Kommentar

kontertext: Vermisst wird die Demokratiedebatte

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Stell Dir vor, es ist Demokratiekrise, und keiner guckt hin. Eine Verlustanzeige.

Die leidenschaftliche Debatte um die Zukunft der Demokratie fehlt. Einschränkend sei gleich gesagt: es gibt Ansätze. Aber die genügen nicht. Und natürlich ist es immer etwas lächerlich, Leidenschaft zu fordern. Lukas Bärfuss hat das im Lead zu seinem Schweizessay (in der gedruckten Version) perfekt ausgedrückt: «Und niemand empört sich – nur ich.»

Die Situation müsste eigentlich jedes Journalistenherz höher schlagen lassen, denn sie ist widersprüchlich und explosiv. Wie der belgische Historiker und Schriftsteller David van Reybrouck in seinem Buch «Gegen Wahlen» zu Recht feststellt, ist Demokratie weltweit die beliebteste Staatsform, die es je gegeben hat – und gleichzeitig wächst ebenso weltweit der Ruf nach dem starken Führer. Diktatoren, Militärs, Staatsmänner und -frauen, die Völker, alle, alle wollen «Demokratie». Putin, Erdogan, Trump, Blocher, Wilders, Le Pen, die AfD, Syriza, Podemos, Cinque Stelle, alle sind in die Demokratie verliebt. Und je rechter sie sind, desto mehr lieben sie die direkte Demokratie der Schweiz. Der Philosoph und Ethiker Martin Booms konstatiert in der NZZ: «Neu und zugleich beunruhigend ist (…) der Umstand, dass der altbekannte Kampf des autokratischen Geistes gegen den demokratischen nunmehr selbst im Namen der Demokratie geführt wird, ja geradezu als Kreuzfahrt zur Bewahrung der Demokratie verstanden werden will (…).» Die türkische Staatsführung ist überzeugt, im Namen der Demokratie zu handeln, und Premier Viktor Orban will in Ungarn eine «illiberale Demokratie» errichten nach dem Vorbild Chinas, Russlands und der Türkei (tachles.ch). Wir erleben gerade die historische Geburt einer neuen Demokratieform, die noch niemand so richtig definieren kann.

Krisenregister

Gleichzeitig ist die alte Demokratie des Westens in einer tiefen Krise. Immer weniger Leute gehen wählen. Das Parteiensystem erodiert, die Wählerinnen und Wähler wechseln extrem schnell ihre Parteipräferenzen, immer mehr Länder werden politisch instabil. Vielen Parteien laufen die Mitglieder davon. In einem so grossen Land wie Frankreich kann eine aus dem Boden gestampfte Bewegung in wenigen Wochen sämtliche Altparteien grau und senil aussehen lassen. Parteien, die sich an Regierungen beteiligen, werden dafür oft vom Wähler bestraft. Die noch immer nationalstaatlich verfassten Demokratien erweisen sich als unfähig, die dringendsten Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Wirtschaftskrise und Migration zu lösen. Je ohnmächtiger die Politik, um so mehr verkommen Wahlkämpfe zu einem abstossend trivialen Erregungstheater. Kein Wunder hat die Tätigkeit des Politikers, der Politikerin an Ansehen verloren. Auch in der Schweiz erodiert das Milizsystem. Avenir Suisse stellt fest, dass die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer, sich am politischen Geschehen zu beteiligen, abnimmt.

Der Fremd- und Vieltuer

Das alles ist so beunruhigend, dass man denken müsste, in allen Medien werde zur Demokratiefrage täglich recherchiert und publiziert und diskutiert. Weit gefehlt. Es herrscht business as usual. Gelegentlich erscheinen kluge Reflexionen und Rezensionen – und damit hat’s sich. Wirklich erhellende Gedanken stammen von Christine Abbt (NZZ 11.3.2017). Sie wendet sich gegen die identitäre Auffassung von Demokratie: «Das Verständnis von Demokratie, das Trump oder Orban einem zumuten (…), ist identitär und strenggenommen nicht demokratisch. Es behauptet nicht die Herrschaft des ganzen Volkes, sondern die Herrschaft einer Mehrheit, die für sich den Begriff ‹Volk› in Anspruch nimmt. ‹Demokratie› wird dabei ausschliesslich ein Mittel zum Zweck für die Durchsetzung von Machtinteressen einiger.» Und dann führt Abbt die antike Figur des «Fremd- und Vieltuers», des «Polypragmon» ein: «Dieser wird in griechischen Quellen als Verkörperung des Nichtidentischen und eben deshalb als Prototyp des Demokraten vorgestellt. (…) Das nichtidentische Selbstverständnis (…) offenbart sich im umtriebigen und neugierigen Charakter des Fremd- und Vieltuers, der sich nicht nur für die eigenen Angelegenheiten einsetzt, sondern in hohem Mass auch für jene Anderer. Das Eigene ist dabei als kontingent, fragil und wandelbar vorgestellt. Je nach den Umständen kann sich der Fremd- und Vieltuer auch vorstellen, eine ganz andere Funktion einzunehmen als jene, die er gerade innehat. Zwischen seinem Ich und dem Anderer ist deshalb keine eindeutige Grenze gezogen. Die Zugehörigkeiten können sich verschieben, und was irgendjemandem passiert, geht auch den Fremd- und Vieltuer etwas an. Der Demokrat, so ist zusammenzufassen, weiss idealtypisch um seine eigene Unbestimmtheit, um die persönliche Gestaltungskraft ebenso wie um die soziale Abhängigkeit und gesteht allen Anderen diese Offenheit und Verletzlichkeit ebenfalls zu.» «Es zeichnet Demokratien, verstanden als die Herrschaft der Vielen, aus, dass darin nie ganz und gar abschliessend festgelegt werden kann, wer jemand ist. Weder das Elternhaus noch die Schule, noch der Geburtsort, noch die Sprache oder früheres Verhalten definieren eine Person endgültig.» «Identitär verfasste Ordnungen hingegen entwerfen und fordern eine festgelegte Identität. Wer man ist, wer dazugehört und wer nicht, ist klar definiert und kaum variierbar.»

Es gibt in der NZZ solche wirklich liberale Demokratie-Reflexionen. Sie sind aber isolierte Solitäre. Gleichzeitig und in krassem Widerspruch zur Kritik an der identitären Demokratie-Auffassung bedient das Blatt immer wieder den Antiintellektualismus, indem es «das Volk» gegen kritische, gar linke Analytiker verteidigt. Pluralismus ist etwas Schönes, aber in Grundfragen der Demokratie hätte man doch gerne eine Linie.

Sternstunde der Ausgewogenheit

Für die Krise der Demokratie werden verschiedene Erklärungen angeboten. Rechtspopulisten sagen, es liege am politischen Personal, an der Elite. Technokraten kritisieren die Demokratie selbst und wollen die Macht auf Fachgremien und Spezialisten verlagern. Viele Bewegungen wollen die repräsentative Demokratie durch eine direkte Demokratie ersetzen. David van Reybrouk kritisiert das Prinzip Wahl und will es durch Los-Verfahren ergänzen. Die Gruppe génération nomination bereitet eine Initiative vor, um den Nationalrat in einem Losverfahren zu bestimmen. Der Think-tank Denknetz sieht die Ursache der Demokratiekrise in ihrer Einschränkung auf das Politische der Politiker und will folglich die Arbeitswelt demokratisieren.

Die Redaktion der Sternstunde Philosophie hat sich für eine grundsätzliche Kritik an der Demokratie selbst entschieden und den amerikanischen Philosophen Jason Brennan eingeladen. Der ist nun ein Technokrat mit binärer Denkweise und naturwissenschaftlichem Blick. Er unterscheidet allüberall zwischen richtig und falsch und plädiert für die «Epistokratie», für die Herrschaft der Wissenden. Wer Wissens-Tests besteht, erhält mehr Stimmen für die nächste Wahl. SRF wirbt für ihn so: «Kühne Forderung: Keine Macht den Dummen. Der Philosoph Jason Brennan glaubt, dass die Demokratie ausgedient hat. Er will eine ‹Herrschaft der Wissenden›.» Ganz geheuer scheint es der Redaktion allerdings dabei nicht gewesen zu sein: Zwei- oder dreimal wird der Zürcher Philosophie-Professor Francis Cheneval (auf der Webseite angekündigt als Chevenal!) mit zaghaften Verteidigungen der Demokratie eingeblendet – aber der wurde vor der Sendung aufgenommen, kann Brennan also nicht direkt widersprechen. Auch erwähnt der Moderator zum Schluss Reybrouk – hilft alles nichts. Der rote Teppich wurde für Brennan ausgerollt. SRF hat sich politisch entschieden: für die Präsentation der technokratischen Einschränkung der Demokratie. «Keine Macht den Dummen» ist eine Steilvorlage für die SVP.

Warum nur so lau?

Im Tagesanzeiger hat Jean-Martin Büttner Reybroucks Buch «Gegen Wahlen!» ausführlich und gut besprochen – aber daraus folgte, soweit ich sehe, auch nichts. Ich verstehe das nicht!
Reybrouck sagt, die deliberative Demokratie sei in der Praxis erprobt. Brennan sagt, sie sei in der Praxis gescheitert. Ein so eklatanter Widerspruch ist ein gefundenes Fressen für Journalisten! Reybrouck verweist auf Versuche mit Los-Verfahren in Kanada, Holland, Island, Irland mit z.T. erstaunlichen Resultaten. Weswegen erfahren wir davon nichts? In vielen europäischen Kommunen gibt es Versuche, z.T. seit Jahren, mit Bürgergutachten, Foren und neuen Diskussionsformen (Wuppertal als Beispiel). Wer formuliert, bewahrt und analysiert diese wichtigen Erfahrungen? «Citizensjury» und Bürgerplanung ist vielerorts zu einer Bewegung geworden (citizensjury). Das muss doch betrachtet, begleitet, kritisiert werden. Und wer macht sich Gedanken über die Hauptsache: Demokratie nicht nur im kommunalen Nahbereich, sondern dort, wo sie am nötigsten und schwierigsten ist, auf globaler Ebene? So viel Stoff, so wenig Akteure! Sind die Medien für Demokratie vielleicht nicht kompetent, weil sie selbst nicht demokratisch verfasst sind? Ich frage ja nur.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

  • Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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5 Meinungen

  • am 24.05.2017 um 13:12 Uhr
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    Misst man die als Demokratien vermarkteten «Staaten» an verfassungsrechtlichen Kriterien, zerplatzen sie wie Seifenblasen: Es sind reine Diktaturen der Reichen – Musterplutokratien – welche das Gebilde „Staat“ benutzen, um das Volk in die Zange zu nehmen. Ausführliche Begründung auf meiner HP edmund.ch.

  • am 24.05.2017 um 14:52 Uhr
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    Muss man wieder an das bekannte Zitat von Churchill erinnern? Natürlich ist Demokratie hochgradig problematisch. Aber was wäre die bessere Alternative?

    Jason Brennan liegt komplett falsch, wenn er meint, für die wichtigen politischen Fragen gebe es objektiv richtige Antworten. Und wenn Quereinsteiger, die voll in der Politik mitmischen, sich immer noch als «Technokraten», «Experten» oder was weiss ich bezeichnen, ist das nur noch lächerlich. Wer in der Politik mitmacht, ist Politiker.

    Ich finde es problematisch, wenn Entscheide, die einem nicht gefallen (z. B. Brexit) als Symptom für ein Versagen der Demokratie gewertet werden. Es sind verschiedene Meinungen zur EU möglich. Mit Sicherheit kann aber keine von ihnen für sich beanspruchen, objektiv richtig und unbestreitbar zu sein.

    Auch dieser Aritikel zum Thema ist lesenswert!
    https://www.nzz.ch/zuerich/wie-gut-sind-volksentscheide-ein-anderes-volk-bitte-ld.1296117

    P.S.: Weshalb sollte «Keine Macht den Dummen» eine Steilvorlage für die SVP sein? Das müssen Sie erklären!

  • am 24.05.2017 um 17:16 Uhr
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    Und schon sind sie wieder da, die Verschwörungstheoretiker! Keine Staatsform ist perfekt. Aber die Demokratie ist die beste der unperfekten Staatsformen.

  • am 24.05.2017 um 18:04 Uhr
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    @Ueli Custer – sollte der Bumerang auf mich gezielt sein: er knallt auf den Schleuderer zurück. Demokratie wäre die beste der inperfekten Staatsformen, jawohl. Aber die Analyse der Verfassung und der tatsächlichen Verhältnisse fördert hinten und vorne keine Demokratie sondern eben eine Plutokratie zu Tage. Um das zu kapieren braucht es Sachverstand.

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