Kommentar

So kommen wir aus der Sackgasse mit der EU heraus

Peter Hablützel* ©

Peter Hablützel /  Die EU-Politik zerreisst die Schweiz. Es braucht ein Interimsabkommen, das Zeit für eine Deblockierung der Europapolitik schafft.

Red. Der Historiker, Politologe und frühere Bundesbeamte Peter Hablützel skizziert hier seine Vorschläge für eine Europapolitik der Schweiz.

In den nächsten Tagen wird der Bundesrat darüber entscheiden müssen, wie er die Gespräche und Verhandlungen mit Brüssel über das künftige Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union weiterführen möchte. Aus der Verwaltung hört man, dass er einer Roadmap den Vorzug geben möchte, die auf Teilrevisionen von Sektoralabkommen abzielt. Das Institutionelle Abkommen (InstA) in seiner bisherigen Form sei definitiv vom Tisch; man wolle diesen Begriff nicht mehr benützen. Wenn das nur gut geht!

Seit Abbruch der Verhandlungen zum InstA zwischen der Europäischen Union und der Schweiz im Mai 2021 wird die innenpolitische Diskussion über Europa von zwei konträren Illusionen geprägt: 

  1. von der Hoffnung des Bundesrates und vieler Gegner des InstA, man könne die EU dazu bringen, den Bilateralismus ähnlich wie bisher weiterzuführen. Doch die EU hat schon lange klar kommuniziert, dass der Bilateralismus ein Auslaufmodell ist. Dieses von uns bevorzugte und für uns vorteilhafte bilaterale Vorgehen war seitens der EU eine Art „Heranführungshilfe“ für die Schweiz zu einem möglichen Beitritt zur EU.
  2. von der Hoffnung vieler Euroturbos und Befürworter des InstA, dass das Schweizer Stimmvolk die Unionsbürgerrichtlinie tolerieren und den EuGH als obersten Richter auch bei Streitigkeiten über Lohndumping oder Staatsbeihilfen akzeptieren könnte. 
    Wenn wir alle bisherigen europapolitischen Volksabstimmungen und Umfragen ernst nehmen, ist diese Hoffnung kaum begründet

Beide Positionen halte ich für illusionär und in den nächsten Jahren höchstens dann für realisierbar, falls ganz ausserordentliche Entwicklungen (Kriege etc.) eintreten würden. Wenn wir die wesentlichen Interessen beider Seiten in Betracht ziehen, ist nach meiner Einschätzung folgendes nötig, um handelseinig zu werden: 

Es braucht ein substanzielles Entgegenkommen der Schweiz in Richtung InstA. Und die Schweiz muss zeigen, was ihr die Beteiligung am gemeinsamen Markt wert ist;

Es braucht einen Verzicht der EU auf demokratiepolitisch für die Schweiz heikle Forderungen, damit eine Volksabstimmung überhaupt gewonnen werden kann; 

Und es braucht vor allem einen Lernprozess, in dem sich beide Seiten näher kommen.  

So könnte eine Lösung des Problems aussehen

  1. In einem gestaffelten Lernprozess wird zunächst – wie Michael Ambühl schon 2021 vorschlug – ein niederschwelliges Interimsabkommen geschlossen, das die Schweiz zu grosszügigeren Kohäsionsbeiträgen und die EU im Gegenzug zur Aufdatierung der bestehenden Marktzugangsabkommen verpflichtet. Die Schweiz verdoppelt die Zahlungen für Osteuropa und erklärt sich bereit, ihr Steuerregime so anzupassen, dass juristische (und private?) EU-Personen hier mindestens so viel Steuern bezahlen wie am steuergünstigsten Ort innerhalb der EU. 
    Die Schweizer Wirtschaft ist europäisch stärker integriert als manches EU-Land, und gewisse Untersuchungen (Bertelsmann Stiftung 2019) kommen sogar zum Schluss, sie profitiere mehr vom gemeinsamen Markt als jede andere Volkswirtschaft. Als reiches Land können wir uns finanziell stärker engagieren und dürfen unseren wichtigsten Partnern nicht auch noch ihr Steuersubstrat streitig machen. 
    Die EU verzichtet auf Diskriminierungen der Schweiz (Schlechterbehandlung als andere Drittstaaten). Sie ist zudem bereit, die Schweiz in ihre Forschungsprogramme wieder aufzunehmen und mit ihr ein Elektrizitätsabkommen abzuschliessen.
  2. Nach einer Übergangszeit von vielleicht 5 Jahren soll ein Rahmenabkommen nach den Vorschlägen des InstA (inkl. Streitschlichtungsverfahren und Rolle des EuGH) ausgehandelt und ratifiziert werden, allerdings mit Ausnahme der in Ziff. 3 erwähnten Bereiche. Ob der Freihandelsvertrag zwischen Schweiz und EWG von 1972, mit dem wir bis jetzt gut gefahren sind, auch abgelöst werden soll, wird erst dann entschieden. Es gilt folgendes Prinzip: Wo wir dem gemeinsamen Markt voll beitreten, müssen wir die vorhandenen Regelungen übernehmen. Aber dort, wo wir das explizit nicht wollen, soll man uns auch nicht bevormunden.
  3. Bei der Bekämpfung von Lohndumping, der Einwanderung ins Sozialsystem und bei den staatlichen Beihilfen wird die heutige Regelung (mit den gemischten Ausschüssen) vorläufig beibehalten. Bundesrat und Parlament haben bereits 2013 rote Linien definiert, die in den Verhandlungen nicht überschritten werden dürfen.
    Lohndumping durch EU-Firmen in der Schweiz gefährden Löhne und die Existenz vieler KMUs in der Schweiz, und eine ungebremste Einwanderung ins Sozialsystem (wohl mit der Unionsbürgerrichtlinie angestrebt) hätte gewaltige Kosten zur Folge und würde zur Senkung individueller Leistungen führen. Je nach Entwicklung in diesen umstrittenen Bereichen (z.B. Entsenderichtlinien) können die Ausnahmeregelungen verändert oder aufgehoben und im Lichte der gemachten Erfahrungen in das Rahmenabkommen integriert werden. 
    Auch über die sogenannten Beihilfen, also über Subventionen und Interventionsmöglichkeiten des Staates auf all seinen Ebenen (auch Kantone und Gemeinden) in die private Wirtschaft darf nicht Brüssel entscheiden. Wir sind all die Jahrzehnte gut gefahren mit weniger Neoliberalismus und Privatisierung als die EU, und es bleibt eine offene Frage, ob es für Europa zwischen den USA und Asien noch eine wirtschaftspolitische Zukunft geben kann ohne eine viel stärkere Kooperation der vom kurzfristigen Profit getriebenen Privatwirtschaft mit einem längerfristig planenden, aktiv investierenden Staat (vgl. Publikationen der italienisch-britischen Ökonomin Mariana Mazzucato). 

Zur Interpretation der Krise

Man kann die Krise, die wir erleben, verschieden interpretieren und sieht dabei auch unterschiedliche Chancen, die sich – gerade in Krisen – oft auftun. Sicher ist es eine währschafte Krise unserer Aussenpolitik. Nach fast zehn Jahren Verhandlungen mit unserem wichtigsten Partner in der Welt bricht der Bundesrat die Übung ab, weil die Euroturbos im Aussenministerium (unterstützt aus der freisinnigen Entourage des Wirtschaftsministers) die roten Linien von 2013 überschritten haben und im ganzen Land herum behaupten, beim Vertragsentwurf handle es sich um die beste aller möglichen Lösungen, was von den Gewerkschaften und klugen Köpfen aus dem Justizdepartement vehement bestritten wurde. Ohne zum Entwurf Stellung zu nehmen, leitet der Bundesrat ein Vernehmlassungsverfahren ein: Kann die Kollegialität so weit gehen, dass man Kollegen, die Beschlüsse des Gremiums (rote Linien) unterlaufen, das Gesicht wahren hilft, auch wenn sie es  längst verloren haben? Zurück bleiben dann Verhandlungspartner und eine irritierte Öffentlichkeit, die sich schwertun mit der Frage, was die politische Führung der Schweiz nun wirklich will.

Es handelt sich also auch um eine kleine Krise der Konkordanz. Für neoliberale Kreise war die Versuchung sicher verlockend, mittels eines Vertrags mit Brüssel die Gewerkschaften endlich wieder zu schwächen, die seit den FlaM (Flankierende Massnahmen 2004 zu den Bilateralen) eine stärkere Position erringen konnten («Personenfreizügigkeit nur gegen Lohnschutz»). Aber breite Kreise der Wirtschaft können damit leben, dass dank FlaM die Spreizung der Lohnentwicklung kleiner blieb als in der EU, und sie haben eingesehen, dass wichtige Abstimmungen (auch bei Steuern und Sozialversicherungen) oft nur mit Unterstützung der Sozialpartner eine Chance haben.

In der Substanz geht es aber um eine schwere Krise der nationalen Identität. Wer sind wir, was hält uns zusammen und wo gehören wir hin? Seit dem 19. Jahrhundert bestand ein breiter Konsens, dass wir uns wirtschaftlich in Europa und der Welt stark engagieren müssen, um den Lebensstandard zu erhöhen, dass wir aber politisch unabhängig bleiben und Föderalismus wie (direkte) Demokratie bewahren wollen. Bezüglich Unabhängigkeit haben wir uns oft selber belogen. Seit 1968 und mit den neuen sozialen Bewegungen wuchs die Kritik am Grundkonsens der bürgerlichen Mehrheit. Aber erst Zeitenwende 1989, «neoliberale Revolution» und Globalisierung haben zur Spaltung des Bürgertums und zur Ablehnung des EWR 1992 geführt. Die Bilateralen haben uns für einige Jahre die falsche Sicherheit vermittelt, wirtschaftliche Integration liesse sich mit politischer Unabhängigkeit noch immer gut kombinieren. Jetzt wachen wir unsanft auf aus diesem Traum und müssen neu erproben, wie wir im demokratischen Konsens wirtschaftliche Interessen und Eigenständigkeit mit den veränderten internationalen Realitäten auf eine Linie bringen. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Hablützel war Mitautor der Standardwerke «Schweizerische Arbeiterbewegung» (1975) und «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» (1983). Von 1980 bis 1983 war er persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Willi Ritschard, von 1989 bis 2006 Direktor des Eidgenössischen Personalamtes. Seit 2005 arbeitet Hablützel als selbstständiger Berater. 2010 veröffentlicht er «Die Banken und ihre Schweiz – Perspektive einer Krise». Verlag Conzett Oesch, E-Book 13 CHF.  
 
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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2 Meinungen

  • am 10.01.2022 um 10:23 Uhr
    Permalink

    Mit der Unternehmessteuerreform III hat sich die Schweiz verpflichtet, internationale Mindeststandards einzuhalten. Es gibt zudem eine OECD-Projekt für eine globale Mindeststeuer. Eine Allinierung der Steuersätze an die EU ist daher nicht nötig und nicht im Interesse der Schweiz.

  • am 10.01.2022 um 20:20 Uhr
    Permalink

    Die Vorschläge von Herrn Hablützel sind interessant und gut gemeint, doch glaube ich nicht, dass die EU der Schweiz Zeit geben will. Sie will die Schweiz antreiben endlich vorwärts zu machen. Sie will die Schweiz an die Kandarre nehmen, sie will diktieren, wo es lang geht. Dabei versteht sie den direkt demokratischen Prozess der Schweiz nicht. Je grösser der europäische Druck, desto stärker das scheizerische Nein. So sehe ich leider in der jetzigen Konstellation keine Lösung. Die Fronten verhärten sich, Lösungen können nicht mehr gefunden werden.

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