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Nicola Forster und Niklaus Nuspliger: Zweiter Kreis um ein Kerneuropa © gdi/nzz

Nachdenken über widerspenstige Europäer

Jürg Müller-Muralt /  Die Schweiz und Grossbritannien: zwei Sorgenkinder der EU und zwei Vorschläge. Ein Zauberwort lautet: Komplexitätsreduktion.

Schwere Beziehungsprobleme erfordern grundsätzliche Überlegungen über den weiteren Weg. Das betrifft auch die Schweiz und die Europäische Union nach der Annahme der so genannten Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014. Politische Flexibilität, diplomatisches Geschick und juristische Tricks können zwar im günstigsten Fall einen Ausweg aus der Sackgasse weisen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass allein damit tragfähige Lösungen für eine vertrauensvolle und erspriessliche gemeinsame Zukunft gefunden werden können. Es braucht ein neues Fundament.

Zwei Schweizer machen Vorschläge

Ideen dazu gibt es. Mit bedenkenswerten Vorschlägen meldet sich nun auch die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin zu Wort; sie gilt als grösster europäischer Think-Tank und berät unter anderem auch die deutsche Regierung. Gleich zwei jüngst erschienene Studien befassen sich mit schwierigen Partnern innerhalb und ausserhalb der EU. Denn eines ist klar: Die Schweiz ist nicht das einzige Sorgenkind. Sie hat sich die aktuellen Probleme zwar selbst eingebrockt, doch Brüssel wird sich – über den konkreten Fall der Schweiz hinaus – ebenfalls Gedanken machen müssen; Gedanken, die über die eingespielten Mechanismen hinausgehen: Was soll mit Staaten geschehen, deren Teilnahme am Binnenmarkt von der EU zwar erwünscht ist, die aber selbst keine politische Vollmitgliedschaft anstreben (Musterbeispiel Schweiz)? Und was mit jenen Staaten, die zwar die Mitgliedschaft anstreben, von Brüssel politisch aber eher auf Distanz gehalten werden (Musterbeispiel Türkei)?

Diese Frage erörtert der Beitrag unter dem Titel «Die EU braucht neue Spielregeln für widerwillige Europäer» (Link siehe unten). Verfasser sind Nicola Forster, Präsident des Schweizer Think-Tanks foraus (Forum Aussenpolitik) und Niklaus Nuspliger, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Brüssel. Die beiden Autoren sind überzeugt, dass sich nicht nur die Schweiz, sondern auch die EU bewegen muss. Dies nicht, um der Schweiz einen Gefallen zu tun, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Komplexitätsreduktion der Bilateralen

Es gibt eine ganze Reihe von Staaten, die der EU integrationspolitisch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb empfehlen die Autoren, «eine Komplexitätsreduktion der bilateralen Beziehungen», die die EU nicht nur in Bezug auf die Schweiz anstreben müsste. «Analoge Mechanismen, mit denen EU-Recht nachvollzogen, Streit beigelegt, oder Verträge überwacht und umgesetzt werden», könnten auch auf die Mikrostaaten Andorra, Monaco und San Marino angewandt werden. Ähnliche Fragen stellen sich im Umgang mit der Türkei oder – in diesen Tagen besonders augenfällig – mit der Ukraine, die die EU zwar nicht unbedingt als Mitglieder will, aber denen Brüssel aus geopolitischen Gründen eine europäische Perspektive eröffnen muss. Bald einmal akut wird möglicherweise auch die Frage, wie man mit allenfalls sezessionistischen neuen Staaten wie Schottland oder Katalonien umgehen soll, oder gar mit «europamüden EU-Mitgliedern wie Grossbritannien», sollten sie tatsächlich aus der Union austreten.

Ein zweiter Kreis um Kerneuropa

Forster und Nuspliger stellen deshalb das Konzept eines «zweiten Kreises» um ein Kerneuropa mit gemeinsamer Währung zur Diskussion. Es müsste geklärt werden, ob sich in solchen Staaten gleiche institutionelle Mechanismen gegenüber der EU einführen liessen und sie «auch materiell in identischem Mass integriert werden müssten.» Erörtert werden müssten auch die Konsequenzen für die EU, «wenn sie solchen Staaten eine gewisse Einschränkung von Grundfreiheiten des Binnenmarkts wie der Personenfreizügigkeit erlauben würde.»

Wenn die Eurozone noch näher zusammenrückt, wird die Unklarheit über die institutionelle Verbindung zwischen EU-Kernmitgliedern und peripheren Binnenmarkt-Teilnehmern noch grösser. «Insofern ist die Schweiz nicht nur ein Testfall für den Umgang der EU mit der Personenfreizügigkeit. Sie bietet vielmehr auch ein Übungsfeld für die Fähigkeit der EU, unterschiedliche Integrationsgrade institutionell aufzufangen.»

Sorgenkind Grossbritannien

Dieser teilweise Umbau der EU wäre, selbst bei bestem vorhandenem Willen, für Brüssel und die einzelnen Mitgliedstaaten eine grosse Herausforderung. Dabei ist die Schweiz nicht einmal das Hauptproblem. Viel gravierender für die EU ist die kritische Haltung Grossbritanniens zur europäischen Integration. Premierminister David Cameron hat bis 2017 eine Volksabstimmung über den Verbleib seines Landes in der Union in Aussicht gestellt und gleichzeitig versprochen, bis zu diesem Zeitpunkt gewisse Kompetenzen wieder von Brüssel nach London zurückzuholen. In einer umfassenden SWP-Studie geht Nicolai von Ondarza dieser Frage nach und bezeichnet die zukünftige Ausgestaltung der britischen Unions-Mitgliedschaft als «eine der wichtigsten Fragen für die EU» (Link siehe unten).

Der Fall Grossbritannien ist für die EU besonders heikel. London will im Prinzip seine Mitgliedschaft auf den Zugang zum gemeinsamen Markt beschränken und sich die restlichen integrationspolitischen Bereiche à la carte aussuchen. «Inakzeptabel», lautet das Urteil des SWP-Autors Nicolai von Ondarza. Denn in einem solchen Fall «würde die EU zu einem flexiblen Netzwerk mit grossen Möglichkeiten zum Trittbrettfahren degradiert.» Das Ziel der weiteren Integration müsste generell aufgegeben werden, während Grossbritannien gleichzeitig weiterhin als EU-Mitglied mitentscheiden könnte.

Moderaten EU-Skeptikern entgegenkommen

Die Empfehlung lautet deshalb: Man darf sich nicht auf eine Opt-out-Diskussion einlassen, also auf eine Debatte mit dem Ziel, weitere Ausnahmen für Grossbritannien zu definieren. Vielmehr solle man versuchen, mit den Briten gemeinsam einen Kompromiss über die Reform der Union zu suchen, solange diese bereit sind, die Grundwerte und Ziele der europäischen Integration zu akzeptieren. Die EU müsse deshalb den «moderaten Euroskeptikern» gezielte Angebote unterbreiten, um die prinzipiellen EU-Gegner zu isolieren.

Zwei dieser empfohlenen Kompromissangebote sind bemerkenswert. Die EU soll «eine Überprüfung der Kompetenzausübung durchführen, an deren Ende – entweder für alle EU-Mitgliedstaaten oder keinen – in ausgewählten geteilten Zuständigkeiten wieder Handlungsspielräume für die nationale Ebene geöffnet werden.» Zudem könne «eine begrenzte Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente mit dem Ziel, die demokratische Legitimation der EU zu verbessern», ins Auge gefasst werden.

Errungenschaften und Ideale bewahren

Die Europäische Union ist nicht fertig konstruiert. Sie hat seit ihrem Bestehen zahlreiche Reformschritte, Erweiterungen und institutionelle Vertiefungen durchgeführt, und sie hat sich dabei als erstaunlich flexibel erwiesen. Sie darf aber auch die Augen nicht davor verschliessen, dass sie es in verschiedenen Mitgliedstaaten mit einer zunehmend kritischen Bevölkerung zu tun. Die grossen Errungenschaften und die zentralen europäischen Ideale können nur dann vor einem Rückfall in nationale Egoismen bewahrt werden, wenn Reformen energisch an die Hand genommen werden. Die beiden Studien zeigen mögliche Stossrichtungen auf.


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Keine

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2 Meinungen

  • am 7.03.2014 um 10:25 Uhr
    Permalink

    Eine Grundsatzdebatte ist dringend.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 3.04.2014 um 11:57 Uhr
    Permalink

    Ich finde die Artikel von Jürg Müller-Muralt, einem differenzierten Denker, je länger desto überzeugender.

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