpott, der über Jahre hinweg aus eigener Initiative unendlich viel für einen anderen Weltenretter getan hatte: Stanislaw Petrow, Oberstleutnant der Roten Armee, der, als im Herbst 1983 im sowjetischen Raktenabwehrzentrum bei Moskau die Sirenen schrillten und fünfmal hintereinander den Anflug amerikanischer Interkontinentalraketen meldeten – wie sich erst später herausstellte, ein Fehlalarm – die Nerven behalten und durch besonnenes Handeln sehr wahrscheinlich den Dritten Weltkrieg verhindert hatte.

Und es war noch einmal ganz anders.

Gorbatschow, geistig voll da, aber körperlich geschwächt. Dieses Mal sassen wir nicht vor ihm, sondern in einem anderen Raum neben ihm um einen Tisch versammelt. Er war rührend freundlich, noch nahbarer und wirkte zugleich deutlich dünnhäutiger als beim ersten Mal. Wir sprachen über die sicherheitspolitische Lage nach dem Ende des INF-Vertrages.


Zum Abschied drückte ich ihm beide Hände und bat ihn augenzwinkernd: «Пожалуйста, спасите мир еще второй раз!» (Bitte retten Sie die Welt noch ein zweites Mal!)

Für eine Renaissance des Neuen Denkens

Mit 88 Jahren und gesundheitlich bereits angeschlagen veröffentlichte Michail Gorbatschow – punktgenau zum 30. Jahrestag des Mauerfalls – sein letztes Buch «Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit», das sich schon damals las wie sein politisches Vermächtnis. (Es wurde in den deutschen Leitmedien weitgehend ignoriert.)

Hier holt er nochmal gross aus. Und zeigt am Beispiel der Militarisierung der Weltpolitik, der Ökologie, des Prozesses der Globalisierung mit ihren Folgen in allen Lebensbereichen, wie aktuell sein Neues Denken im dritten Millennium ist. Und wie notwendig dem auf allen Ebenen ein Neues Handeln zu folgen hat. Schliesslich geht es um nichts Geringeres als um das (Über-)Leben der Menschheit im 21. Jahrhundert.

Gorbatschow geht aufs Ganze. Immer wieder drängt sich beim Lesen der Eindruck auf, als spreche hier kein Elder Statesman, sondern der Generalsekretär der Vereinten Nationen: «Wir sind EINE Menschheit! Wir leben alle auf EINEM Planeten!» Sein Ansatz ist so leicht formuliert, wie er schwer umzusetzen ist.

Am 30. August ist Michail Gorbatschow verstorben. Dass er zum Ende seines Lebens ohnmächtig mit ansehen musste, wie das politische Erbe seines Neuen Denkens mutwillig an die Wand gefahren wurde, ist die schlimmste Tragik, die grösste Demütigung, aber auch die grösste Schande für die gegenwärtigen politischen Akteure im Westen wie in Russland die überhaupt denkbar ist.

Umso grösser die Herausforderung an seine politischen Erben, also an alle Menschen, die nicht bereit sind, die gegenwärtige Eskalationsspirale tatenlos hinzunehmen. In den achtziger Jahren hatte Michail Gorbatschow demonstriert, wie man aus einer schier ausweglosen brandgefährlichen Sackgasse doch noch herauskommen kann – wenn der unbedingte Wille dazu vorhanden ist. Das geistige Rüstzeug dafür, das von ihm mitentwickelte Neue Denken, nie war es so wertvoll wie heute!

Nun liegt es an uns, gute Erben zu sein.


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Keine
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17 Meinungen

  • am 1.09.2022 um 12:28 Uhr
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    Auch ich danke Michail Gorbatschow dafür, dass er es mir und einer ganzen Menschengeneration in vielen betroffenen Ländern ermöglicht hat, in Frieden und Freiheit und der Hoffnung auf eine gute Zukunft für uns und unsere Nachkommen auf dieser Erde zu leben – und danke ebenso allen damals Beteiligten, die sich auf diesen Weg eingelassen haben.
    Nach meiner Kindheit und Jugend am «Eisernen Vorhang», wo unsere Welt endete, war dies wohl wahrlich eine echte Zeitenwende.
    Meine größte Hochachtung!
    Es war ein Geschenk, eine Chance, ein so günstiges Zusammentreffen wichtiger Menschen und Faktoren zur richtigen Zeit, das wir alle vielleicht nicht genügend wertgeschätzt und jedenfalls nicht ausreichend achtsam bewahrt und verteidigt haben.
    Ich danke auch Herrn Ensel für diesen bewegenden Rückblick und sein Engagement und schließe mich seinem Aufruf an, gute Erben dieses Denkens und Fühlens für Frieden und Freiheit und gute Beziehungen zwischen ALLEN Völkern zu sein – aktiv und mit ganzem Herzen!

  • am 1.09.2022 um 13:06 Uhr
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    Und ich möchte mich bei Leo Ensel für seine immer wieder gut geschrieben und informativen Artikel bedanken, die eine emotionale Nähe zu den beschriebenen Personen offenbaren. Gorbatschow kommt hier als sympathischer Poser rüber, der sich wohl keinen Illusionen mehr hingibt. Aus heutiger Sicht hat er mehr getan als viele andere. Er hat die Führung der DDR als Vasallen der UdSSR vorgeführt und ihnen klar gemacht, dass die Weltgeschicke in Moskau und nicht in Ostberlin entschieden werden. Sie haben sich dran gehalten, auch wenn Egon Krenz bis heute grollt und aus dem apologetischen Bücherschreiben nicht mehr herauskommt. Gorbi hat seine Macht und sein bißchen Zeit an der Spitze gut genutzt. Ein ehrenvoller Übergang des Sowjetsystems in eine prosperierende Demokratie wäre selbst für größere Macht- und Führungsgenies nicht zu schaffen gewesen; zu gewaltig waren die Probleme. Das große Klauen, Betrügen und Ausverkaufen begann immerhin erst unter Jelzin.

  • am 1.09.2022 um 13:27 Uhr
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    Gorbatschows Verdienste, insbesondere um die atomare Teilabrüstung, in Ehren, doch der Mann hat sich Zeit seines Lebens in erster Linie an die Machthabenden gewandt. Nie an die Klasse der Arbeitenden, nie an die fortschrittlichen Gewerkschaften, nie an Bewegungen die sich unter selbstbestimmtem Einsatz für eine bessere, soziale, wirklich demokratische Welt einsetzen. Ich erinnere mich nicht daran, dass er auch nur einmal die Auflösung der NATO gefordert hat, was Voraussetzung gewesen wäre, die kalten Kriege zu beenden. Im Gegenteil, hat er sich von dieser über den Tisch ziehen lassen. Beim besten Wohlwollen, unter dem Strich hat er leider verloren.

    • am 2.09.2022 um 09:45 Uhr
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      Welche regierenden Politiker in Deutschland, in Europa, im Westen wenden sich heute ernsthaft «an die Klasse der Arbeitenden, … an die fortschrittlichen Gewerkschaften, … an Bewegungen die sich unter selbstbestimmtem Einsatz für eine bessere, soziale, wirklich demokratische Welt einsetzen»?
      Wer von Ihnen fordert heute die Auflösung der NATO?

      Und was wird erreicht von ihnen in wichtigen Fragen des (Über-)Lebens auf unserer Erde? Kriege, Kolonisierung, Hunger, Armut, immer krassere soziale Ungleichheit, Landraub, Klimawandel, Artensterben …

      Auch wenn damals sicher einiges theoretisch hätte noch viel besser gelöst werden können, durch die von Gorbatschow initiierte damalige Zeitenwende wurde der Welt eine Chance gegeben, die bis heute ihresgleichen sucht!
      Vertan wurde diese Chance imho in all der Zeit danach …

  • am 1.09.2022 um 13:27 Uhr
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    Leider zeigt sich gerade wieder beim Wirken von Michail Gorbatschow, dass das Böse zu oft über das Gute siegt. Und zu wenige Menschen seiner Grösse versuchen die Welt zu verbessern.

  • am 1.09.2022 um 19:04 Uhr
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    Wir verdanken Menschen wie Stanislaw Petrow und Michail Gorbatschow, dass Europa kein atomares Trümmerfeld wurde. Dass sie Russen waren, ist nebensächlich.
    Wo sind solche Menschen heute, die wieder beweisen, dass der Mensch von Vernunft und Solidarität geleitet wird, und nicht von Machtgelüsten?

  • am 1.09.2022 um 19:05 Uhr
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    Aus der «Koalition der Vernunft» ist ja dann nichts geworden. Vermutlich halten wir hier im West zu viel von «Vernunft».
    Gorbatschow hat tatsächlich sehr viel für den Weltfrieden getan. Dennoch muss man klar sehen, dass er ein Sowjet war und ein Teil des Apparates. Er war einfach Realist genug, zu erkennen, dass der Ostblock wirtschaftlich am Boden war und einen Ausweg brauchte.
    Der Putain hat danach leider die neuen Freiheiten missbraucht, um sich und seine Kumpels nicht nur massloss zu bereichern, sondern um sein Land zu knechten und systamtisch auszuplündern. Es geht nicht um einen neuen «Eisernern Vorhang» sondern um eine kleine Clique von Ganoven, die Russland plündern.
    Ich habe soeben Anders Alsund (2019): Russia’s Crony Capitalism gelesen.

    • am 2.09.2022 um 09:25 Uhr
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      Mit Freiheiten und deren verantwortungsvollem Gebrauch scheinen wir Menschen uns ja allgemein sehr schwer zu tun.
      Was wäre eine realistisch umsetzbare, bessere Alternative für Gorbatschow gewesen?
      In welchem Ausmaß Einzelne in den letzten Jahrzehnten Russland plündern, kann ich nicht beurteilen, dass es so ist, ist wohl unbestritten. Aber wurde die Grundlage dafür nicht v.a. in der Ära Jelzins gelegt, als der US-Einfluss in Russland am größten war?
      Die westliche Oligarchie plündert nicht nur ihre eigenen Länder, sondern die gesamte Erde – seit 5 Jahrhunderten: Menschen, alles übrige Leben und alle Ressourcen, zurück bleibt (im wahrsten Wortsinn angesichts des Klimawandels) verbrannte Erde, durch Kolonisierung und Kriege traumatisierte Völker, ein Zusammenbruch der lebendigen Vielfalt und Lebenssysteme.
      Jeder möge also erst vor seiner Türe kehren …

      • am 4.09.2022 um 06:46 Uhr
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        Anders Aslund kommt anhand seiner sehr detaillierten akademischen Forschung zum Schluss,dass Putain die ersten 10 Jahre damit verbrachte, Russland unter seine Kontrolle zu bringen. Ab 2012 dann teilte er die Grosskonzerne und die Zulieferbetriebe unter seinen Getreuen auf («Cronies» bei Aslund). Einziges Kriterium war, dass diese Leute dem Putin absolut treu waren. Sie waren frei, diese Konzerne zu plündern. Putin selber und die ca. 30 Getreuen mit Familienanhang beförderten mehrere hundert Milliarden Dollars ins Ausland. Dieses Geld fehlte bei Investitionen in moderne Fabriken und Ausbildungen.
        Laut Aslund sind diese offshore in den Britischen Inseln und den USA angelegt. Das System Putin kann laut Aslund nicht mit Rohstoffboykotten gestürzt werden jedoch mit der Beschlagnahmung dieser gestohlenen Privatvermögen und mit gezielten Reiseverboten gegen die Getreuen und Familien.

    • am 2.09.2022 um 12:04 Uhr
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      @Jürg Brechbühl, Sie behaupten hier (mit USAnders Alsund als Referenz). Ich behaupte das komplette Gegenteil. Nachdem Wodkagefäss Jelzin (im Wahlkampf von USA gepusht), mit Bill Clinton lachend tanzend (vgl. Foto), Russland via Chodorkowski praktisch bereits an die USA verscherbelt hatte, auch via «Volksanteilscheinen» (auf diesen Winkelzug muss man erst mal kommen), hat sein Nachfolger Putin in letzter Minute Russland gerettet. Putin machte die Plünderung rückgängig, die Renten stiegen und die Lebenserwartung, die Staatsverschuldung ist rekordtief (verglichen etwa mit den «griechischen» USA).
      Mein Eindruck vom Wertewesten ist, dass man hier unglaubwürdige Behauptungen ohne Belege veröffentlichen darf, wenn es den Mächtigen dient. Aber umgekehrt, wo sind heutzutage beispielsweise Mathias Bröckers (Mitgründer TAZ) und Dirk Pohlmann (preisgekrönte Filmdokus) in den Leitmedien?

      • am 3.09.2022 um 10:52 Uhr
        Permalink

        Anders Aslund ist Schwede und war ursprünglich im schwedischen diplomatischen Dienst in Moskau stationiert. Er beobachtet die russische Volkswirtschaft als Fachspezialist und mit vorzüglichen Russisch-Kenntnissen seit Ende 1980er Jahre und fasste den jeweils aktuellen Stand in bisher vier Büchern zusammen.
        Aslund beschreibt, dass das Gross Domestic Product Russlands seit 10 Jahren bei umgerechnet 10’000 USDollar stagniert und die Leute langsam aber spürbar verarmen.
        Aslunds Hauptaugenmerk gilt aber der systematische Deinstitutionalisierung Russlands. Das ganze Land wird nicht mehr durch Gesetze regiert (rule of law), sondern von Fall zu Fall werden Gesetze erlassen, um die Despotie der Herrscherklasse durchzusetzen (rule by law).

    • am 3.09.2022 um 22:58 Uhr
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      Als Beleg haben Sie mit Anders Alsund eine «überzeugende» Person genannt. Dieser war Wirtschaftsberater des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma, auch er, wie alle ukrainischen Präsidenten, korrupt (unabhängig davon, ob östlich oder westlich orientiert; das gilt ausweislich der «Pandora Papers» im besonderem Maße auch für Selenskyj).

      Leonid Kutschma ist darüber hinaus jedoch noch ein Kriegsverbrecher. Denn er gehörte im Jahre 2003 zu Bushs «Koalition der Willigen», die unprovoziert, mit Lügen gerechtfertigt und mit eigensüchtigen Motiven (Zugriff auf irakisches Öl/Gas, US-Militärstützpunkte im Irak) einen völkerechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak vom Zaun gebrochen hatte.

      Gerade bzgl. des von Anders Alsund beratenen Leonid Kutschma gewinnt somit der von Ihnen verwendete Textpassus «kleine korrupte Clique» eine ganz eigene Bedeutung!

      Bleibt noch anzumerken, dass Anders Alsund «Senior Fellow» der NATO-Lobbyorganisation (Entschuldigung: «Think Tank») «Atlantic Council» ist.

  • am 1.09.2022 um 20:24 Uhr
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    Vielen Dank für diesen Bericht.
    Werde sein Buch gerne lesen.

    • am 3.09.2022 um 10:53 Uhr
      Permalink

      Das Buch ist in gedruckter Form nicht so leicht zu bekommen und recht teuer. Ich habe ein antiquairsches Exemplar bei Amazon.fr ergattern müssen. Wer Kindle mag, kann es so machen.

  • am 3.09.2022 um 18:20 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank, Herr Ensel, für Ihre spannende Reportage!
    Gerade jetzt braucht es im Osten wie im Westen Leader wie Michael Gorbatschow, um den Krieg zu beenden, indem Millionen Bürger in ganz Europa ihre Leader auf http://www.our-new-europe.eu zwingen, sich «mit unbedingtem Willen» einzusetzen:
    •National: für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte – mit Glasnost und Perestroika;
    •International: für ein Ende des Krieges – durch Abrüstung statt Aufrüstung, Verhandlungen statt Vernichtung und Demütigung des Gegners, und für ein «gemeinsames europäisches Haus», in dem alle europäischen Länder erfolgreich zusammenarbeiten – auch Russland, Weissrussland und eine neutrale Ukraine als Brücke zwischen Ost- und West!

    In der Tat: «Nun liegt es an uns, gute Erben zu sein» – den Krieg zu beenden und in Europa Frieden, Freiheit und Demokratie zu schaffen!

    Gibt es das DRF, «Мир Перемен», die «Breite Koalition der Vernunft» und den «STOP-Appell»? – Könnte sich «Our New Europe» daran beteiligen?

  • am 3.09.2022 um 20:22 Uhr
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    Ich möchte, der Vollständigkeit halber, noch eine völlig andere Sichtweise auf M. Gorbatschow erwähnen, wie sie bspw. im Nachruf von R. Lauterbach in der Jungen Welt und den zugehörigen Kommentaren formuliert wird: https://www.jungewelt.de/artikel/434016.nachruf-der-verschlimmbesserer.html

    Ich schätze R. Lauterbachs Artikel zumeist sehr. Aber auch wenn die in seinem Nachruf genannten Aspekte «objektiv» zutreffen mögen, finde ich enttäuschend, wie sehr dort und mehr noch in den Kommentaren Gorbatschows Wirken und die daraus entstandene historische Chance auf die Konkurrenz zweier Systeme reduziert und Gorbatschow sehr negativ beurteilt wird.

    In einer so verfahrenen und angespannten Situation wie sie es damals war – und heute ist! – braucht es wohl auch Bereitschaft zu Offenheit und Vertrauen (Naivität?), auch zum Geben, um große Ziele wie Frieden zu erreichen. Die krassen Entwicklungen in der Zeit danach sollten denen angelastet werden, die sie tatsächlich zu verantworten haben.

    • am 4.09.2022 um 09:27 Uhr
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      Wenn man nicht ein Minimum vertraut war mit den rigorosen politischen Kontrollen über das gesamte Alltagsleben, die in der UdSSR gängig waren, dann die Intrigen im Parteiapparat und die unbeschränkte Willkür brutaler, menschenverachtender Polizeiorganisationen — wenn man nicht wirklich ein Bild von all dem hat, so kann man die Leistung eines einzelnen, der es schaffte dieses System aufzubrechen, gar nicht wirklich würdigen.
      Ich wüsste viel zu kritisieren an Gorbatschow. Er war Teil des Apparates. Dennoch war er der Mann, der an diesen Ort gelangte und den Kalten Krieg beenden half. Was immer wir von aussen her besser zu wissen meinen, ist im Vergleich dazu bedeutungslos. Insbesondere darf man Gorbatschow nicht die Fehler seiner Nachfolger und seiner Zeitgenossen ankreiden. Jeder ist an seinem Platz und für sein eigenes Handeln selber verantwortlich.
      Gorbatschow hat seinen Teil geschultert und wir müssen dankbar sein — ihm und Ronald Reagan. Aber das ist eine Diskussion für sich.

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