Sperberauge

Cancel Culture: Tamedia-Umfrage entlarvt eigene Bequemlichkeit

Pascal Sigg © cm

Pascal Sigg /  Die Berichterstattung über eine nicht repräsentative Umfrage zeigt, wie wenig der Begriff für Journalismus taugt.

«Können Professorinnen und Professoren noch frei forschen und ihre Meinung auch zu umstrittenen Themen äussern? Oder herrscht eine Cancel-Culture?»

Diese Fragen wollten Journalisten von Tamedia mit einer Umfrage beantworten und kontaktierten dafür über 3000 in der Schweiz tätige Dozierende. Das Resultat: Dozierende haben Wichtigeres zu tun, als eine derartige Umfrage auszufüllen. Nur ein Sechstel der Befragten nahm überhaupt teil. Die Umfrage sei deshalb nicht repräsentativ. Die Resultate könnten verzerrt sein, wenn beispielsweise mehrheitlich Dozierende geantwortet hätten, die sich vom Thema angesprochen fühlten, hiess es weiter.

Ausser Spesen also nichts gewesen? Keineswegs: In drei nur zahlender Leserschaft zugänglichen Artikeln berichtete Tamedia über die Umfrage. Es gab einen Bericht über die Resultate, einen Kommentar und «Gastbeiträge» von Professoren, die sich unabhängig von der Umfrage um ihre Freiheit sorgen. Die Begründung der Redaktion: Trotz ihres nicht repräsentativen Charakters liefere die Studie «ein aktuelles Stimmungsbild zur Befindlichkeit.»

Vor allem aber lieferte die Studie wichtige Erkenntnisse für den medialen Umgang mit dem Begriff selber.

1. «Cancel Culture» generiert günstig Erregung

Zuerst zeigte die Umfrage vor allem eines: «Cancel Culture» ist nicht nur ein rechter Kampfbegriff. Es ist auch weites Themenfeld, das Medien kostengünstig potenziell konfliktbeladenen Content liefert. Artikel über «Cancel Culture» generieren Aufmerksamkeit und Erregung, ohne dass dafür Wissen in Form von aufwändiger Recherche erarbeitet werden muss. Eine nicht-repräsentative Studie darüber gibt drei Artikel her, ohne dass genau klar sein muss, worum es überhaupt geht. Wissenschaftsfreiheit? Meinungsäusserungsfreiheit? Schutz vor Widerspruch? Öffentliche Angriffe vor Social-Media-Mobs? Die Tagi-Journalisten selber schrieben darüber: «2019 tauchte der Begriff zum ersten Mal in den Schweizer Medien auf. Seither prägt er die öffentliche Debatte.» Was sie nicht schrieben: Diese vorgebliche Prägung der öffentlichen Debatte erfolgt eben massgeblich über mediale Berichterstattung. Mit der Studie platzte also auch ein Fantasieballon, in den Tamedia-JournalistInnen jahrelang selber fleissig ausgeatmet hatten. Obschon sich WissenschaftlerInnen selber bereits seriös mit dem Thema beschäftigt hatten. Und das «Global Public Policy Institute» in Berlin zum Beispiel unterhält seit 2020 einen «Academic Freedom Index».

2. «Cancel Culture» ist gesundheitsschädlich

Diesen Befund stützt auch die zweite Erkenntnis: Wer trotzdem ganz allgemein vor ganz allgemeiner «Cancel Culture» warnt, greift den Status Quo an. Ein allgemeines Problem mit Cancel Culture existiert an Schweizer Hochschulen anscheinend nicht. So sprach der deutsche Literaturprofessor Adrian Daub von der Uni Stanford denn auch von einer «gefühlten Bedrohung». Darauf hätte die Tamedia-Redaktion bei einfacher Vorrecherche auch früher kommen können. Wurde über «Cancel Culture» an Schweizer Hochschulen in Schweizer Medien berichtet, handelte es sich praktisch immer um Fälle aus dem Ausland. Auch die Umfrage förderte keine neuen Fälle zutage.

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Die Weltwoche attackierte 2012 Schweizer ProfessorInnen: cover vom 4. Oktober 2012

In den wenigen bekannten Fällen von Angriffen auf die Freiheit von Schweizer Dozierenden eskalierte die Situation nicht – oder diese wehrten sich erfolgreich. So wie 2012, als die Weltwoche zahlreiche Schweizer ProfessorInnen angriff, welche ihre Jobs trotzdem behalten durften. «Dieses Klima, das einen gesunden Dialog voraussetzt, gilt es zu pflegen – auch ausserhalb der Unis», schrieb Redaktor Dominik Balmer im Kommentar. Die Schlussfolgerung hiesse eigentlich: Die Hysterie ist auch ein Angriff auf die öffentliche Debatte an sich. Deren Gesundheit müsste auch Medien wie dem Tages-Anzeiger am Herzen liegen.

3. «Cancel Culture» behindert echte Auseinandersetzung

Die medial mitgetragene Hysterie behindert die Auseinandersetzung mit von ihr subsumierten wirklichen Problemen. Dies zeigte der Artikel mit Gastbeiträgen (Paywall), dessen Titel den Resultaten der nicht-repräsentativen Studien zu widersprechen schien: «Ich nehme die Bedrohung durch Cancel Culture als real wahr». Doch die Beiträge lieferten weitere Belege für die fantastische Untauglichkeit des Begriffs. Sie zeigten einerseits, dass gewisse Ängste durch Fälle aus dem Ausland importiert sind. Und andererseits, dass für konkrete Probleme auch bereits konkrete Begriffe existieren: Mobbing, Machtmissbrauch, Misswirtschaft oder Feigheit.

Diese Probleme sind nicht neu. Und so existiert gegen sie auch ein Rezept: Verantwortungsvoller Recherchejournalismus, der mehr kostet als eine Umfrage.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

4 Meinungen

  • am 31.03.2023 um 17:13 Uhr
    Permalink

    Die Kritik an der erwähnten TA-Umfrage mag berechtigt sein, jene am Begriff ‹Cancel Culture› per se greift dann schon ein schönes Stück weiter. Angenommen, es existiere tatsächlich ein Phänomen, das mit C.C. treffender bezeichnet werden kann als mit den vorgeschlagenen Alternativbegriffen Mobbing, Machtmissbrauch, Misswirtschaft oder Feigheit, dann würde es nicht erstaunen, wenn der Trend anfänglich vor allem im Ausland – und im Inland nur verzögert und abgschwächt – zu beobachten wäre. Aufschlussreich wäre diesbezüglich vielleicht auch ein Blick in den Wikipedia-Artikel über Infosperber (inkl. Versionsgeschichte und Diskussion).

  • am 2.04.2023 um 08:46 Uhr
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    Der Ansatz ist auch wenig überlegt. Nehmen wir an, es gäbe tatsächlich eine Cancel-Culture, welcher Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde sich denn hierzu kritisch äussern und so Gefahr laufen, für die Aussage gecancelt zu werden? Vermutlich keiner – diejenigen, die sich dazu äussern, werden abstreiten, dass so etwas existiert. Es möchte doch keine(r) sein (ihr) ‹funding› verlieren.

  • am 2.04.2023 um 20:31 Uhr
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    Dass Cancel Culture Fakt ist und nicht nur ein «Kampfbegriff» der Rechten, bestreitet wohl kaum mehr jemand. Als ich kürzlich gearbeitet habe,an einem Konzert eines Transmenschen, sagte diese Person wie gut sie die C.C. findet. Erstaunlicherweise nimmt der Autor die Stimmen der Rechten Seite auf und will uns aber weismachen,wegen des Artikels der WW, das dem nicht so ist. Ein völlig ungenügendes Beispiel. Auch sein Eindruck,dass dies nur im Ausland passiert,möchte ich nicht gelten lassen. Es war doch an der Uni in Basel,wo einer Biologin ihr Vortrag verwehrt wurde,durch Transmenschen,die es bekanntlich nicht so mit der Biologie haben. Einzig bei der Aussage,dass dieses Thema Emotionen schürt und deshalb häufig in Medien auftauchen tut,stimme ich zu. Meine Ansicht ist schon,dass vorallem die Linke sich in dieser Frage stark radikalisiert hat und somit leider ihre Tugend, nämlich die Toleranz, völlig vergessen hat. Schützengraben Denken bringt uns nicht weiter.

    • Portrait Pascal.Sigg.X
      am 3.04.2023 um 09:37 Uhr
      Permalink

      Die vier Gastbeiträge zu diesem Thema zu lesen ist wirklich aufschlussreich. Zudem nochmals präziser: Wenn einer Biologin ein Vortrag verwehrt wird, dann tun dies nicht Transmenschen resp. öffentlich geäusserte Kritik, sondern diejenigen, welche den Vortrag organisieren und verantworten. Dies kann man dann eben je nach Beurteilung der Kritik als Feigheit/Machtmissbrauch etc. kritisieren oder auch gutheissen. Solche Vorgänge gibt es schon lange. Und um sie einzuordnen, braucht es den Begriff nicht. Dasselbe gilt für öffentlich geäusserte Aufrufe, eine bestimmte Firma oder ein Produkt zu boykottieren. Das sind Boykottaufrufe. Und keine Cancel Culture.

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