Auschwitz_NDR

Nur noch etwa 7000 Überlebende fand die Rote Armee im Januar 1945 in Ausschwitz © NDR

Wo war am Donnerstag – am «World Holocaust Forum» – Radio SRF?

Christian Müller /  Die Gedenkfeier in Jerusalem mit gegen 50 Staats- und Regierungspräsidenten war Radio SRF keinen Bericht wert. Eine Sparmassnahme?

Auschwitz: Es kann einen schaudern, wenn man schon nur den Namen hört. Über eine Million Menschen, vor allem Juden, aber auch Roma, Sinti und andere, wurden dort im Zweiten Weltkrieg mit geradezu industriellen Methoden ermordet: Vergast oder erschossen, verbrannt und verlocht. Der Zweite Weltkrieg war mit über 60 Millionen militärischen und zivilen Opfern in der Geschichte der Menschheit der absolut schrecklichste Krieg. Der Holocaust mit etwa 6 Millionen Opfern innerhalb dieses Krieges das historisch grösste, minutiös geplante Verbrechen: Mit rassistischer Begründung von den Nazis und ihren Kollaborateuren organisiert und mit brutalsten Methoden betrieben, vor allem, aber nicht nur, eben in Auschwitz im heutigen Polen.

Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, erreichte die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz III. Dazu die ersten paar Zeilen eines aktuellen Artikels von Andreas Ernst in der NZZ vom 25. Januar:

«Aus dem Brückenkopf am Westufer der Weichsel stiess im Januar die 322. Schützendivision der Roten Armee nach Westen vor. Der Schnee lag tief, und je näher die Sowjets dem 200 Kilometer entfernten Auschwitz kamen, desto erbitterter wurde der Widerstand der deutschen Wehrmacht.

«Das Bataillon des ukrainischen Majors Anatoli Schapiro erreichte am Samstag, 27. Januar, um 9 Uhr morgens das Tor des Lagers Monowitz (Auschwitz III) am Ostrand der Stadt Auschwitz. Im Kampf um Krakau hatte seine Einheit schwere Verluste erlitten. Dort, wie der Historiker Ernst Piper berichtet, hatte Schapiro zum ersten Mal den Namen Auschwitz gehört. Er war Jude.

Es dauerte mehrere Stunden, bis Schapiros Pioniere das Vorgelände des Tors entmint hatten. Dann betrat der Major als Erster das Lager. ‹Skelette von Menschen kamen uns entgegen›, erzählte er später. ‹Sie trugen gestreifte Anzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.›

Gegen 14 Uhr am gleichen Tag erreichten die ersten Sowjetsoldaten das sechs Kilometer westlich gelegene Lager Birkenau (Auschwitz II). In den beiden befreiten Lagern lebten noch etwa 7000 Menschen, 600 Leichen lagen in den Gebäuden oder im Schnee. Die Soldaten fanden in den Magazinen 37’000 Herrenanzüge, 837’000 Damenmäntel, grosse Mengen Kinderkleider, 44’000 Paar Schuhe und 7,7 Tonnen versandfertig verpacktes Menschenhaar.» Man kann es kaum glauben.

Genau 75 Jahre sind es jetzt her, seit die Rote Armee Ausschwitz erreichte und die noch etwa 7000 lebenden Insassen befreien konnte. In Erinnerung an diesen Tag fand in Jerusalem am letzten Donnerstag ein grosser Gedenktag statt, das «World Holocaust Forum», an dem gegen 50 Staats- und Regierungschefs teilnahmen.

Zusammengekommen waren neben den israelischen Spitzenpolitikern vor Ort unter anderem der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, Thronfolger Prince Charles aus England, Russlands Staatspräsident Wladimir Putin, US-Vizepräsident Mike Pence, der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj – selber Jude, der an den Feierlichkeiten selbst dann aber nicht teilnahm – und und und. Und auch etwa 100 immer noch lebende Überlebende von Auschwitz waren geladen.

Natürlich war der Anlass das Thema in vielen Medien weltweit. Auch das Schweizer Fernsehen SRF widmete sich dem Thema. Interessant war ja, als Beispiel, nicht etwa nur die Rede von Steinmeier, der anlässlich der Gedenkfeier «80 Jahre Angriff Deutschlands auf Polen» Anfang September 2019 noch vor allem die USA und die NATO lobte und auch diesmal die Befreier von Auschwitz, die Rote Armee, nicht erwähnte, interessant war auch, warum ausgerechnet der Staatspräsident Polens Andrzej Duda nicht anwesend war. Und interessant waren auch die Reden von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Mike Pence aus den USA, die den Anlass missbrauchten, um Politik gegen den Iran zu machen. Und noch ein kleines Detail aus US-Vize Mike Pences Rede: «When soldiers opened the gates of Auschwitz on January 27, 1945, they found 7,000 half-starved, half-naked prisoners, hundreds of boxes of camp records that documented the greatest mass murder in history.» Pence spricht von «Soldaten», die die befestigte Umzäunung von Auschwitz öffneten. Dass es Soldaten der Roten Armee waren, brachte er nicht über seine Lippen …

Wo aber war das Schweizer Radio SRF? Weder im «Rendez-vous am Mittag» noch im «Echo der Zeit» am Abend, den beiden wichtigsten täglichen Informationssendungen von Radio SRF 1, 2 und 4, konnte man etwas darüber hören.

Zu vermuten – und zu befürchten – ist, dass das politisch geforderte SRF-Sparprogramm dazu führt, dass gewisse Themen im Radio nicht mehr erscheinen, weil sie ja im Fernsehen abgehandelt werden. Das aber darf nicht sein. Fernsehen und Radio sind zu unterschiedliche Medien, als dass enge Zusammenarbeit keine Informationsverluste zur Folge hätte. Das Fernsehen wählt – sogenannt «mediengerecht» – Themen, bei denen man etwas im Bild zeigen kann. Man mag das, Unterhaltung suchend, mögen. Das Radio aber ist nicht darauf angewiesen, etwas im Bild zeigen zu müssen. Es kann seine Themen und Informationen deshalb nach dem Kriterium der Relevanz aussuchen – nach der Wichtigkeit, sei es politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, wie auch immer. Und dieses «World Holocaust Forum» in Jerusalem hätte auf Radio SRF nicht fehlen dürfen.

Die Zeitungen sind immer noch unentbehrlich

Zum Glück gibt es auch immer noch Zeitungen – ob auf Papier oder auch nur online. Die englische Ausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz brachte aus Anlass der Befreiung von Ausschwitz zum Beispiel gleich zwei bemerkenswerte Berichte zu Themen, die sonst kaum Beachtung fanden:

  • einen Bericht darüber, dass in Auschwitz auch etwa eine halbe Million Roma und Sinti ermordet wurden, was aber weitgehend vergessen ist, weil die Roma und Sinti über keine Lobby verfügen, die ihre Interessen vertritt.
  • einen Bericht über den 81-jährigen Auschwitz-Überlebenden Palo Shela, der am 22. November 1944 als Sechsjähriger in Auschwitz eingeliefert wurde, einen Tag, bevor die Nazis der anrückenden Roten Armee wegen das Morden einstellten, um die Spuren ihres scheusslichen Tuns noch beseitigen zu können, bevor die Rote Armee da war. Für die Insassen zählte jeder einzelne Tag!

    Einen recht guten allgemeinen Überblick zum Thema Auschwitz brachte auch die Deutsche Welle.


    Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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    2 Meinungen

    • am 28.01.2020 um 09:49 Uhr
      Permalink

      Auf welche Recherche sich Ihre These stützt, die beiden Infoabteilungen (Chefredaktionen) von Radio und Fernsehen SRF würden eine sparbedingte Arbeitsteilung zulasten der journalistischen Relevanz pflegen, ist mir ein Rätsel. Auf jeden Fall ist die These falsch. Ich frage mich, warum sie nicht vor der Publikation verifiziert wurde, ganz nach journalistischen Grundregeln. Die beiden Chefredaktionen sind aus publizistischen Gründen (#Meinungsvielfalt) bewusst getrennt organisiert und planen deshalb ihre Themen unabhängig von einander. Wer gestern, am tatsächlichen Gedenktag, Radio SRF hörte, konnte feststellen, dass wir das Thema facettenreich und mit relevanten Aspekten in den Primetimesendungen und dem «Tagesgespräch» begleitet haben. Das Angebot wurde ausserdem online angereichert mit einem aussergewöhnlichen Stück «oral history» in der «Zeitblende». Nachzuhören unter srf.ch/podcast oder auf den Sendungsseiten von «Rendezvous» und «Echo der Zeit».
      Michael Bolliger, stv. Chefredaktor Radio SRF

    • Christian Müller farbig x
      am 28.01.2020 um 10:21 Uhr
      Permalink

      @Michael Bolliger: Es freut mich zu vernehmen, dass es keine Sparmassnahme war, sondern, in dem Fall, eine redaktionelle Entscheidung. – Wenn in Jerusalem, und eben nicht in Auschwitz, fast 50 Staats- und Regierungschefs zusammenkommen (noch nie zuvor waren in Israel so viele Staats- und Regierungschefs beisammen), dann wären allein schon die beiden Fragen «Warum denn das?» und «Warum war ausgerechnet Polen nicht anwesend?» eine 4- oder 5-Minuten-Einschaltung wert gewesen. Auch ein Hinweis auf den Missbrauch der Veranstaltung zu politischen Zwecken wäre einen Hinweis wert gewesen. Und auch einzelne Reden waren vielsagend. Die redaktionelle Entscheidung in diesem Punkt zu kritisieren, sollte deshalb wohl noch erlaubt sein. – Ich pflege sehr wohl auch mit SRF Kontakt aufzunehmen. Öftermal mache ich Ihren Ausland-Korrespondenten sogar direkt ein Kompliment (z.B. gerade wieder Susanne Brunner letzte Woche). Oder ich habe eine Frage, auf die ich eine offizielle Antwort haben möchte (eine solche Anfrage ist z.B. seit Donnerstag, 23.1.2020, 19.51 Uhr, in Ihrem Haus, aber leider noch nicht beantwortet.) – Eine Kritik, notabene in Frageform, müsste also durchaus Platz haben. Mit freundlichem Gruss, Christian Müller
      (Kleiner Nachtrag: Heute, 28.1.2020, um 16.54, ist die Antwort auf zwei von drei gestellten Fragen eingetroffen.)

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