Unmotivierte Studentinnen

Nach der Familiengründung wollen Akademikerinnen und Akademiker nicht Vollzeit arbeiten. © pab

Die Mär von den unmotivierten Studentinnen

Barbara Marti /  Frauen seien selber schuld, wenn sie keine Karriere machen. Diese Behauptung der «SonntagsZeitung» plapperten viele nach.

Fehlende Kinderbetreuungsplätze, Präsenzkultur, Männernetzwerke und andere strukturelle Hürden sind nicht der Grund dafür, dass Frauen an Universitäten seltener Karriere machen. Die Studentinnen selber wollen nicht, suggerierte der konservative Redaktor Rico Bandle in der Schweizer «SonntagsZeitung». Frauen seien glücklich, wenn sie zu Hause für Kinder und Mann sorgen können, schrieb er in seinem Artikel über eine noch unveröffentlichte Studie der Ökonomin Margit Osterloh und der Soziologin Katja Rost von der Universität Zürich. Im Auftrag der Universität untersuchten die beiden Forscherinnen, weshalb Frauen in akademischen Spitzenpositionen im Vergleich zum Frauenanteil bei den Studierenden untervertreten sind. 

Studentinnen angeblich nicht karriereorientiert
Dafür befragten die Forscherinnen rund 10’000 Studentinnen und Studenten der Universität Zürich und der ETH. Sie kamen zum Schluss, dass die Mehrheit der Studentinnen nicht Karriere machen wolle. Diskriminierung sei deshalb nicht der Grund für den geringen Frauenanteil in Spitzenpositionen. Gleichstellungsmassnahmen wie Quoten seien unnötig und würden zudem «ambitionierte» Männer diskriminieren, sagten die Studienautorinnen der «SonntagsZeitung». 

Voreingenommene Forscherinnen
Politologe Michael Hermann kritisierte gegenüber «watson» die Art und Weise, wie die Forscherinnen die Studierenden befragten. Nur bei der Wahl eines Vollzeitpensums hätten diese angeben können, ob sie Karriere machen wollen. «Da sieht man, dass diejenigen, die den Fragebogen designt haben, mit alten Rollenbildern arbeiten.» Auf eine spätere Nachfrage der «SonntagsZeitung» akzeptierte Rost diese Kritik. «Sicherlich hätte man vieles anders oder besser machen können.» Doch es sei heute Realität, dass eine wissenschaftliche Karriere nur mit einem «150-Prozent-Pensum» möglich sei. 

Grosse mediale Wirkung
Die «SonntagsZeitung» veröffentlichte den Artikel zur Studie unter dem Titel: «Die meisten Studentinnen wollen lieber einen erfolgreichen Mann als selber Karriere machen». Die mediale Wirkung war – vermutlich erhofft – gross: «Familie macht viele Frauen glücklich» (NZZ), «Lieber einen erfolgreichen Mann als selber Karriere machen» (Blick), «Ist die Gleichstellung gescheitert?» (20 Minuten). Im «Tages-Anzeiger» schrieb Michèle Binswanger «Frauen diskriminieren sich auch selber». Es ist fraglich, ob alle die Studie auf Englisch gelesen haben. Denn das ist aufwändiger, als einen süffigen Titel zu formulieren und die Frauen für Nachteile im Beruf selber verantwortlich zu machen. 

Irreführende Dateninterpretation
Markus Theunert von männer.ch hatte Einblick in die Studie. Anhand von drei Kernaussagen zeigt er, wie Bandle die Daten der Studie irreführend interpretiert hat.

  • Bandle schrieb: «Der wichtigste Grund für die tröpfelnde Leitung (Untervertretung der Frauen in Führungspositionen, Anm. Red.) sind nicht etwa Diskriminierung oder erschwerte Bedingungen für Mütter, wie oft gesagt wird, sondern dass viele Studentinnen keine oder nur geringe Karriereambitionen haben.» 
    Was Bandle verschwieg: Aus der Studie geht laut Theunert hervor, dass die befragten Studenten fast genauso wenig Lust auf eine Führungsposition haben wie die befragten Studentinnen. 
  • Bandle: «Ihr (die weiblichen Befragten, Anm. Red.) Familienbild ist nach wie vor eher konservativ geprägt: Tendenziell bevorzugen sie einen Partner, der älter und erfolgreicher ist als sie.» 
    Mit den Begriffen «eher» und «tendenziell» verschleierte Bandle, dass nur eine Minderheit der befragten Frauen einen Partner mit besseren Karriereaussichten wünscht. Eine Mehrheit der Studienteilnehmenden möchte einen Partner mit gleich guten oder geringeren Karriereaussichten. 
  • Bandle: «Wenn Kinder da sind, wollen sie (die weiblichen Befragten, Anm. Red.) Teilzeit arbeiten, der Mann soll Vollzeit für das Haupteinkommen sorgen.» 
    Diese Aussage von Bandle entspricht nicht dem Resultat der Umfrage: Nicht einmal ein Drittel der befragten Studentinnen wünscht, dass der Partner nach der Familiengründung Vollzeit arbeitet. Auch eine Mehrheit der befragten Männer lehnt dies laut Theunert ab.

Manipulation der öffentlichen Meinung
Theunert wirft Bandle vor, er habe mit «verzerrter Dateninterpretation Geschlechterrollen von gestern zur Normalität von heute stilisiert» und damit die öffentliche Meinung manipuliert. Ziel sei es, traditionelle Geschlechterrollen als normal und modern darzustellen: «Denn wenn traditionelle Bilder von Hausfrau und Ernährer sogar ‘in einem progressiven Umfeld wie der Universität’ (Bandle) als Ideal und Norm dargestellt werden, bestärkt das all jene, die an einer hierarchischen Geschlechterordnung und altbackenen Geschlechterstereotypen festhalten wollen.»

Voreingenommener Chefredaktor
Der Artikel in der «SonntagsZeitung» löste heftige Reaktionen aus. Eine Woche später warf Chefredaktor Arthur Rutishauser den Kritikerinnen fehlende Frauensolidarität mit den beiden Forscherinnen vor. Auch er scheint alten Rollenbildern nachzuhängen. Denn von Männern erwartete er offensichtlich keine Solidarität mit dem kritisierten Journalisten. Männlichen Kritikern unterstellte er stattdessen, sie würden ein solches Verhalten als Mansplaining bezeichnen. Linken sei die Ideologie oft wichtiger als die Fakten, behauptete er. Diesen Vorwurf hätte er in erster Linie an seinen Mitarbeiter Rico Bandle richten müssen. Doch statt das eigene Versagen zu thematisieren, veröffentlichte die «SonntagsZeitung» ein Streitgespräch zwischen Studien-Co-Autorin Katja Rost und Nationalrätin Kathrin Bertschy (Grünliberale). Das Gespräch führte nicht Rico Bandle, sondern eine Kollegin und ein Kollege von ihm.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Die Autorin ist Redaktorin und Herausgeberin der Online-Zeitschrift «FrauenSicht».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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