Sperberauge

Die NZZ greift in den Giftschrank des NS-Jargons

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Die Zeitung verwendet den Begriff «Sonderbehandlung» im Titel eines Artikels – ausgerechnet über Israel.

Der Begriff gehört zu den «schlimmsten Wortschöpfungen der Nazis». In der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)  vom 23.01.2023 springt er einem schon aus dem Titel entgegen: «Die hartnäckige Sonderbehandlung Israels». Der Artikel setzt sich mit linker Israelkritik in Deutschland auseinander, mit durchaus beachtenswerter Argumentation. Der Titel des ganzseitigen Beitrags dagegen ist mindestens ein peinlicher und unsensibler Missgriff.

Schreckliches sprachliches Zwillingspaar

«Endlösung» und «Sonderbehandlung» bilden gewissermassen das schreckliche sprachliche Zwillingspaar des nationalsozialistischen Vernichtungswillens. «Endlösung» steht für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, «Sonderbehandlung» dagegen bezeichnet die Ermordung von Gegnerinnen und Gegnern des nationalsozialistischen Regimes sowie von Angehörigen weiterer als minderwertig erachteten Völker und anderer nicht erwünschter Personengruppen.

Offizieller Tarnbegriff

Im amtlichen Schriftverkehr und im Sprachgebrauch von Gestapo, SS und Einsatzgruppen wurde der Begriff seit Kriegsbeginn 1939 als offizieller Tarnbegriff für aussergerichtliche Tötungen und Exekutionen verwendet. «Sonderbehandlung» tauchte erstmals in einem Runderlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, an alle Staatspolizeistellen auf.

Kontaminiertes Wort leicht zu dokumentieren

Man muss im Internet nicht lange nach der schwer kontaminierten Bedeutung dieses Wortes suchen. Wikipedia hat einen speziellen Eintrag dazu, die deutsche «Bundeszentrale für politische Bildung» führt den Begriff unter den «Zehn Stigmavokabeln» auf, der Duden bezeichnet den Gebrauch des Begriffs als «nationalsozialistisch verhüllend für Liquidierung».

Semantische Neutralität verloren

Es gibt Begriffe, die ihre politische Unschuld und ihre semantische Neutralität verloren haben. Wer sie trotzdem verwendet – und dies erst noch im Zusammenhang mit Israel – leidet unter partieller Geschichtsblindheit. Dem wäre durch Lektüre abzuhelfen. Vielleicht durch das Buch von Matthias Heine («Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht», Duden-Verlag, Berlin 2019, CHF 28.90). Rund 80 Begriffe werden auf Herkunft, Nutzung oder Umdeutung durch die NS-Diktatur hin untersucht. Leider ist das Buch von Victor Klemperer («LTI – Notizen eines Philologen») längst vergessen und vergriffen. In diesem grossartigen Werk notierte der Romanistikprofessor Klemperer (1881-1960) unter grauenhaften Bedingungen im Dritten Reich seine Beobachtungen über den Sprachverfall und die sprachlichen Auswüchse zur Zeit des Nationalsozialismus. Ebenso kaum mehr bekannt ist das «Wörterbuch des Unmenschen», in dem Wilhelm E. Süskind, Gerhard Storz und Dolf Sternberger in den 1950er-Jahren das Fortleben von Teilen der Nazi-Sprache nachzeichneten.

«Wie winzige Arsendosen»

Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung empfiehlt das erwähnte Buch von Matthias Heine insbesondere auch Journalistinnen und Journalisten. Denn wie sagte doch Victor Klemperer? «Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.»


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Keine
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6 Meinungen

  • am 24.01.2023 um 10:43 Uhr
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    Ich habe immer noch ein zerfleddertes, beflecktes, viel gelesenes DDR-Exemplar der LTI Victor Klemperers. Ein Muss in der heutigen Zeit – unglaublich fein und intelligent geschrieben! Sein entfernter Cousin Werner Kl. spielte den Oberst Klink in der US-Serie «Käfig voller Helden» (in der deutschen Fassung mit sächsischem Akzent) brachialkomisch antideutsch – manchmal flankiert von den beiden Wiener Juden Leon Askin, der hier den galligen Wehrmachtsgeneral Burkhalter gab und John Bannon als vertrotteltem, verfressenen bayrischen Feldwebel Schulz. Auch ein Muss…
    Nun Ernst: «Sonderbehandlung» ist ein klarer Nazibegriff. Er zieht sich als eindeutiger Hinweis auf die «Endlösung», auf Mord und Gewalttaten durch die Literatur. Bspw. steht in M. Scholochows EIN MENSCHENSCHICKSAL die «Sonderbehandlung» für das Ohrfeigen sowj. Kriegsgefanger mit einem bleiverstärkten Handschuh durch einen besonders sadistischen Lageraufseher. Vlt. sollten die NZZler mal wieder ordentliche Literatur lesen.

  • am 24.01.2023 um 11:40 Uhr
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    Der Ausdruck «Nazi» für Nationalmannschaft ist ja auch so eine Bezeichnung, welche mit an das dritte Reich erinnert. Ich würde es begrüssen, wenn man nur noch den Ausdruck «Nationalmannschaft» verwenden würde.

    • NikRamseyer011
      am 25.01.2023 um 20:16 Uhr
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      Wer unsere Fussball-Nati mit «Nazi» verwechselt, hat wohl weder von Nazis, noch von Fussball eine Ahnung.

  • am 24.01.2023 um 13:13 Uhr
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    Danke vielmals für diesen Artikel. Ich dachte schon lange, ich sei wohl zu spitzfindig.
    Die gleiche Wortwahl habe ich schon oft im Tagi in Berichten zur Sonderschulung von Kindern gesehen. So und so viele SchülerInnen wurden sonderbehandelt, gemeint ist: Sie hatten eine Therapie oder besuchten Einrichtungen der Sonderpädagogik. Am Anfang habe ich die Redaktion noch darauf aufmerksam gemacht, aber nie eine Reaktion erhalten. Wie winzige Arsendosen…

  • am 24.01.2023 um 16:23 Uhr
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    Die Swastika ist ein altes Glücksymbol in asiatischen Religionen. Bis heute kommt es zu Missverständnissen, wenn eine Hindu-Familie die Swastika an ihrer Wohnzimmertüre hängt. Und letztes Jahr sahen wir zum ersten Mal, wie ein bestimmter Buchstabe auf Kriegsgeräten gemalt wurde. In meinem Text hier kommt dieser Buchstabe vor. Es ist nun mal so, dass Symbole und Begriffe missbraucht werden. Wir müssen den Mut haben, sie trotzdem zu nutzen, weil die Folgen unter Umständen absurd sein können.

  • NikRamseyer011
    am 25.01.2023 um 11:57 Uhr
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    Das ist ein eher unvollständiger Artikel. Denn 1. ist «aussergerichtliche Tötung» gleichfalls ein übler Beschönigungs-Begriff für «staatlich angeordneter Auftragsmord» (was halt die Auftraggeber fatal in die Nähe von Mafiagangstern rücken täte). Und 2. (und vor allem) gibt es solche «aussergerichtlichen Tötungen» leider neuerdings auch wieder: Praktiziert etwa durch die US-Airforce mit Mörderdrohnen weltweit. Praktiziert auch «ausgerechnet durch Israel» in den illegal besetzten Gebieten Palästinas und in Gaza. Dass bei solchen Mordanschlägen mit Killerdrohnen aus der Luft oft auch die Familien der Mordopfer und andere Unbeteiligte im zerstörten Auto mit ums Leben kommen, wird dann mit dem Wort «Kollateralschaden» gleich nochmals verharmlost. Und natürlich bezeichnen weder die US-Army noch Israels Besatzungstruppen(Tsahal) diese Morde als «Sonderbehandlung». Das macht die Sache aber auch nicht besser: An den Taten sollt ihr sie erkennen – Worte und Papier sind wohlfeil und geduldig.

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