Kommentar

kontertext: Die Meinung sagen

Andreas Mauz © zvg

Andreas Mauz /  Meinungen sind unvermeidliche Begleiterinnen unseres Alltags. Kursorische Hinweise dazu und ein Essay, den man lesen sollte.

Was meinst Du?

Dass ich zu etwas eine Meinung habe, merke ich oft erst dann, wenn ich auf eine Meinung stosse, die mir missfällt. Was da in dieser oder jener Sache vertreten wird, führt mir vor Augen: Ich sehe es anders. Aber dieses «anders» hat es in sich. Es ist zunächst nicht mehr als eine negative und damit offene Beschreibung: So sehe ich es auf jeden Fall nicht. Aber wenn nicht so, wie dann? Diese Frage kann fallweise offen bleiben. Wenn ich aber gefragt bin, meine Meinung zu sagen, ist es ja von Vorteil, eine zu haben. Aber auch dieses «eine» hat es in sich: Es lässt sich numerisch verstehen: eine bestimmte Meinung, in zwei, drei Sätzen vorzutragen. Aber viele meiner Meinungen haben nun einmal nicht dieses kompakte Format. Sie sind unförmiger, unhandlicher, weil sie ein «einerseits … andererseits» brauchen, weil sie in diesem Aspekt urteilsicher sind, in jenem jedoch noch ganz tastend und denkbar weit weg von einer Auffassung, die handlungspraktisch werden könnte. Ist meine Meinung dann noch eine Meinung? Oder wird meine Meinung zu meiner – einen – Meinung, weil sie eben meine ist? Auf jeden Fall bin ich gut dran, wenn mich die zu bemeinende Sache nicht unmittelbar betrifft und die Meinungsbildung nicht unter Zeitdruck erfolgt. Wenn es mit meiner Meinung aber nicht eilt, wenn meine Meinung nicht irgendwie praktisch wird – für mich, für andere –, warum brauche ich dann überhaupt eine Meinung?

Meinungskrise und Meinungsflut

Mit diesen Stichworten ist das weite Feld des Meinens nur an vergleichsweise harmlosen Stellen angerissen, harmlos, weil primär auf das eigene Meinen fokussiert. Nicht nur die «Meinungskorridore» (ihre Behauptung) und die «Meinungsfreiheit» (ihre Notwendigkeit und ihre Grenzen), auch unzählige andere Schlagworte der Gegenwartsdiagnostik – die «Debattenkultur» (ihre Krise), der «Populismus» (sein Erstarken), «die Grenzen des Sagbaren» (ihre Verschiebung), die «Filterblase», die «Verschwörungstheorie» etc. etc. – verweisen alle auf Meinungen und Formen des Meinungsaustauschs, die aus diesen oder jenen Gründen kritisch gesehen werden. Und ein offensichtliches Element dessen, was vielen unter dem Strich als «Meinungskrise» gilt, ist gerade die Omnipräsenz von Meinungen. An Foren zur Meinungsäusserung mangelt es nicht, im Gegenteil; das Kommentarfeld und die beiden Daumen sind nur die offensichtlichsten Manifestationen einer Meinungsflut, die die Frage nach dem Woher und Wohin dieser Meinungslust wie dieses Meinungsdrucks unabweisbar macht.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass erst kürzlich ein Essay erschienen ist, der das Meinen als eigenständiges Problem adressiert und ausgesprochen nützliche Orientierungen anbietet. Christian Bermes stellt als Philosoph die Grundfrage, was es heute heisst, eine Meinung als Meinung zu verstehen. Seine Antwort erfolgt in Form einer schmalen Philosophie der Doxa, die auch Nichtphilosoph:innen zugänglich ist. Im Folgenden einige Hinweise auf die Überlegungen von Bermes; sie können die Lektüre seines Essays nicht ersetzen, aber – bestenfalls – zu dieser anregen. 

Wissen und Meinen, Aspektivität 

Eine bewährte Weise, sich über einen Begriff Klarheit zu verschaffen, liegt in der Beachtung der Nachbarschaften, in denen er auftaucht. Ein besonders prominenter Nachbar des Meinens ist das Wissen. Aus der Perspektive des Wissens erscheint das Meinen als das Vorläufige und Wechselhafte, wenn nicht Beliebige. Es ist – noch – mit dem Makel der Subjektivität behaftet und wird früher oder später vom objektivierenden (wissenschaftlichen) Wissen auf soliden Boden gestellt bzw. abgelöst werden. Aber diese Gegenüberstellung hinkt gleich auf beiden Seiten: Sie traut dem Wissen zu viel und dem Meinen zu wenig zu. Denn auch das Wissen hat seine Grenzen. Es wird immer mehr Dinge geben, die wir genau wissen wollen, aber nicht genau wissen können, und auch da, wo ein Wissen prinzipiell zu haben ist, können wir uns irren. Im Gegenzug hat aber auch das Meinen am Wissen Anteil. Es operiert nicht im luftleeren Raum, wo alles gemeint werden kann; es ist verortet in der sozialen Interaktion und bleibt um seiner selbst willen im Raum der jeweils zulässigen Gründe. Daher zielt das «Meinen» – wenigstens das Meinen, um das es Bermes geht – auf «Angemessenheit» und «Verlässlichkeit» und ist insofern nicht beliebig und nie nur «Privatsache».

Dass eine Meinung nicht darin aufgeht, jemandes Meinung zu sein, erläutert Bermes durch den Begriff der Aspektivität im Gegenüber zur Subjektivität. Mit dem Aspekt kommt die Pluralität ins Spiel – die Dinge haben nun einmal mehr als einen Aspekt –, aber eine Pluralität, in der das Verschiedene durch ein geteiltes Verstehensinteresse zusammengehalten wird: «Aspektivität bedeutet, dass Meinungen nicht einfach durch einen individuellen, subjektiven Akt in ihrem Wert bestimmt werden, sondern dass sie zum Ausdruck kommen und als etwas aufgefasst werden, was sich nur verstehen lässt, wenn weitere Hinsichten zugelassen werden.» Ein Grundzug des Essays liegt denn auch darin, das Meinen aufzuwerten und in dieser Gestalt als integrales Moment unseres Menschseins auszuweisen: Wer den Menschen beschreiben will, muss auch das menschliche Meinen beschreiben. In seinen philosophiegeschichtlichen Hinweisen rekonstruiert Bermes daher den «Mythos» von der Unzuverlässigkeit des Meinens, schliesst selbst aber ausdrücklich an die diversen Versuche einer «Rehabilitierung» des Meinens im frühen 20. Jahrhundert an (etwa an Husserl und Arendt).

Dogma und Meinungsbildung – entschiedene Unentschiedenheit

Mit Bermes’ anthropologischer Fundierung des Meinens geht einher, dass er eine bestimmte Form der Meinungsbildung stark unterstreicht. Meinungsbildung meint dabei nur in zweiter Linie den gezielten Zugriff auf die besten Wissensbestände oder verlässliche instrumentelle Fähigkeiten, um solide Meinungen zu produzieren. Im Fokus steht nicht die «geschickte Verwaltung oder geschäftige Organisation von Meinungen», sondern die Frage nach der «Bildung im Sinn einer praktischen Verkehrsform des Menschen», nach tragfähigen «Praktiken des Umgangs mit Meinungen». Das betrifft besonders den Umgang mit offenen Meinungen: Bermes sieht in der Unentschiedenheit gerade ein massgebliches Merkmal der Meinung, nämlich das, was sie vom immer schon entschiedenen Dogma unterscheidet. So schwierig die Unentschiedenheit im konkreten Fall auszuhalten sein mag, zumal die eigene, sie ist weniger ein Mangel als eine Auszeichnung der Meinung. Bermes spricht mit einem prägnanten Paradox von ihrer «entschiedenen Unentschiedenheit». Ein anderes und darin anschliessendes Moment solcher Meinungsbildung kann auch in der Meinungsdiät liegen: im bewussten Verzicht auf das selbstverständliche Dauermeinen (wobei das «Daumenmeinen» für Bermes ohnehin gar nicht als Meinen gilt) zugunsten von Meinungen, die sich mit sich selbst schwertun.

Das Gewicht der so verstandenen Meinungsbildung geht nicht zuletzt aus ihrer Beziehung zur Meinungsfreiheit hervor. Der Zugang zu Foren und die Möglichkeit, sich innerhalb dieser frei zu artikulieren, ist nur das eine: «Ohne die Zwillingsschwester der Meinungsbildung bleibt die Meinungsfreiheit ein leeres Versprechen. Das gilt besonders dann, wenn die Arenen und Spielfelder, in und auf denen Meinungsgefechte ausgetragen werden, sich vervielfältigen und die Treffsicherheit, mit der Meinungen zugeschrieben werden, auf dem Spiel steht.»

Meinungsbildung durch Kontertexte 

Dass ich zu etwas eine Meinung habe, merke ich oft erst dann, wenn ich auf eine Meinung stosse, die mir missfällt. Da ist es ein grosses Glück, dass ich künftig ab und zu einen Kontertext schreiben kann. Dank des Infosperbers habe ich die Möglichkeit, mir selbst klarmachen zu können, was an jener Meinung eigentlich das Problem ist. Und wenn ich mir die Kommentare zu den bereits veröffentlichten Kontertexten ansehe, bin ich sicher: Jene Meinung und meine Gegenmeinung werden durch weitere Meinungen ergänzt und aspektivisch weiter verfeinert werden. Meinungsbildung im besten wie im Bermes’schen Sinn.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Andreas Mauz ist Literaturwissenschaftler und evangelischer Theologe. Er lebt mit seiner Familie in Basel, lehrt an verschiedenen Universitäten, betätigt sich in der Erwachsenenbildung und in der Redaktion der Zeitschrift «Neue Wege». Derzeit arbeitet er am Aufbau einer Agentur für Critical Thinking.
 
Das Buch: Christian Bermes, Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa, Hamburg: Meiner 2021.
 
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Beat Sterchi und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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3 Meinungen

  • am 5.06.2022 um 18:10 Uhr
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    Guten Tag!

    Die meisten Menschen müssten ihre geäußerten Meinungen in Anführungszeichen setzen, denn es sind Meinungs-Zitate. Und es sind keine eigenen Meinungen. Sie sind nur nachgebetete Meinungen, die die Bürger in den staatlichen Medien gehört haben. Wer seine eigene Meinung äußern will, muss zuerst selbst denken können! Aber kaum einer kann das noch. Die meisten Menschen sind schon mediengeschädigt! Ich war selbst mehrmals Mitarbeiter in Firmen-Zeitungen und bin Leserbriefschreiber. Daher sehe ich mehr als der Normal-Leser. Mir fällt sofort auf, wenn in einer Zeitung in einem Leserbrief eine eigene Meinung steht. Viel wichtiger als nur die Pressefreiheit ist die Pressewahrheit.

    Viele Grüße
    Kurt Wolfgang Ringel

  • am 6.06.2022 um 15:43 Uhr
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    Was nutzt mir meine Meinungsfreiheit, wenn meine Meinungsbildung i.d.R. von manipulierten Informationen abhängig ist? Woher soll ich wissen, ob die Aussage im infosperber richtig ist oder die in der NZZ? Um das beurteilen zu können, brauche ich fundiertes Wissen, bloß woher nehme ich das? Alles, was ich weiß, habe ich ja aus irgendwelchen Quellen, aber sind es objektive oder manipulierte? Und selbst auf meine Erfahrungen kann ich mich nicht verlassen, denn auch die verändern sich im Laufe der Zeit. «Ich habe dazu keine Meinung, weil ich zu wenig darüber weiss» wäre der Normalfall. Da wir aber glauben zu wissen, was und woher auch immer, maßen wir uns eine Meinung an. Dabei vertreten wir meistens nur eine Ideologie, die uns vorgaukelt, eine Meinung zu sein.

  • am 7.06.2022 um 12:03 Uhr
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    Unsere verschiedenen Krisen zeigen, dass es nicht einmal so schwierig ist die verschiedenen Sorten von Fakten und den sich darauf stützenden Meinungen zu unterscheiden, sondern die schiere Menge einiger davon, welche die anderen einfach zerdrückt. Das geschieht durch Zeitungsverlage, Websites, oder Ideen, welche durch die unsozialen Medien verbreitet werden, und hier scheinen die ungünstigeren der Meinungen vitaler.

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